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Beiträge 2017


14.3.2017: Kopftuchverbot durch Arbeitgeber


EuGH, Urt. v. 14.3.2017 - C-157/15, C-188/15

Mit Urteil vom 14.3.2017 hat der EuGH in zwei Verfahren entschieden, dass Arbeitgeber in ihrem Betrieb das Tragen eines Kopftuchs durch Mitarbeiterinnen untersagen können, wenn in dem Betrieb weltanschauliche Zeichen generell verboten sind und es sachliche Gründe für ein solches Verbot gibt, die bei einer Abwägung den Vorrang genießen. Allein der Wunsch eines Kunden, Leistungen nicht von einer Frau mit Kopftuch erbringen zu lassen, genüge für ein Verbot jedenfalls nicht. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: In den vorliegenden Verfahren geht es um die Frage nach der Vereinbarkeit nationaler Regelungen mit Art. 2 II lit. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16). Zweck dieser Richtlinie ist gem. ihres Art. 1 die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.

Nach Art. 2 I der Richtlinie bedeutet "Gleichbehandlungsgrundsatz", dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines in Art. 1 genannten Grundes geben darf.

Eine unmittelbare Diskriminierung liegt gem. Art. 2 II lit. a der Richtlinie 2000/78/EG vor, wenn eine Person wegen eines in Art. 1 genannten Grundes in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.

Eine mittelbare Diskriminierung liegt gem. Art. 2 II lit. b der Richtlinie 2000/78/EG vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich (Art. 2 II lit. b i der Richtlinie).

Erwägungsgrund 23 der Richtlinie lautet: "Unter sehr begrenzten Bedingungen kann eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein, wenn ein Merkmal, das mit der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, dem Alter oder der sexuellen Ausrichtung zusammenhängt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Diese Bedingungen sollten in die Informationen aufgenommen werden, die die Mitgliedstaaten der Kommission übermitteln."

Bleibt nun eine nationale Regelung hinter diesen Zielen und Grundsätzen zurück, muss sie im Sinne dieser Richtlinie ausgelegt werden. Dabei muss wiederum die Richtlinie am Maßstab des europäischen Primärrechts ausgelegt werden.

Kann eine Vorschrift des nationalen Rechts trotz Bemühung, sie unionsrechtskonform auszulegen, mit dem EU-Recht (primäres Unionsrecht, aber auch sekundäres Unionsrecht wie Verordnung, Richtlinie) nicht in Einklang gebracht werden, geht die ganz herrschende Mei­nung von einem Anwendungsvorrang des EU-Rechts aus (vgl. nur EuGH NVwZ 2000, 497 ff.; BVerfGE 121, 1, 15 ff.; 126, 286, 302; BVerfG NJW 2010, 833, 835; NJW 2001, 1267; NJW 2016, 1149, 1150; BVerwG NVwZ 2000, 1039; Safferling, NStZ 2014, 545 ff.; vgl. auch F. Kirchhof, NVwZ 2014, 1537, 1538). Das Prinzip des Anwendungsvorrangs ist unmittelbare Folge der Gründungsverträge, der Verträge von Maastricht (EUV), Amsterdam, Nizza und Lissabon („Änderungsverträge“) sowie des sich aus diesen Verträgen ergebenden Prinzips der Sicherung und Funktionsfähigkeit der Union (Effet-utile-Prinzip), das beeinträchtigt würde, wenn nationale Bestimmungen im Kollisionsfalle dem Europäischen Recht vor­gingen (siehe R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 18. Aufl. 2017, Rn. 355). Vorliegend war daher (zunächst) zu prüfen, ob die nationale Regelung mit der Richtlinie vereinbar ist. Dazu stellte das vorlegende Gericht dem EuGH die Frage, ob Art. 2 II lit. a der Richtlinie 2000/78/EG dahingehend auszulegen sei, dass das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die allgemein das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen und/oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, eine durch diese Richtlinie verbotene unmittelbare Diskriminierung darstelle.

Zur Rechtssache 157/15: G4S Secure Solutions ist ein privates Unternehmen mit Sitz in Belgien, das für Kunden aus dem öffentlichen und privaten Sektor u.a. Rezeptions- und Empfangsdienste erbringt. In den Dienst dieses Unternehmens trat Frau A, die muslimischen Glaubens ist, im Jahre 2003 als Rezeptionistin ein.

Bei G4S galt zu dieser Zeit eine ungeschriebene Regel, wonach Arbeitnehmer am Arbeitsplatz keine sichtbaren Zeichen ihrer politischen, philosophischen und/oder religiösen Überzeugungen tragen durften. Nachdem A ihrem Arbeitgeber angekündigt hatte, dass sie (gleichwohl) beabsichtige, während der Arbeitszeiten das islamische Kopftuch zu tragen, teilte ihr die Geschäftsleitung mit, dass das Tragen eines Kopftuchs nicht geduldet werde, da das sichtbare Tragen politischer, philosophischer und/oder religiöser Zeichen der von G4S bei ihren Kundenkontakten angestrebten Neutralität widerspreche. Dennoch hielt A an ihrer Absicht fest. Daraufhin sprach die Geschäftsleitung die Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus. A wiederum focht die Entlassung vor den belgischen Gerichten an. Das mit der Sache befasste Kassationsgericht fragte den EuGH nach der Auslegung der Unionsrichtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (s.o.). Es wollte wissen, ob das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer allgemeinen internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, eine unmittelbare Diskriminierung darstelle.

Die Entscheidung des EuGH: Zutreffend arbeitet der EuGH heraus, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz (auch im Sinne der Richtlinie) sowohl eine unmittelbare als auch eine mittelbare Diskriminierung u.a. wegen der Religion verbietet. Der Begriff der Religion umfasse sowohl den Umstand, religiöse Überzeugungen zu haben, als auch die Freiheit, diese in der Öffentlichkeit zu bekunden. Eine interne Regel eines privaten Unternehmens, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen und/oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, sei daher geeignet, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne der Richtlinie darzustellen. Daher kann auch das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, (unmittelbar) diskriminierend wirken.

Da aber nicht jede Ungleichbehandlung eine Diskriminierung darstellt, liegt auch nach Auffassung des EuGH nicht stets eine Unvereinbarkeit mit der Richtlinie 2000/78/EG vor. So könne eine Ungleichbehandlung durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und/oder religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt sein, wenn die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich seien.

So sei der Wille des Betriebsinhabers, im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, philosophischen und/oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, grundsätzlich nicht zu beanstanden.

Auch beziehe sich die interne Regel von G4S auf das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen und gelte damit unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen. Nach dieser Regel würden alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleichbehandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben werde, sich neutral zu kleiden.

Dass die interne Regel auf Frau A anders angewandt worden wäre als auf andere Arbeitnehmer(innen) von G4S, sei nicht ersichtlich. Folglich begründe eine solche interne Regel keine unmittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne der Richtlinie.

Der Wunsch eines Arbeitgebers, seinen öffentlichen und privaten Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, sei insbesondere dann rechtmäßig, wenn nur die Arbeitnehmer einbezogen werden, die mit den Kunden in Kontakt treten. Dieser Wunsch gehöre nämlich zu der von der Grundrechte-Charta der EU anerkannten unternehmerischen Freiheit. Das Verbot, Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen, sei zudem zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung einer Politik der Neutralität geeignet, sofern diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werde. Wenn also G4S vor der Entlassung von Frau A eine entsprechende allgemeine und undifferenzierte Politik eingeführt hatte, sei dies nicht zu beanstanden.

Schließlich sei ausschlaggebend, ob sich das Verbot nur an die mit Kunden in Kontakt tretenden Arbeitnehmer von G4S richte. Sei dies der Fall, sei das Verbot als für die Erreichung des verfolgten Ziels unbedingt erforderlich anzusehen.

Ferner sei zu berücksichtigen, ob es G4S unter Berücksichtigung der unternehmensinternen Zwänge - und ohne eine zusätzliche Belastung tragen zu müssen - möglich gewesen wäre, Frau A einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden anzubieten, statt sie zu entlassen.

Es liege auch keine mittelbare Diskriminierung vor, die etwa in Betracht komme, wenn das allgemeine Verbot des sichtbaren Tragens von politischen, philosophischen und/oder religiösen Zeichen am Arbeitsplatz nicht strikt gehandhabt werde, d.h. wenn trotz formalen Verbots Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in tatsächlicher Hinsicht in besonderer Weise benachteiligt würden. Aber auch insoweit seien keine Anhaltspunkte ersichtlich.

Bewertung: Das Urteil überzeugt. Der EuGH arbeitet heraus, dass die Religionsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Sie steht unter dem Vorbehalt widerstreitender Interessen und kann eingeschränkt werden, soweit die Einschränkung diskriminierungsfrei erfolgt und die Einschränkung verhältnismäßig ist.

Zur Rechtssache C-188/15: Frau B erhielt bei der Fa. Micropole, einem privaten Unternehmen mit Sitz in Frankreich, einen unbefristeten Arbeitsvertrag als Softwaredesignerin. Noch vor der Einstellung wurde ihr mitgeteilt, dass das Tragen des islamischen Kopftuchs Probleme bereiten könne, wenn sie mit den Kunden dieses Unternehmens in Kontakt trete. Gleichwohl trug B das islamische Kopftuch auch während Kundenkontakten. Nach einer Beschwerde eines ihr von Micropole zugewiesenen Kunden bekräftigte Micropole den Grundsatz notwendiger Neutralität im Verhältnis zu ihren Kunden und bat B, kein Kopftuch mehr zu tragen. Dem kam B jedoch nicht nach, woraufhin ihr Arbeitsverhältnis gekündigt wurde. B hielt diese Entlassung für diskriminierend und erhob Klage vor dem Arbeitsgericht.

Das mit der Sache befasste Kassationsgericht fragte den EuGH nach der Auslegung der Unionsrichtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (s.o.). Es wollte wissen, ob der Wille eines Arbeitgebers, dem Wunsch eines Kunden zu entsprechen, seine Leistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin erbringen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, als “wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung” im Sinne der Richtlinie (d.h. des Erwägungsgrundes 23) angesehen werden könne.

Die Entscheidung des EuGH: Der EuGH hat entschieden, dass der Wille eines Arbeitgebers, den Wünschen eines Kunden zu entsprechen, seine Leistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin erbringen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, nicht als eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne der Richtlinie angesehen werden kann.

Wie in der Rechtssache 157/15 hat der EuGH entschieden, dass eine Ungleichbehandlung durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und/oder religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt sein könne, wenn die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich seien. Bestehe eine interne Regel, die Mitarbeitern mit Kundenkontakt das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen verbiete, und würden damit alle Arbeitnehmer(innen) des Unternehmens gleichbehandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben werde, sich neutral zu kleiden, sei dies grundsätzlich nicht zu beanstanden.

Lediglich, wenn die dem Anschein nach neutralen internen Regeln tatsächlich dazu führen können, dass bestimmte Personen in besonderer Weise benachteiligt werden, liege ein Verstoß gegen die Richtlinie vor.

Sollte die Entlassung von B nicht auf eine interne Regel gestützt sein, wäre zu prüfen, ob der Wille eines Arbeitgebers, dem Wunsch eines Kunden zu entsprechen, seine Leistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin erbringen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, i.S.v. Art. 4 I der Richtlinie i.V.m. deren Erwägungsgrund 23 gerechtfertigt wäre. Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine von der Richtlinie verbotene Ungleichbehandlung keine Diskriminierung bedeutet, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.

Ein mit der Religion im Zusammenhang stehendes Merkmal könne nur unter sehr begrenzten Bedingungen eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen. (Subjektive) Erwägungen wie der Wille des Arbeitgebers, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen, gehörten nicht dazu.

Bewertung: Auch dieses Urteil überzeugt. Der EuGH arbeitet heraus, dass diskriminierungsfreie (betriebs-)interne Regelungen, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen verbieten und damit alle Arbeitnehmer(innen) des Unternehmens gleichbehandeln, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben werde, sich neutral zu kleiden, der Religionsfreiheit jedenfalls dann vorgingen, wenn es um das Tragen politischer, philosophischer und/oder religiöser Symbole bzw. Kleidungsstücke bei Kundenkontakten gehe. Fehlt es also am Kundenkontakt, dürfte ein Verbot des Tragens sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen hingegen nicht oder nur sehr schwer zu rechtfertigen sein.

Bedeutung für nationale Sachverhalte/künftige Entscheidungen des BVerfG: Der EuGH arbeitet heraus, dass die Religionsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Sie steht unter dem Vorbehalt widerstreitender Interessen und kann eingeschränkt werden, soweit die Einschränkung verhältnismäßig ist und diskriminierungsfrei erfolgt. Im geschäftlichen Verkehr mit Kunden dürfte die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und/oder religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber den Vorrang genießen, solange sie nur diskriminierungsfrei erfolgt, d.h. allen Arbeitsnehmer(innen) mit Kundenkontakt undifferenziert vorschreibt, sich politisch, philosophisch und/oder religiös neutral zu kleiden. In Deutschland wäre ein arbeitgeberseitiger Erlass einer solchen generellen Bekleidungsvorschrift aber mitbestimmungspflichtig (§ 87 I Nr. 1 BetrVG), d.h. der Betriebsrat müsste (sofern vorhanden) zustimmen.

Die Rechtsprechung des BVerfG wird sich jedenfalls in Bezug auf Sachverhalte mit Unionsbezug daran messen lassen müssen, d.h. das BVerfG wird in europarechtskonformer Weise unter Beachtung der vom EuGH aufgestellten Grundsätze eine einschränkendere Auslegung des Art. 4 I GG vornehmen müssen. Das gilt jedenfalls, soweit es im Privatrecht um eine Kollision der Religionsfreiheit mit unternehmerischen Interessen geht. Zur Frage nach der Übertragbarkeit auf das öffentliche Recht kann als Beispiel das Tragen eines Kopftuchs durch eine Lehrerin muslimischen Glaubens in Schule und Unterricht herangezogen werden. Das Tragen des muslimischen Kopftuches im Unterricht steht im Widerstreit zum staatlichen Integrations-, Bildungs- und Erziehungsauftrag i.V.m. dem Prinzip religiös-weltanschaulicher Neutralität (Art. 4 I, II u. 7 I GG), zur negativen Bekenntnisfreiheit der Schüler bzw. der Eltern (Art. 4 I GG) sowie zum elterlichen Erziehungsrecht (Art. 6 II GG). Das BVerfG hat das Tragen eines Kopftuchs durch eine Lehrerin muslimischen Glaubens in Schule und Unterricht wegen der Bedeutung der gemäß der ständigen Rechtsprechung des BVerfG vorbehaltlos gewährleisteten Religionsfreiheit bislang nicht beanstandet. Dies gilt jedoch auch nach der Rechtsprechung des BVerfG nur, solange von dem Kopftuch keine Suggestivwirkung in Form einer fundamentalen Grundeinstellung auf die Schüler ausgeht und die Persönlichkeit der Lehrerin auch sonst die Gewähr bietet, dass sie den Schülern religiös-weltanschaulich offen gegenübertritt und sie in keiner Weise zu missionieren oder zu indoktrinieren versucht (siehe BVerfGE 108, 282, 294 ff.). Ob das BVerfG solche Fälle in Zukunft anders entscheidet bzw. entscheiden muss, bleibt abzuwarten. Auf der Basis der besprochenen EuGH-Entscheidung wäre es durchaus vorstellbar, dass Schulbehörden diskriminierungsfreie (schul-)interne Regelungen erlassen, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen verbieten und damit alle Lehrer(innen) gleichbehandeln, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben wird, sich während des Unterrichts neutral zu kleiden. Das stünde zwar der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG entgegen, befände sich aber wohl auf der Linie der EuGH-Entscheidung.

Die Bedeutung dieser Ausführungen zeigt sich zudem etwa dann, wenn der Staat einerseits anordnet, in sämtlichen Klassenzimmern einer Schule ein Kreuz oder ein Kruzifix anzubringen zu lassen, andererseits aber das Tragen religiöser Symbole (etwa ein Kopftuch oder einen gesichtsverhüllenden Schleier) verbietet, muslimische Mädchen zur Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht zwingt oder rituelle Gebete im Schulgebäude verbietet, wenn dadurch der „Schulfriede“ gestört würde. Auch hier könnte die EuGH-Entscheidung dazu führen, dass die Grundsätze der staatlichen Neutralitätspflicht in Bezug auf religiös-weltanschauliche Angelegenheiten enger gefasst werden müssen.

Die künftige Entwicklung dürfte überaus spannend werden.

R. Schmidt (14.3.2017)

 


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