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Beiträge 2017


28.2.2017: Selfie aus der Wahlkabine


Wie der Presse zu entnehmen ist, plant gegenwärtig das Bundesinnenministerium, das Fotografieren oder Filmen der Stimmabgabe bei den Bundestagswahlen zu verbieten, insbesondere, um das Fertigen und Online-Stellen von Selfies in und aus der Wahlkabine zu unterbinden. Dazu soll § 56 II der Bundeswahlordnung geändert werden. Ob die Umsetzung einer solchen Überlegung rechtlich möglich wäre, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage:
Dass in einer Demokratie alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der voll­ziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird, ist selbstverständlich. Art. 20 II GG stellt dies für die Bundesrepublik Deutschland klar. In einer parlamentarischen Demokratie, in der das Volk das Parlament wählt, sind also die Parlamentswahlen von entscheidender Bedeutung (siehe R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 18. Aufl. 2017, Rn. 91).

Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung enthält das Grundgesetz indes keine Vorschriften über das Wahlsystem. Die Art. 38 I S. 1 und 28 I S. 2 GG verlangen nur, dass die Vertretungskörperschaften in Bund, Ländern, Kreisen und Gemeinden nach den Prinzipien der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl gewählt werden müssen. Das Wahlsystem selbst und dessen Ausformung obliegen daher der Entscheidung des einfachen Gesetzgebers (vgl. Art. 38 III GG), der über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügt (vgl. dazu BVerfGE 97, 317, 327 ff; 95, 335, 349 ff.; BVerfG NVwZ 2012, 1101, 1102 ff.). Auf Bundesebene sind diesbezüglich das Bundeswahlgesetz (BWahlG) und die Bundeswahlordnung (BWahlO) erlassen worden.

Die Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes sind, wie aufgezeigt, in Art. 38 I S. 1 GG genannt: die Allgemeinheit der Wahl, die Unmittelbarkeit der Wahl, die Freiheit der Wahl, die Gleichheit der Wahl und die Geheimheit der Wahl. Im vorliegenden Zusammenhang ist der Wahlrechtsgrundsatz der Geheimheit der Wahl entscheidend. Dieser Wahlrechtsgrundsatz stellt den wichtigsten institutionellen Schutz der Wahlfreiheit dar (vgl. nur BVerfGE 134, 25, 31 ff.; 99, 1, 13 mit Verweis auf Frowein, AöR 99 [1974], S. 72, 105), die unabdingbare Voraussetzung für die demokratische Legitimation der Gewählten ist (BVerfGE 44, 125, 139; 99, 1, 13).

Der Grundsatz der Geheimheit der Wahl dient der Absicherung der Wahlfreiheit, da bei Offenbarung der Stimme leicht Druck ausgeübt werden könnte. Zudem soll die Wählerstimme möglichst authentisch sein. Der Wahlgrundsatz der Geheimheit bezieht sich daher nicht nur auf den Wahlvorgang, d.h. die Stimmabgabe, sondern erstreckt sich auch auf die individuelle Wahl­vorbereitung (BVerfGE 4, 375, 386 f.; 12, 33, 35 f.). Auf niemanden darf also im Vor­feld der Wahl oder während der Wahl Druck ausgeübt werden, die Stimme zu offenbaren, eine Tendenz erkennen zu lassen oder einen bestimmten Kandidaten/eine bestimmte Partei zu wählen (siehe R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 18. Aufl. 2017, Rn. 110).

Während der Stimmabgabe bedeutet das Recht zur geheimen Wahl nach h.M. gleichzeitig die Pflicht, die Stimme geheim abzugeben. Der Grundsatz der Geheimheit steht demnach also nicht zur Disposition des Wählers. Der h.M. zufolge dürfen weder mehrere gleichzeitig die Wahlzelle benutzen, noch dürfen Wahlberechtigte ihre Stimme offen abgeben (vgl. nur v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 38 Rn. 57). Vor oder nach der Wahlhandlung außerhalb des Wahllokals könne der Wähler jedoch nicht gehindert werden, seine Stimmabgabe zu offenbaren.

Ob die von der h.M. vertretene Auffassung, der Wähler könne während des Wahlvorgangs auf die Geheimheit seiner Stimmabgabe nicht verzichten, überzeugt, hängt von der Bestimmung des Schutzzwecks dieses Wahlrechtsgrundsatzes ab. Nach der hier vertretenen Auffassung steht die Geheimheit der Stimmabgabe nur dann nicht zur Disposition des Wählers, wenn man ihr ausschließlich oder überwiegend einen objektiv-rechtlichen Charakter beimisst. Dieser könnte darin gesehen werden, dass die Geheimheit der Wahl der Absicherung der Wahl ingesamt und damit des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips dient. Auch Ansehen und Bedeutung einer Parlamentswahl werden sicherlich durch den Grundsatz der Geheimheit unterstrichen. 

Interpretiert man den Wahlrechtsgrundsatz der Geheimheit indes subjektiv-rechtlich, indem man die auch auch von der h.M. getragenen o.g. Schutzzwecke (Schutz vor Einflussnahme; Freiheit bei der Stimmabgabe) heranzieht, das Kriterium der Absicherung der Wahl ingesamt und damit des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips aber anderen Wahlrechtsgrundsätzen, insbesondere dem Wahlrechtsgrundsatz der Freiheit der Wahl, zuordnet, erscheint die Auffassung der h.M. jedenfalls nicht zwingend.

Zum (geplanten) "Handy- und Selfieverbot": Da nach der soeben dargestellten Interpretation des Wahlgrundsatzes der Geheimheit durch die h.M. der Wähler nicht da­rauf verzichten kann, dürfte das Fertigen eines Selfies mit dem ausgefüllten Stimmzettel in der Hand und das anschließende Posten bspw. auf Facebook in der Tat das Wahlgeheimnis verletzen. Soweit als Begründung für das geplante Verbot angeführt wird, der­artiges Verhalten sei mit dem Schutz des Wählers nicht vereinbar, überzeugt dies nicht. Denn wie ausgeführt, dient der Grundsatz der Geheimheit der Wahl der Absicherung der Wahlfreiheit, soll also gewährleisten, dass auf niemanden im Vorfeld der Wahl oder während der Wahl Druck ausgeübt werden darf, die Stimme zu offenbaren, eine Tendenz erkennen zu lassen oder einen bestimmten Kandidaten/eine be­stimmte Partei zu wählen. Offenbart aber ein Wähler freiwillig sein Stimmverhalten, bedarf er des Schutzes nicht. Versteht man den Grundsatz der Geheimheit somit wie hier subjektiv-rechtlich, ist die Geheimheit der Wahl so zu verstehen, dass ein Recht auf, aber keine Pflicht zur Geheimhaltung besteht. Fertigt also je­mand ein Selfie mit dem aus­gefüllten Stimmzettel in der Hand und postet das Foto anschließend bspw. auf Facebook, verzichtet er auf den Schutz des Wahlgeheimnisses und dessen Ratio greift insoweit nicht. Man könnte allenfalls darüber nachdenken, das Selfieverbot damit zu begründen, dass durch das Posten bei Facebook spätere Wähler beeinflusst werden. Doch eine „Beeinflussung“ wäre ja auch vor der Wahl möglich, solange sie nur frei von Druck erfolgt.

Zwischenergebnis: Nach der hier vorgenommenen Interpretation des Wahlrechtsgrundsatzes der Geheimheit der Wahl wäre ein Verbot des Fertigens eines Selfies mit dem ausgefüllten Stimmzettel in der Hand und des an­schließenden Postens bspw. auf Facebook mit Art. 38 I S. 1 GG in seiner Ausgestaltung als grundrechtsgleiches Recht (siehe dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 18. Aufl. 2017, Rn. 160) nicht vereinbar. 

Ob das Fertigen eines Selfies mit dem ausgefüllten Stimmzettel in der Hand und das an­schließende Posten bspw. auf Facebook einen Verstoß gegen das in § 56 BWahlO vor­gesehene Verfahren darstellt und daher zu einer Zurückweisung des Wählers bei dem Ein­wurf seines Stimmzettels in die Wahlurne führt, muss angesichts des Wortlauts des § 56 BWahlO wohl ebenfalls verneint werden. Daher bestehen gegenwärtig Überlegungen sei­tens des Bundesinnenministeriums, § 56 BWahlO entsprechend zu ändern. Aber auch Fol­ge einer Änderung des § 56 BWahlO wäre allenfalls, dass der Einwurf des Stimmzettels in die Wahlurne verwehrt und eine erneute Stimmabgabe erforderlich wäre. An dem bereits geposteten Selfie würde das aber nichts ändern. Eine Verpflichtung zur sofortigen Löschung des Posts oder zur Abgabe des Handys vor der Stimmabgabe wäre wohl nicht um­setzbar, allein schon wegen Kontroll- und Durchsetzungsproblemen in der Praxis, und dürfte auch einer rechtlichen Prüfung am Maßstab des Art. 38 I S. 1 GG (s.o.) nicht standhalten. Die Wahrung des Ansehens einer Parlamentswahl ist nicht an dem Wahlrechtsgrundsatz der Geheimheit festzumachen.

R. Schmidt (28.2.2017)


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