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Beiträge 2017


17.12.2017: "Abgestufte" Garantenstellung bei familiären Beziehungen


BGH, Beschl. v. 2.8.2017 – 4 StR 169/17 (NJW 2017, 3609)

Mit Beschluss vom 2.8.2017 hat der 4. Strafsenat des BGH hinsichtlich der Frage nach dem Vorliegen einer Garantenstellung bei einer Eltern-Kind-Beziehung entschieden, dass sie in Abhängigkeit von der interfamiliären Rollenverteilung stehe. Folgt man dem, hängt die Reichweite der Garantenpflicht von den konkreten Umständen ab. Ob die Auffassung des BGH überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Nach § 13 I StGB ist eine Person trotz Nichthandelns strafbar, wenn sie „rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“.  Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine bestimmte Person eine besondere, über die allgemeine Solidarpflicht des § 323c I StGB hinausgehende Schutzpflicht gegenüber einer anderen Person hat. Man spricht von Garantenstellung bzw. -pflicht des Unterlassungstäters (vgl. nur BGHSt 39, 392, 399 f.; BGH NJW 2000, 3013, 3014; NStZ 2015, 150; NJW 2017, 2052, 2053 f.; NJW 2017, 3609, 3610). Welche konkreten Anforderungen an diese Voraussetzung zu stellen sind, geht aus dem Gesetzestext des § 13 I StGB jedoch nicht hervor. Mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 II GG) und die Gleichstellung mit einem Begehungsdelikt wird aber deutlich, dass eine enge Auslegung erforderlich ist.

Begründung einer Garantenstellung: Eine Garantenstellung kann sich aus dem Gesetz, aus Vertrag bzw. tatsächlicher Gewährübernahme, aus vorangegangenem gefährdendem Verhalten (Ingerenz) oder engen Lebensbeziehungen ergeben (vgl. nur BGHSt 2, 150, 153; 19, 167, 168; BGH NStZ 1999, 607; NJW 2002, 1887, 1888; NStZ 2003, 141 ff.; NJW 2003, 3212, 3213; NStZ 2017, 401; NJW 2017, 3609, 3610).

Andere fragen danach, ob dem Täter besondere Schutzpflichten für bestimmte Rechtsgüter obliegen, d.h., ob er diese vor jeglichen Gefahren zu beschützen hat (Beschützergarantien/Obhutspflichten) oder ob dem Täter die Verantwortung für bestimmte Gefahrenquellen obliegt, d.h., ob er dafür zu sorgen hat, dass niemand anderes durch sie zu Schaden kommt (Überwachungsgarantien/Sicherungspflichten) (vgl. nur Sch/Sch-Stree/Bosch, § 13 Rn 8 ff.; SK-Rudolphi, § 13 Rn 21 ff.; Roxin, AT II, § 31 Rn 4; Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn 1005 ff.; Gropp, AT, § 11 Rn 42 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV; Kühl, JuS 2007, 497, 500 und JA 2014, 507, 510. Vgl. auch BGH NStZ 2012, 319, 320; NJW 2016, 176, 177; NStZ 2017, 401.).

Unabhängig von diesen unterschiedlichen dogmatischen Ansätzen muss sich die für § 13 I StGB erforderliche Rechtspflicht aus einem rechtlich anerkannten Grund herleiten lassen; der Unterlassungstäter muss die Rechtspflicht gehabt haben, den Erfolg abzuwenden. Diese sog. Garantenstellung bzw. -pflicht kann sich insbesondere aus Rechtssätzen ergeben. In Bezug auf familienrechtliche Rechtsbeziehungen gehören zu diesen Rechtssätzen bspw. §§ 1353 ff. BGB (Beistandspflicht in der Ehe ), §§ 1626, 1626a und 1631 BGB (elterliche Sorge), § 1618a BGB (Schutzpflicht von Kindern gegenüber Eltern), §§ 1793, 1800 BGB (Sorgerecht und Personensorge des Vormunds) und § 2 LPartG (Personensorge des Lebenspartners). Diese familienrechtlichen Vorschriften bilden Wertemaßstäbe, die auch bei der Konkretisierung strafrechtlicher Einstands- bzw. Garantenpflichten Wirkung entfalten (siehe BGH NJW 2017, 3609, 3610 in Bezug auf § 1618a BGB, nach der hier vertretenen Auffassung aber verallgemeinerungsfähig).

Aber auch ohne spezielle familienrechtliche Rechtssätze können sich Garantenpflichten aus rechtlich fundierten familienrechtlichen Beziehungen ableiten. Solche Beziehungen können insbesondere unter Verwandten gerader Linie, Geschwistern und Verlobten bestehen. Insoweit ist diese Fallgruppe größtenteils identisch mit der ersten (so müssen sich nicht nur Ehegatten untereinander, sondern es müssen auch die Eltern ihre Kinder und die Kinder ihre Eltern vor Gefahren schützen). Lediglich, wenn das geschriebene Familienrecht lückenhaft ist (etwa im Verhältnis von Geschwistern untereinander), gewinnt die vorliegende Fallgruppe eigenständige Bedeutung.

Unabhängig von der Einordnung in eine der beiden familienrechtlich orientierten Fallgruppen muss aber die Reichweite der Schutzpflicht vom Einzelfall abhängig gemacht werden. Sie wird maßgeblich insbesondere vom Alter, vom Gesundheitszustand, von den Lebensumständen und dem Zusammenleben der betroffenen Personen bestimmt (BGH NJW 2017, 3609 f.).

Abgesehen von der Einordnung der familienrechtlichen Beziehung in eine der beiden Fallgruppen stellt sich Frage, ob eine effektive Familiengemeinschaft erforderlich ist oder ob eine Garantenpflicht auch dann angenommen werden kann, wenn sich die betreffenden Personen bspw. auseinandergelebt haben oder – im Extremfall – noch nie einander begegnet sind. Mithin geht es um die Frage, ob allein die formale familienrechtliche Stellung ohne Rücksicht auf die persönliche Beziehung eine Garantenpflicht begründet. Während die überwiegende Lehre differenziert und annimmt, dass zumindest Verwandte gerader Linie bei akuten Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit gegenseitigen Schutz und Beistand auch dann schuldeten, wenn sie schon lange nicht mehr zusammenlebten (so Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn 1008; Sch/Sch-Stree/Bosch, § 13 Rn 17 ff.; LK-Weigend, § 13 Rn 26), hat der BGH die Frage nach dem Erfordernis einer effektiven Familiengemeinschaft bislang ausdrücklich offengelassen, weil in den zu entscheidenden Fällen das Verhältnis der Betreffenden über die rein formale familiäre Beziehung hinaus sowohl von besonderer räumlicher als auch persönlicher Nähe geprägt war (siehe BGH NStZ 2017, 401 und BGH NJW 2017, 3609). Nach der hier vertretenen Auffassung begründen die o.g. familienrechtlichen Rechtssätze jedenfalls dann eine Garantenpflicht (und zwar unabhängig davon, ob die Familiengemeinschaft effektiv gelebt wird), wenn es um ein direktes Abstammungsverhältnis geht, also bei Verwandtschaft gerader Linie i.S.d. § 1589 S. 1 BGB (Großeltern-Eltern-Kinder-Kindeskinder und umgekehrt). Bei Ehegatten bzw. Lebenspartnern nach dem LPartG untereinander (§ 1353 BGB, § 2 LPartG) und bei Verwandten der Seitenlinie, also bei Personen, die gemeinsam von einer dritten Person abstammen (§ 1589 S. 2 BGB) wie z.B. Geschwister, Vetter, Cousine, Onkel und Tante, sollte man eine Garantenstellung nur dann annehmen, wenn eine Nähebeziehung tatsächlich besteht. Der Vorteil dieses Standpunkts besteht in der klaren Vorhersehbarkeit des Bestehens einer Garantenpflicht durch die Betroffenen und ist damit Ausdruck des verfassungsrechtlich verankerten Be-stimmtheitsgebots gem. Art. 103 II GG.

Sollte eine Garantenstellung demnach zu verneinen sein, ist der Unterlassungstäter gleichwohl nicht (zwingend) straflos. Es bleibt stets die Möglichkeit der Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c I StGB).

Dem hier zu besprechenden Beschluss des BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde (leicht abgewandelt, um die Problematik zu fokussieren): T leidet an Epilepsie, wodurch es in der Vergangenheit – insbesondere in Stresssituationen – wiederholt zu schweren epileptischen Anfällen kam. Krankheitsbedingt besteht bei ihm eine organische Wesensänderung mit leichten hirnorganischen Defiziten. Sein Denken und Handeln sind verlangsamt; das Umstellen auf neue geistige Inhalte ist ihm erschwert. Auch aus diesem Grund hielten die Eheleute M und F ihren Sohn T, der seit einigen Jahren eine eigene Wohnung (im Hause der Eltern) bewohnt, jedoch regelmäßig zwei- bis dreimal pro Woche seine Eltern besuchte, bewusst aus allen familiären und persönlichen Problemen heraus. So bekam T auch nicht mit, dass bei F u.a. eine anhaltende wahnhafte Störung mit hypochondrischen Inhalten diagnostiziert wurde. Auch M´s fortschreitende Demenz blieb ihm unbekannt. Entgegen der zwischen den Eheleuten getroffenen Vereinbarung versorgte der M seine inzwischen bettlägerige Frau in den letzten vier Wochen vor ihrem Tod weder ausreichend mit Nahrung und Flüssigkeit noch nahm er bei ihr die Körperpflege oder eine medizinische Versorgung vor. T wusste zwar, dass seine Mutter bettlägerig war, bei seinen Besuchen war das Zimmer der M aber stets abgedunkelt, weil sie ausge-schaltetes Licht und zugezogene Vorhänge wünschte. Zuletzt besuchte T seine Mutter am Vorabend ihres Todes. Zu diesem Zeitpunkt lag sie bereits in ihren eigenen Fäkalien. Der hiervon und von den Liegegeschwüren ausgehende Geruch wurde von T wahrgenommen. Spätestens jetzt erkannte er den lebensbedrohlichen Zustand und die Hilfsbedürftigkeit seiner Mutter. Dennoch unterließ er es, die gebotene ärztliche Hilfe herbeizuholen. Hierbei war ihm bewusst, dass seine Mutter versterben könnte. Er nahm diese – von ihm nicht erwünschte – Folge billigend in Kauf. Zum Zeitpunkt ihres Todes wog M nur noch 29 kg; sie verstarb an den Folgen ihrer Lungenentzündung, die sie sich einige Tage zuvor infolge ihrer Bettlägerigkeit und ihres geschwächten Gesamtzustands zugezogen hatte. Es war nicht mehr feststellbar, ob durch ärztliche Maßnahmen am Vortag eine Rettung noch möglich gewesen wäre.

Lösungsgesichtspunkte: T könnte sich wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 I StGB strafbar gemacht haben. Fraglich ist allein die für § 13 I StGB erforderliche Garantenstellung bzw. -pflicht. Lässt man die formale Stellung als Sohn (§ 1589 S. 1 BGB) genügen, muss man die Garantenstellung bzw. -pflicht ohne weiteres bejahen. Fordert man hingegen eine effektive Familiengemeinschaft zwischen T und M, ist die Garantenstellung bzw. -pflicht des T zweifelhaft. Obwohl einiges dafür spricht, bei Verwandten gerader Linie eine formale Stellung (i.S.d. § 1618a BGB) genügen zu lassen, kann die Frage dahinstehen, wenn man vorliegend eine effektive Familiengemeinschaft bejaht.

Der BGH hat festgestellt, dass das Verhältnis des T zu seinen Eltern über die rein formale familiäre Beziehung hinaus sowohl von besonderer räumlicher als auch persönlicher Nähe geprägt gewesen sei. T habe im selben Wohnhaus unmittelbar neben seinen Eltern gewohnt und diese mehrmals in der Woche besucht; zudem habe es keine Anzeichen einer Zerrüttung des Verhältnisses zwischen T und seinen Eltern gegeben. Im Hinblick auf die geschuldete familiäre Solidarität habe diese enge innerfamiliäre Beziehung – jedenfalls bei dem vorliegend festgestellten Eintritt einer Lebensgefahr, der denkbar schwersten Rechtsgutsgefährdung – eine Einstandspflicht ausgelöst. Anhaltspunkte dafür, dass T aufgrund seiner Erkrankung in objektiver Hinsicht nicht in der Lage gewesen sei, dieser Erfolgsabwendungspflicht nachzukommen, seien nicht erkennbar.

Der BGH merkt jedoch an, dass M der F nähergestanden habe und daher ihn eine vorrangige Erfolgsabwendungspflicht getroffen habe. Allerdings führe die aus der klaren Rollenverteilung folgende vordringliche Verantwortlichkeit des M nicht zu einer gänzlichen Befreiung des T von seinen Schutzpflichten. Vielmehr habe ihn aufgrund des dargelegten und fortbestehenden Näheverhältnisses zu seinen Eltern eine uneingeschränkte Erfolgsabwendungspflicht getroffen, als M aufgrund seiner demenziellen Erkrankung nicht mehr in der Lage gewesen sei, auf den lebensbedrohlichen Zustand seiner Ehefrau angemessen zu reagieren, und somit als (vorrangiger) Garant ausgefallen sei.

Stellungnahme: Letztlich folgt aus den Ausführungen des BGH, dass T keine Erfolgsabwendungspflicht i.S.d. § 13 I StGB getroffen hätte, wenn M nicht dement gewesen wäre. Da T aber die Demenz seines Vaters nicht kannte, entschied somit – vom Standpunkt des BGH aus – der Zufall über die Garantenstellung bzw. -pflicht des T. Die BGH-Entscheidung kann daher insoweit nicht überzeugen. Sie kann aber auch insofern nicht überzeugen, als der BGH aufgrund der Rollenverteilung in der Familie eine vordringliche Verantwortlichkeit des M annimmt und bei T eine Garantenstellung nur deswegen anzunehmen vermochte, weil M seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen war. Die damit angenommene „subsidiäre“ Garantenstellung vermag nicht zu überzeugen. Hat der Täter eine Garantenstellung aus einem familienrechtlichen Rechtssatz, kann diese nicht gegenüber anderen Garanten nachrangig sein. Die BGH-Entscheidung ist daher auch aus diesem Grund abzulehnen.

Gleichwohl ist das Ergebnis der Entscheidung richtig, da der BGH letztlich eine Garantenstellung annimmt. Richtig ist auch die st. Rspr. des BGH, wonach der Vorsatz des Täters beim unechten Unterlassungsdelikt sämtliche tatsächlichen Umstände erfassen muss, die seine Garantenstellung begründen, und daraus folgend, dass der Vorsatz nicht ohne weiteres bejaht werden darf, sondern die Feststellung seines (Nicht-)Vorliegens einer genauen Prüfung bedarf (siehe BGH NJW 2017, 3609, 3610 m.w.Nachw.). Deswegen ist es vorliegend möglich, dass T sich trotz gegebener Garantenstellung mangels Vorsatzes nicht wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 I StGB strafbar gemacht hat, sondern lediglich wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c I StGB).

Ob T wegen seiner Erkrankung vermindert schuldfähig i.S.d. § 21 war oder ob die Strafbarkeit wegen eigenverantwortlicher Selbstgefährdung der F zu verneinen ist, geht aus dem Sachverhalt nicht hervor.

R. Schmidt (17.12.2017)




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