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Beiträge 2017


19.3.2017: Fehlerhafte Besetzung des Strafgerichts


BGH, Urt. v. 7.11.2016 - 2 StR 9/15 (NJW 2017, 745)


Mit Urteil vom 7.11.2016 hat der BGH entschieden, dass eine Strafgerichtskammer, bei der eine sich im Mutterschutz befindliche Richterin mitgewirkt hat, fehlerhaft besetzt sei, was eine Verletzung des Art. 101 I S. 2 GG (Grundsatz des gesetzlichen Richters) und damit einen absoluten Revisionsgrund (i.S.v. § 338 Nr. 1 StPO) darstelle und somit zur Aufhebung des Strafurteils und zur Zurückverweisung führe. Ob das Urteil des BGH überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Die Frage nach der vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts findet ihren Ursprung in Art. 101 I S. 2 GG. Diese Verfassungsbestimmung ist eine wichtige Ausprägung der rechtsstaatlichen Rechtssicherheit (BVerfGE 20, 336, 344) und des rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots (BVerfGE 82, 159, 19). Der in Art. 101 I S. 2 GG kodifizierte Grundsatz des gesetzlichen Richters enthält für den Einzelnen die Garantie, dass nur der durch Gesetz im Voraus bestimmte Richter über ihn Recht spricht. Damit soll vermieden werden, dass die Urteilsfindung durch eine Manipulation der Auswahl der im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richter sachfremden Einflüssen ausgesetzt ist. Die richterliche Zuständigkeit muss damit durch förmliches Gesetz erfolgen, das die richterliche Zu­ständigkeit im Voraus abstrakt-generell ausgestaltet. Dieses hat festzulegen, welche Ge­richte für welche Verfahren sachlich, örtlich und funktionell zuständig und wie die Spruchkörper regelmäßig zu besetzen sind. Das Gerichtsverfassungsgesetz und die Pro­zessordnungen (im Rahmen des Strafprozesses die Strafprozessordnung) tragen dem Rechnung (siehe dazu R. Schmidt, Grundrechte, 21. Aufl. 2017, Rn 1002 ff.).

Ergänzt werden die gesetzlichen Bestimmungen durch die Geschäftsverteilungs- und Mit­wirkungspläne der Gerichte, durch welche im Voraus die Zuständigkeit der einzelnen Spruchkörper bzw. der einzelnen Richter so genau wie möglich festgelegt wird. Die Festlegung, welcher Richter für (zukünftige) Strafrechtsfälle zuständig ist, darf also nicht erst nach der Tat und nicht durch die Exekutive oder die Justizverwaltung allein geschehen. Sie steht auch nicht zur Disposition der Richter(innen) bzw. Spruchkörper.

Der Entscheidung des BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde (aus didaktischen Gründen modifiziert, um den Fokus auf die relevante Problematik zu legen): Gegen drei Angeklagte lief ein strafgerichtliches Verfahren wegen (banden- und gewerbsmäßigen) Betrugs. Das Strafgericht war mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt; ein Ergänzungsrichter wurde nicht hinzugezogen. An der Hauptverhandlung und am Urteil wirkte eine Richterin mit, die im Laufe der Hauptverhandlung schwanger wurde und dies im vorletzten Hauptverhandlungstermin erkennbar noch war. Im letzten Hauptverhandlungstermin und bei der Urteilsverkündung war sie es erkennbar nicht mehr. Aufgrund einer Rückrechnung stellte sich heraus, dass der letzte Hauptverhandlungstermin und die Urteilsverkündung in einem Zeitraum innerhalb von 8 Wochen nach der Entbindung lagen.

Lösungsgesichtspunkte: In diesem Fall könnte das Gebot des gesetzlichen Richters verletzt sein, wenn die Richterin gegen ein gesetzliches Dienstleistungsverbot verstoßen hätte.

Ein gesetzliches Beschäftigungsverbot enthält § 6 Mutterschutzgesetz (MuSchG). Gemäß Abs. 1 S. 1 der Vorschrift dürfen Mütter bis zum Ablauf von acht Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden. Jedoch gilt das MuSchG lediglich für Frauen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen (Arbeitnehmerinnen) oder in Heimarbeit tätig sind (§ 1 MuSchG). Für Beamtinnen und Richterinnen gilt das MuSchG also nicht (bzw. nicht direkt). Der Bund hätte auch schon gar keine Gesetzgebungskompetenz, Mutterschutzvorschriften in Bezug auf im Landesdienst stehende Richterinnen und Beamtinnen zu erlassen (Umkehrschluss Art. 74 I Nr. 27 GG: Mutterschutzvorschriften gehören nicht zu den Statusregelungen).

Jedoch enthalten das Bundesbeamtengesetz und die Beamtengesetze der Länder, die – soweit das Deutsche Richtergesetz und die Richtergesetze der Länder nichts anderes bestimmen – auch für die Rechtsverhältnisse der Richter(innen) entsprechend gelten (vgl. etwa § 2 hessisches Richtergesetz), hinsichtlich des Mutterschutzes Ermächtigungsnormen, wonach die Bundesregierung bzw. die jeweilige Landesregierung ermächtigt wird, durch Rechtsverordnung nähere Regelungen zum Mutterschutz zu treffen. Oft finden sich Formulierungen, die das MuSchG für entsprechend anwendbar erklären, freilich unter Berücksichtigung der Eigenart des öffentlichen Dienstes (vgl. etwa § 82 Nr. 1 hessisches Beamtengesetz i.V.m. der hessischen Mutterschutz- und Elternzeitverordnung). Eine solche Verweisung auf ein anderes Gesetz ist zwar nicht ganz unproblematisch, jedenfalls sofern die Verweisung - wie vorliegend - dynamisch erfolgt (d.h. die Anwendbarkeitserklärung auch für den Fall gültig ist, dass das Gesetz, auf das verwiesen wird, zwischenzeitlich geändert wird), aber nicht selten vorzufinden. Besonders virulent wird die Problematik, wenn (dynamisch) auf ein Gesetz eines anderen Gesetzgebers verwiesen wird. Auf diese verfassungsrechtliche Problematik (Vereinbarkeit insb. mit dem Parlamentsvorbehalt, dem Bestimmtheitsgrundsatz, der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG) kann hier nicht weiter eingegangen werden.

Greift gleichwohl demnach der Schutzgedanke aus § 6 MuSchG aufgrund der Verweiskette (mittelbar) auch für Richterinnen (und Beamtinnen), gilt es zu klären, inwieweit das nachgeburtliche Beschäftigungsverbot (das im öffentlichen Dienst als Dienstleistungsverbot zu bezeichnen wäre) zur Disposition der Richterin (bzw. des Spruchkörpers) steht. Nach (insoweit!) zutreffender Auffassung des BGH handelt es sich bei dem nachgeburtlichen Mutterschutz um zwingendes Recht, auf das die Mutter nicht verzichten könne. Hinzu komme, dass es anderenfalls in der Entscheidungsbefugnis der Richterin läge, ob sie selbst weiterhin mitwirke oder der Ergänzungsrichter zum Einsatz käme (BGH NJW 2017, 745, 746).

Ergebnis: War die Richterin damit an der Mitwirkung in der Hauptverhandlung gehindert, hat ihre gleichwohl erfolgte Mitwirkung zur Folge, dass der Spruchkörper fehlerhaft besetzt war. Auf dieser Grundlage bestand mithin ein absoluter Revisionsgrund gem. § 338 Nr. 1 StPO (keine vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts).

Bewertung: Entnimmt man der Regelung des § 6 MuSchG einen Schutzgehalt, der nicht zur Disposition der Mutter steht, hat die Richterin des vorliegenden Falls gegen ein absolutes Dienstleistungsverbot verstoßen. Aber ob das i.S.d. § 338 Nr. 1 StPO zu einer "nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts" führt, darf nicht ohne weiteres unterstellt werden. Vielmehr wäre dies nur dann der Fall, wenn die gesetzlichen Mutterschutzvorschriften "Vorschriften i.S.d. § 338 Nr. 1 StPO" wären. Nach der hier vertretenen Auffassung ist das nicht der Fall. Unter Zugrundelegung einer teleologischen Auslegung des § 338 Nr. 1 StPO sind unter "Vorschriften" i.S.d. § 338 Nr. 1 StPO (nur) solche gemeint, die die richterliche Zu­ständigkeit im Voraus abstrakt-generell ausgestalten (so ist die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts im GVG, im DRiG und in der StPO geregelt, vgl. §§ 21a ff., 59, 70, 76 II, §§ 78 II, 122 GVG, §§ 18, 19, 28, 29, 37 DRiG). Die Richterin des vorliegenden Falls verstieß zwar gegen Mutterschutzvorschriften. Dies aber ließ die ursprüngliche Geschäftsverteilung und Zuständigkeit unberührt. Ein Verstoß gegen die Verfassungsbestimmung des Art. 101 I S. 2 GG, die - wie aufgezeigt - für den Einzelnen die Garantie enthält, dass nur der durch Gesetz im Voraus bestimmte Richter über ihn Recht spricht, ist damit gerade nicht zu erkennen.

Fazit: Unter Zugrundelegung einer teleologischen, am Schutzgehalt des Art. 101 I S. 2 GG orientierten Auslegung des § 338 Nr. 1 StPO führt ein Verstoß gegen Mutterschutzvorschriften nicht zur fehlerhaften Besetzung des Gerichts, weil die ursprüngliche Geschäftsverteilung und Zuständigkeit gerade unberührt bleibt.

Dass mit dieser Auslegung § 6 MuSchG u.U. weitgehend leerliefe, ist richtig. Aber kann diese Mutterschutzvorschrift dazu führen, dass Entscheidungen im Außenverhältnis unwirksam sind? Man denke an die Konstellation, dass in einer juristischen Staatsprüfung eine Richterin/Beamtin/Rechtsanwältin mitwirkt, die 6 Wochen zuvor entbunden hat, was in der Prüfungskommission niemand weiß. Soll dann die Prüfung erfolgreich angefochten werden können mit der Begründung, die Kommission sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen? Insgesamt ist der Gesetzgeber aufgefordert, eine allen Einwänden gerecht werdende Regelung zu treffen.

R. Schmidt (19.3.2017)

 


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