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Beiträge 2017


20.12.2017:  Studienplatzvergabe/Numerus clausus bei Medizinstudium


BVerfG, Urteil v. 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14

Mit Urteil vom 19.12.2017 hat der 1. Senat des BVerfG hinsichtlich der Frage nach der Vereinbarkeit einer Zugangsbeschränkung zum Studium der Humanmedizin mit Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG entschieden, dass
sich zwar die maßgebliche Orientierung der Vergabeentscheidung an den Ortswunschangaben sowie die Beschränkung der Bewerbung auf sechs Studienorte verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen ließen, jedoch die Abiturbestenquote keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne. Ob die Auffassung des BVerfG überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Wie bei R. Schmidt, Grundrechte, Rn 10 ff. erläutert, fungieren die Grundrechte gemäß der Statuslehre Jellineks (Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 44 ff.) nicht nur als Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Eingriffe (status negativus), sondern auch als Leistungs- bzw. Teilhaberechte (status positivus) und Mitwirkungsrechte (status activus). Zu beachten ist jedoch, dass die Grundrechte unter Berücksichtigung von Wortlaut und Funktion überwiegend nicht als Anspruchsgrundlagen konzipiert sind und dass sich nur bei einigen Grundrechten aus dem Wortlaut oder zumindest im Wege der Auslegung ein Anspruch ergibt. Art. 12 I GG ist jedenfalls im Rahmen der Berufszulassung als Teilhaberecht allgemein anerkannt. 

Art. 12 I S. 2 GG enthält einen Regelungsvorbehalt i.S.e. Gesetzesvorbehalts. Dieser bestimmt, dass (lediglich) die Berufsausübung durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden darf. Die Berufswahl wäre demzufolge vorbehaltlos gewährleistet. Beide Aspekte der Berufsfreiheit lassen sich in der Praxis jedoch nicht immer trennen, sodass von einem einheitlichen Grundrecht der Berufsfreiheit ausgegangen werden muss. Daher ist es nur konsequent, den Regelungsvorbehalt des Art. 12 I S. 2 GG auch auf Art. 12 I S. 1 GG (d.h. die Berufswahl) zu erstrecken (st. Rspr. des BVerfG seit dem Apothekenurteil BVerfGE 7, 377, 402; vgl. auch BVerfGE 102, 197, 213 f. – Öffentliche Spielbank; 104, 357 ff. – Ladenschlusszeiten für Apotheken; 105, 252, 264 ff. – Glykolwein; BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 104).

Steht demnach auch die Berufswahl unter (einfachem) Gesetzes- bzw. Regelungsvorbehalt, gilt es, Eingriffe nach diesen Maßstäben zu rechtfertigen. Mit der Formulierung „durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes“ ist gemeint, dass nicht nur formelle Gesetze, sondern (auf deren Grundlage) auch nur-materielle Gesetze wie Rechtsverordnungen und Satzungen als berufsregelnde Rechtsnormen in Betracht kommen. Selbst Verwaltungsakte auf der Grundlage eines der genannten Gesetze können demnach die Berufsfreiheit einschränken. Jedoch muss unter Zugrundelegung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG das ermächtigende formelle Gesetz alle für die Berufsfreiheit wesentlichen Voraussetzungen selbst regeln. Dabei gilt: Je schwerwiegender der Eingriff in die Berufsfreiheit ausfällt, desto detaillierter muss die formell-gesetzliche Regelung sein. Lediglich Randfragen der Berufszulassung und generell Fragen der Berufsausübung können der Exekutive überlassen werden (Aussage der Wesentlichkeitsrechtsprechung).

Ist die Eingriffsgrundlage danach nicht zu beanstanden, ist hinsichtlich der weiteren Prüfung der Rechtfertigung auf die vom BVerfG in seinem Apothekenurteil (BVerfGE 7, 377 ff.) entwickelte Unterscheidung zwischen drei Eingriffsstufen einzugehen, wonach die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung abhängig von der Stufe sind, auf der sich der Eingriff befindet. Je höher die Stufe ist, desto höher sind die Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit. Im Überblick dargestellt, der auf R. Schmidt, Grundrechte, Rn 801 mit Verweis auf BVerfGE 7, 377, 405 ff. basiert, ergibt sich:

  • Auf der ersten Stufe stehen Berufsausübungsregelungen, also Regelungen, die lediglich das „Wie“ der beruflichen Tätigkeit regeln. Die damit verbundenen relativ geringen Beeinträchtigungen können bereits durch vernünftige Belange des Gemeinwohls bzw. Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit gerechtfertigt werden (BVerfGE 7, 377, 406). 
  • Regelungen, die die Wahl eines Berufs oder den Verbleib im Beruf von persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, erworbenen Abschlüssen oder erbrachten Leistungen der betreffenden Personen abhängig machen, also subjektive Zulassungsvoraussetzungen aufstellen, sind der zweiten Stufe zuzuordnen und verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn dadurch ein überragendes Gemeinschaftsgut, das der Freiheit des Einzelnen vorgeht, geschützt werden soll (BVerfGE 7, 377, 406).  
  • Eingriffe, die die Wahl eines Berufs bzw. den Verbleib in einem Beruf an Voraussetzungen knüpfen, die mit der Person des Bewerbers bzw. Berufstätigen nichts zu tun haben (die dieser damit auch nicht – selbst bei noch so guter Leistung bzw. Qualifikation – beeinflussen kann), also objektive Zulassungsvoraussetzungen (besser gesagt: objektive Zulassungsschranken) aufstellen, stehen auf der dritten Stufe und sind wegen der damit verbundenen sehr hohen Eingriffsintensität nur dann gerechtfertigt, wenn sie zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zwingend geboten sind (BVerfGE 7, 377, 408).

Subjektive und objektive Berufswahlregelungen (Zulassungsvoraussetzungen bzw. Zulassungsschranken) gewinnen insbesondere dann an Bedeutung, wenn öffentliche Ausbildungseinrichtungen durch den Staat rechtlich oder tatsächlich monopolisiert sind. Das ist insbesondere bei staatlichen Hochschulen und Universitäten, aber auch beim Vorbereitungsdienst (Referendariat) der Fall. Wie bereits erläutert, gewährt Art. 12 I GG zwar kein subjektives Recht auf Schaffung unbegrenzter Ausbildungskapazitäten. Etwas anderes gilt aber für den Fall, dass die staatliche Hochschule Leistungen (in Form der Zur-Verfügung-Stellung von Ausbildungsplätzen eines bestimmten Fachs) gewährt bzw. bereits anderen gewährt hat. Hier ist der Staat nach Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG und dem Sozialstaatsprinzip zur Gleichbehandlung verpflichtet und darf ohne sachlichen Grund Dritte nicht von der Leistungsgewährung ausschließen (derivatives Leistungsrecht bzw. Teilhaberecht, siehe R. Schmidt, Grundrechte, Rn 810). Das wurde vom BVerfG in der vorliegenden Entscheidung erneut bestätigt (BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 104 ff.). Ein sachlicher Grund besteht etwa darin, dass vorhandene Ausbildungskapazitäten erschöpft sind, wobei die öffentliche Hand die Ausbildungskapazitäten mindestens an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes ausrichten muss. Ginge man über die vorhandene Kapazität hinaus, würden zum einen die Ausbildung der anderen Studierenden gefährdet und zum anderen die Funktionsfähigkeit von Forschung und Lehre und damit die Qualität der Ausbildung in Frage gestellt werden. Für die Versagung der Zulassung ist aber aufgrund der Grundrechtswesentlichkeit stets eine formell-gesetzliche Rechtsgrundlage erforderlich (ganz h.M. seit BVerfGE 33, 303, 336 f. (erstes Numerus-clausus-Urteil); jüngst BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 116 ff.). Das Erfordernis einer formell-gesetzlichen Grundlage soll gewährleisten, dass die vor dem Hintergrund der Bedeutung der Berufswahl für die Entfaltung der Persönlichkeit sehr bedeutsame Studienplatzvergabe nicht allein der Satzungsautonomie der Hochschule überlassen bleibt (BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 116 ff.). Folgerichtig findet das Hochschulzulassungsrecht seine formell-gesetzliche Grundlage im Hochschulrahmengesetz, in den Hochschulgesetzen der Länder und in den aufgrund der Ermächtigung in den Hochschulgesetzen der Länder erlassenen Rechtsverordnungen und Satzungen. Wendet man die Drei-Stufen-Theorie an und ordnet die Zulassungsbeschränkung (aufgrund der Kontingentierung) der 3. Stufe zu (so BVerfGE 33, 303, 338 – erstes Numerus-clausus-Urteil), ist diese materiell-rechtlich gerechtfertigt, wenn sie dem Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsguts dient und nur in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen, mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Ausbildungskapazitäten angeordnet wird. Darüber hinaus müssen Auswahl der Bewerber und Verteilung der Studienplätze nach sachgerechten Kriterien erfolgen, damit jeder Studienbewerber die gleiche Chance für das Studium erhält (BVerfGE 33, 303, 338, 345 ff.; 43, 291, 314 ff.; BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 116 ff.). 

Dem Urteil des BVerfG liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Studiengang Humanmedizin ist deutschlandweit zugangsbeschränkt. Die Zahl der Studienplatzbewerber übersteigt die Zahl der verfügbaren Plätze für Studienanfänger um ein Vielfaches. Die Vergabe der Studienplätze ist durch das Hochschulrahmengesetz des Bundes und einen zwischen den Ländern geschlossenen Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung geregelt, der durch Gesetze der Länder in Landesrecht umgesetzt worden ist. Im Rahmen des Erfordernisses einer Abiturbestnote müssen Bewerber bei der Stiftung für Hochschulzulassung (SfH) angeben, an welchen Orten sie am liebsten studieren würden; diese Ortspräferenz ist auf sechs Studienorte begrenzt. Wer danach eine „falsche“ Ortsangabe wählt, kann also „leer ausgehen“, obwohl er an sich alle Voraussetzungen erfüllt. Ob das mit Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG (hier: Recht auf gleiche Teilhabe) vereinbar ist, darf bezweifelt werden.

Lösungsgesichtspunkte: Geht es um die Vergabe von kontingentierten Studienplätzen (etwa im Studienfach der Humanmedizin), muss – mit Blick auf den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG – der parlamentarische Gesetzgeber die bezüglich der Vergabe von Studienplätzen wesentlichen Fragen selbst regeln und die Auswahlkriterien der Art nach selbst festlegen. Allerdings hat das BVerfG ebenso entschieden, dass er den Hochschulen gewisse Spielräume für die Konkretisierung der gesetzlich festgelegten Kriterien lassen dürfe, anhand derer etwa die Eignung von Studienbewerberinnen und -bewerbern beurteilt werden soll. Das folge aus Art. 5 III S. 1 Var. 2 GG, der den Hochschulen das Recht gewähre, ihren Studiengang nach eigenen wissenschaftlichen Kriterien zu prägen und dabei eigene Schwerpunkte zu setzen. Eine solche – begrenzte – Konkretisierungsbefugnis der Hochschulen bestehe insbesondere in den Ausgestaltungsmöglichkeiten hochschuleigener Eignungsprüfungen, die im Rahmen der Auswahlverfahren der Hochschule durchgeführt werden dürften (fachspezifische Studier-fähigkeitstests und Auswahlgespräche). Allerdings verlange der Gesetzesvorbehalt insoweit gesetzliche Sicherungen dafür, dass die Hochschulen Eignungsprüfungen in standardisierten und strukturierten Verfahren durchführen. Dabei genüge es, wenn der Gesetzgeber die Hochschulen zu einer transparenten eigenen Standardisierung und Strukturierung verpflichte, auch um der Gefahr diskriminierender Anwendung vorzubeugen. Der Gesetzgeber müsse gewährleisten, dass in den hochschuleigenen Studierfähigkeitstests und Auswahlgesprächen nur die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber geprüft werde. Die den Hochschulen eingeräumte Konkretisierungsbefugnis dürfe sich dabei ausschließlich auf die – auch im Lichte der fachlichen Ausgestaltung und Schwerpunktsetzung unter Einbeziehung hochschulspezifischer Profilbildungen zu beurteilende – Eignung der Bewerberinnen und Bewerber beziehen. Das Kriterium der Abiturbestenquote begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Orientiere sich die Vergabeentscheidung aber (maßgeblich) an den Ortswunschangaben und beschränke die Bewerbung auf sechs Studienorte, verletze dies Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG (siehe BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 120 ff.). Diese Grundrechtsverletzung führe aber nicht zur Nichtigkeit der betreffenden bundes- und landesgesetzlichen Vorschriften zur Studienplatzvergabe, sondern es genüge eine Unvereinbarkeitserklärung. Denn zum einen habe der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten, den Verfassungsverstoß zu beseitigen, und zum anderen würde durch eine Nichtigkeitserklärung ein Zustand geschaffen, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die verfassungswidrige Regelung. Gesetzliche Neuregelungen seien aber bis zum 31.12.2019 zu schaffen. Bis dahin dürften die gegenwärtigen Bewerbungs- und Auswahlverfahren weiterlaufen (BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 252 f.).

Bewertung: Dem Urteil ist insoweit zuzustimmen, als es die maßgebliche Orientierung der Vergabeentscheidung an den Ortswunschangaben sowie die Beschränkung der Bewerbung auf sechs Studienorte für verfassungswidrig erachtet. Abzulehnen ist das Urteil jedoch insoweit, als es die Abiturnote als Zulassungskriterium nicht in Frage stellt. Zwar mag es sein, dass Abiturbestnoten eine gute Prognose für den Studienerfolg liefern, allerdings sagen Abiturbestnoten sicherlich nichts darüber aus, ob jemand ein guter Arzt bzw. eine gute Ärztin wird. Wie bereits bei R. Schmidt, Grundrechte, 22. Auflage formuliert, sind Zweifel angebracht, ob das Abhängigmachen eines Studienplatzes von einer bestimmten Abiturnote das richtige Mittel ist. Vom Verfasser wurde aufgeworfen, dass alternativ an eine universitäre Zugangsprüfung zu denken wäre, die neben kognitiven und berufsspezifischen Aspekten auch sog. Soft Skills berücksichtigt. Infolge des nunmehr ergangenen BVerfG-Urteils dürfte sich der Gesetzgeber dem annähern.

R. Schmidt (20.12.2017)




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