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Beiträge 2017


16.1.2017: Teilnahme muslimischer Mädchen am schulischen Schwimmunterricht


EGMR, Urt. v. 10.1.2017 – 29086/12


Mit Urteil vom 10.1.2017 (29086/12) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass die (schulgesetzliche) Pflicht der Schülerinnen und Schüler, am gemischten schulischen Schwimmunterricht teilzunehmen, auch für muslimische Mädchen gilt. Zwar betont der EGMR das Recht auf freie Religionsausübung (der Eltern) gem. Art. 9 I EMRK, das beeinträchtigt sei, wenn die Eltern nicht frei bestimmen können, ihr Kind vom schulischen gemeinsamen Schwimmunterricht auszuschließen. Für die Beeinträchtigung gebe es allerdings eine gesetzliche Grundlage und das legitime Ziel, ausländische Schülerinnen und Schüler (hier: Mädchen muslimischen Glaubens) vor der sozialen Ausgrenzung zu schützen. Ein Verstoß gegen das Menschenrecht der Religionsfreiheit der Eltern liege daher nicht vor.

Ausgangslage: Prüfungsmaßstab des vorliegenden Falles ist die 1950 vom Europarat erarbeitete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere deren Art. 9. Darüber, welcher Rang der EMRK im Normengefüge der einzelnen Konventionsstaaten zukommt, enthält (wie sich u.a. aus Art. 57 EMRK ergibt) die EMRK keine verbindliche Regelung. Vielmehr hängt er von der Art der Umsetzung ab. Insoweit haben die Konventionsstaaten einen Gestaltungsspielraum. In der Schweiz bspw. hat die EMRK grundsätzlich Vorrang vor dem nationalen Recht einschließlich der Bundesverfassung (vgl. BGE 138 II 524 E. 5.1: "Besteht ein echter Normkonflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht, so geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz vor"). Und in der Bundesrepublik Deutschland kommt der EMRK kraft gesetzlicher Übernahme im Jahre 1953 ("Rechtsanwendungsbefehl") gem. Art. 59 II S. 1 GG der innerstaatliche Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu (R. Schmidt, Grundrechte, 20. Aufl. 2016, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfG NJW 2016, 1295, 1297; BVerfG 4.5.2015 - 2 BvR 2169/13; BVerfGE 128, 326, 367; 111, 307, 317; 82, 106, 120; 74, 358, 370). Daraus folgt, dass die EMRK mit ihren Grund- und Menschenrechten in ihrem Rang unterhalb der Grundrechte des Grundgesetzes auf der Ebene von Bundesgesetzen steht. Allerdings ist es ständige Rspr. des BVerfG, dass aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG (Art. 1 II GG) sowie der völkervertraglichen Bindung, die die Bundesrepublik mit der Unterzeichnung der EMRK eingegangen ist, Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK nicht nur bei der Anwendung von einfachem Recht, sondern auch bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind (vgl. R. Schmidt, Grundrechte, 20. Aufl. 2016, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfGE 128, 326, 366 ff.; 111, 307, 317; 83, 119, 128; 74, 358, 370). Ist eine konventionskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich (etwa, weil der Wortlaut nicht weiter auslegbar ist), muss den Gewährleistungen der EMRK nötigenfalls durch richterliche Rechtsfortbildung Rechnung getragen werden.

Missachtungen der Gewährleistungen der EMRK können von jedem Einzelnen vor dem EGMR geltend gemacht werden. So entscheidet nach Art. 34 EMRK der EGMR über Individualbeschwerden, mit denen jeder Bürger eines Vertragsstaates nach Erschöp­fung des inner­staatlichen Rechtswegs eine Verletzung der EMRK rügen kann (Art. 35 EMRK). Stellt der EGMR daraufhin einen Verstoß gegen die EMRK fest, ist – aus völkerrechtlicher Sicht – der verur­teilte Staat zur Abhilfe bzw. ggf. zur Entschädigung verpflichtet (Art. 46 I EMRK).

Im vorliegend zu besprechenden Fall geht es um die Frage, ob die EMRK in der vom EGMR vorgenommenen Auslegung ein Schutzniveau gewährleistet, das über das des nationalen Rechts hinausgeht.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein in Basel lebendes Ehepaar mit schweizerischer und türkischer Staatsbürgerschaft weigerte sich aus religiösen Gründen, ihre Töchter am gemischten Schwimmunterricht der Schule teilnehmen zu lassen. Seitens der Behörden wurde den Eltern nach erfolgloser Aufforderung, ihre Töchter am gemischten Schwimmunterricht der Schule teilnehmen zu lassen, schließlich eine Geldstrafe angedroht, falls sie ihrer Elternpflicht nicht nachkämen, die Mädchen am Schulschwimmunterricht teilnehmen zu lassen. Eine Befreiung von der Teilnahmepflicht sei erst möglich, wenn die Mädchen die Pubertät erreichten. Nachdem die Eltern erfolglos den Rechtsweg ausgeschöpft hatten, legten sie Individualbeschwerde vor dem EGMR ein.

Die Entscheidung des EGMR: Der EGMR betont zunächst die Bedeutung der durch Art. 9 I EMRK gewährleisteten Religionsausübungsfreiheit, die auch das Recht der Eltern umfasse, die ihre minderjährigen Kinder betreffenden religiösen Angelegenheiten (mit-) zu bestimmen. In Anwendung der Schrankenregelung des Art. 9 II EMRK, wonach die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu bekennen, nur Einschränkungen unterworfen werden darf, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, verweist der EGMR aber auch auf die besondere Rolle der Schule im Hinblick auf die soziale Integration von Kindern, insbesondere solcher mit Migrationshintergrund. Kinder hätten ein Interesse an einer umfassenden Ausbildung, die ihr die erfolgreiche Integration auch in lokale Bräuche erleichtere. Zudem stehe beim Schulschwimmen nicht nur das Anliegen im Vordergrund, schwimmen zu lernen, sondern es gehe auch darum, dass Kinder an gemeinsamen Aktivitäten mit den Mitschülern teilnehmen, ohne dass die Herkunft der Eltern, deren Religion oder Überzeugungen eine besondere Rolle spielen. Sollte die religiöse Überzeugung der Eltern gleichwohl entgegenstehen, bestünde immer noch die Möglichkeit, die Kinder bspw. einen Burkini tragen zu lassen,

Unter Berücksichtigung aller Aspekte überwiege das Interesse an der Teilnahme am gemeinsamen Schwimmunterricht dasjenige der Eltern, ihre Töchter vom Schwimmunterreicht fernzuhalten. Die nationalen Behörden hätten ihr Ermessen damit rechtmäßig ausgeübt, indem sie der Pflicht zur umfassenden Teilnahme an den schulischen Pflichtveranstaltungen den Vorrang gegenüber dem privaten Interesse der Eltern eingeräumt hätten.

Bewertung: Der Entscheidung des EGMR ist uneingeschränkt beizupflichten. Die Religionsausübungsfreiheit nach Art. 9 I EMRK ist nicht schrankenlos gewährleistet, sondern steht unter dem Vorbehalt des Art. 9 II EMRK. Das gilt umso mehr, wenn es nicht um die Religionsausübung in eigener Sache geht, sondern um diejenige der Kinder. Zwar umfasst das Religionsausübungsrecht auch die Befugnis zu religiöser Kindererziehung, allerdings sind dabei auch die (entgegenstehenden) Interessen der Kinder sowie der staatliche Erziehungs- und Integrationsauftrag zu berücksichtigen, was jeweils im Sinne einer praktischen Konkordanz (Begriff nach Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn 317 ff.; später verwendet bspw. auch von BVerfGE 89, 214, 232; 129, 78, 101 f.; 134, 204, 223; BVerfG NJW 2016, 2247, 2250) mit der Religionsausübungsfreiheit abzuwägen ist.

Ist danach einer Schülerin muslimischen Glaubens die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht in einer Badebekleidung zumutbar, die muslimischen Bekleidungsvorschriften entspricht (siehe BVerwG NVwZ 2014, 81, 82 ff. für das deutsche Recht), ist auch ein Verstoß gegen Art. 9 I EMRK nicht gegeben.

R. Schmidt (16.1.2017)

 


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