Aktuelles 2019 Hartz-IV-Sanktionen

Beiträge 2019


09.11.2019: Zur (Un-)Vereinbarkeit der Leistungsminderungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Arbeitslosengeld II („Hartz-IV-Sanktionen“) mit dem Grundgesetz

BVerfG, Urt. v. 05.11.2019 – 1 BvL 7/16

Sachverhalt: Der das Verfahren ins Rollen bringende K hat eine abgeschlossene Berufsausbildung im Bereich Lager/Logistik. Nachdem die Höchstdauer des Bezugs von ALG I verstrichen war, erhielt er im Anschluss daran erstmals Leistungen nach dem SGB II. Eine zwischenzeitig begonnene Ausbildung zum Kaufmann für Bürokommunikation brach er ab. Das Jobcenter bewilligte sodann erneut ALG II in Form des Regelbedarfs und übernahm die anfallenden Kosten für Unterkunft und Heizung. Die Vermittlung eines Arbeitsplatzes als Lagerarbeiter schlug er aus; er habe kein Interesse an dieser Tätigkeit, sondern interessiere sich für den Verkaufsbereich. Nach einer vorherigen Anhörung des K und einem Hinweis auf Sanktionen hob das Jobcenter den Bewilligungsbescheid teilweise auf und minderte das ALG II um 30% des maßgebenden Regelbedarfs. Man habe K ein zumutbares Beschäftigungsverhältnis als Lager- und Transportarbeiter angeboten, das dieser aber trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht angenommen habe.
Später verfügte das Jobcenter mit dem eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt, dass K bei einem Arbeitgeber innerhalb eines Monats einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein einzulösen habe, um eine praktische Erprobung zu ermöglichen. Dem kam K trotz Belehrung über seine Mitwirkungspflichten und die Rechtsfolgen ihrer Verletzung ebenfalls nicht nach, sodass das Jobcenter in einer 2. Stufe das ALG II für drei Monate monatlich um 60% des Regelbedarfs minderte.
BBei beiden Maßnahmen wies das Jobcenter darauf hin, dass bei einer Minderung um mehr als 30% auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbracht werden können. K stellte einen solchen Antrag zu keiner Zeit.
Stattdessen erhob er – nach erfolgloser Durchführung von Widerspruchsverfahren – Klage beim Sozialgericht Gotha. Dieses legte die §§ 31 bis 31b SGB II dem BVerfG mit der Frage vor, ob diese mit Art. 1 I i.V.m. Art. 20 I GG sowie mit Art. 12 I GG und mit Art. 2 II S. 1 GG zu vereinbaren seien.

Mit Urteil v. 05.11.2019 hat das BVerfG (1 BvL 7/16) entschieden, dass Leistungsminderungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Arbeitslosengeld II („ALG II“) bis zu maximal 30% des Regelbedarfs möglich seien; dagegen seien die bisher möglichen Abzüge bei Verletzung der Mitwirkungspflicht um 60% oder 100% mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Mit dem Grundgesetz unvereinbar seien Sanktionen unabhängig von ihrer Höhe, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern sei und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben werde. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

I. Ausgangslage: Erwerbsfähige arbeitsuchende hilfebedürftige Personen (zum Begriff der Erwerbsfähigkeit siehe § 8 SGB II, zum Kreis der Leistungsberechtigten siehe § 7 SGB II, zur Altersgrenze siehe § 7a SGB II und zum Begriff der Hilfebedürftigkeit siehe § 9 SGB II) erhalten nach Maßgabe des SGB II Leistungen zur Grundsicherung (Arbeitslosengeld II; umgangssprachlich auch „Hartz IV“ genannt), § 19 I S. 1 SGB II. Zweck der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist, es Leistungsberechtigten zu ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 I SGB II). Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll aber auch die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können (§ 1 II S. 1 SGB II). Zudem stellt § 1 II S. 2 SGB II den Grundsatz der Subsidiarität auf, indem er die Unterstützung davon abhängig macht, dass die Betroffenen ihren Lebensunterhalt nicht auf andere Weise bestreiten können. Verfügt eine Person also über Einkommen und/oder Vermögen, ist dies bei der Frage nach der Hilfebedürftigkeit zu berücksichtigen (zum Einkommen siehe §§ 11, 11a, 11b SGB II; zum Vermögen siehe § 12 SGB II). Erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen müssen zudem alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen (§ 2 I S. 1 SGB II), bevor sie Unterstützungsleistungen erhalten können. Der Gesetzgeber unterstreicht dabei (auch) den Grundsatz des Forderns: So muss eine erwerbsfähige leistungsberechtigte Person aktiv an allen Maßnahmen zu ihrer Eingliederung in Arbeit mitwirken, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung abschließen (§ 2 I S. 2 SGB II; zur Eingliederungsvereinbarung siehe § 15 SGB II). Wenn eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit nicht möglich ist, hat die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person eine ihr angebotene zumutbare (zum Begriff der Zumutbarkeit siehe § 10 SGB II) Arbeitsgelegenheit zu übernehmen (§ 2 I S. 3 SGB II). Erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen haben in eigener Verantwortung alle Möglichkeiten zu nutzen, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten (§ 2 II S. 1 SGB II), und müssen ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen einsetzen (§ 2 II S. 2 SGB II).

Besteht danach (gleichwohl) ein Leistungsanspruch, werden Leistungen gewährt u.a. in Form von
  • Geldleistungen als Regelbedarf (§ 20 SGB II) und Mehrbedarf (§ 21 SGB II)
  • Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II)
  • Sachleistungen (§ 24 SGB II)
  • Zuschüssen zu Beiträgen zur Krankenversicherung und Pflegeversicherung (§ 26 SGB II)
So ist als Regelbedarf (Kosten für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie (ohne Heizung) und für persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens, siehe § 20 I S. 1 SGB II) bei Personen, die alleinstehend oder alleinerziehend sind oder deren Partnerin oder Partner minderjährig ist, monatlich ein Betrag in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 anerkannt; die Regelbedarfsstufe 1 beträgt gemäß der Anlage zu § 28 SGB XII seit dem 1.1.2019 monatlich 424 €. Gemäß der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2020 (RBSFV 2020) beträgt die Regelbedarfsstufe 1 ab dem 1.1.2020 monatlich 432 €.

Verletzt eine leistungsberechtigte Person ihre Mitwirkungspflicht, insbesondere die Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung, greifen die differenzierten Sanktionen nach § 31a SGB II (das „Drei-Stufen-Modell“). Bei einer Minderung des ALG II um mehr als 30% des nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs kann der Träger aber auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen.

II. Verfassungsrechtliche Dimension: Wie bei R. Schmidt, Grundrechte, 24. Aufl. 2019, Rn. 236 ausgeführt, gewährleistet Art. 1 I GG ein menschenwürdiges Dasein (in finanzieller Hinsicht die Sicherung eines Existenzminimums). So bietet Art. 1 I GG (i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG) Schutz vor dem Vorenthalten eines menschenwürdigen Existenzminimums, also von Mitteln, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind (BVerfGE 132, 134 ff. – Asylbewerberleistungsgesetz; zuvor schon BVerfGE 125, 175 ff. – „Hartz IV“; BVerfG NJW 1999, 561, 562 – Ermittlung des einkommensteuerlichen Existenzminimums). § 1 I SGB II greift dies – wie aufgezeigt – einfachgesetzlich auf, das SGB II stellt aber (u.a. in § 1 II SGB II) bestimmte Voraussetzungen an die Leistungsvergabe (Grundsatz des Forderns; Grundsatz der Subsidiarität). Zudem enthält das SGB II bei Verletzung von bestimmten Pflichten wie Weigerung der Aufnahme zumutbarer Arbeit Sanktionsregelungen (§ 31a i.V.m. §§ 31, 31b SGB II: Minderung des ALG II).

Ob also die genannten Sanktionsregelungen mit Art. 1 I GG, dessen Schutz sich ja auch auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt, i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG vereinbar sind, begegnet demnach in der Tat erheblichen Bedenken. Zwar könnte man argumentieren, der Betroffene habe es selbst in der Hand, durch Unterlassung von Pflichtverletzungen Leistungskürzungen zu vermeiden. Dieser Argumentation ist aber der Weg versperrt, wenn man mit dem BVerfG die Indisponibilität der Menschenwürde und damit deren absoluten Schutz annimmt.

III. Die Entscheidung des BVerfG: Zunächst benennt das BVerfG die maßgeblichen einfachgesetzlichen Vorschriften des SGB. So verletzen nach § 31 I SGB II erwerbsfähige Empfänger von ALG II, die keinen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen, ihre Pflichten, wenn sie sich trotz Rechtsfolgenbelehrung nicht an die Eingliederungsvereinbarung halten, wenn sie sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern oder wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. Rechtsfolge dieser Pflichtverletzungen ist nach § 31a SGB II die Minderung des ALG II in einer ersten Stufe um 30% des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs. Bei der zweiten Pflichtverletzung mindert sich der Regelbedarf um 60%. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfällt das ALG II vollständig. Die Dauer der Minderung beträgt nach § 31b I S. 3 SGB II drei Monate.

Wie den genannten Vorschriften zu entnehmen ist, treten bei einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II die in § 31a I und II SGB II vorgesehenen Rechtsfolgen zwingend ein. Eine Ermessensausübung der Behörde (insbesondere, um unzumutbare Härten abzuwenden) ist insoweit nicht möglich. Sanktioniert also das Jobcenter nach Maßgabe des zwingenden Rechts Verstöße gegen die Mitwirkungspflichten, könnte darin ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gesehen werden. Und da die gesetzliche Regelung der §§ 31, 31a I und II SGB II die Pflichtverletzungen und die Rechtsfolgen klar beschreibt, wäre auch eine verfassungskonforme Auslegung nicht möglich, was (auch) die Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelung selbst implizieren könnte. Zu prüfen gilt somit zunächst die Vereinbarkeit der gesetzlichen Sanktionsregelung mit dem Grundgesetz, konkret mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 1 I GG.

IV. Prüfung der Verfassungskonformität der Regelungen des § 31a SGB II i.V.m. §§ 31, 31b SGB II: Prüfungsmaßstab ist – wie aufgezeigt – Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG. Konkret geht es um die Frage, ob das menschenwürdige Existenzminimum gewahrt ist, wenn der Staat Mitwirkungspflichten statuiert und Verstößen gegendie Mitwirkungspflichten mit Sanktionen (Leistungskürzungen) begegnet. Zunächst stellt das BVerfG fest, dass der Gesetzgeber bei den Regeln zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums über einen Gestaltungsspielraum verfügt. Daher sei es nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber das Prinzip der Nachrangigkeit verfolgt, d.h. Leistungen nur dann gewährt, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er dürfe verlangen, dass Menschen zunächst auf ihnen verfügbare Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter zugreifen, bevor sie Leistungen vom Sozialstaat verlangen könnten. Er dürfe erwerbsfähigen Beziehern von ALG II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen und die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entziehe. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gölten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; zudem sei Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 I S. 2 GG, die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen. Der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers sei hier beschränkt.

Ist also der sonst geltende Einschätzungsspielraum beschränkt, führt dies zu einer Prüfungsdichte, wie sie auch sonst besteht. Wegen der Absolutheit der Menschenwürde und des bereits erwähnten Schutzauftrags des Staates ist sogar ein besonders strenger Maßstab angezeigt. Es ist wie folgt zu differenzieren:

1. Gesetzliche Verpflichtung von erwerbsfähigen Erwachsenen, in zumutbarer Weise an der Überwindung oder Verhinderung ihrer Hilfebedürftigkeitmitzuwirken (§ 31 I SGB II)
An der Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes bestehen keine Zweifel. Möglicherweise ist aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. Dieser bringt zum Ausdruck, dass die Freiheit des Einzelnen nur so weit eingeschränkt werden darf, als es im Interesse des Gemeinwohls unerlässlich ist (vgl. nur BVerfGE 19, 342, 348 f.; 76, 1, 50; 111, 54, 82; BVerwG NJW 2018, 2067, 2070). Eine gesetzliche Bestimmung, die in Grundrechte eingreift, ist nach allgemeiner Auffassung (siehe nur BVerfG NJW 2019, 827, 829 ff. mit Verweis auf die st. Rspr. BVerfGE 67, 157, 173; 120, 378, 427; 141, 220, 265) nur dann verhältnismäßig, wenn
  • der vom Staat verfolgte Zweck legitim ist, also als solcher verfolgt werden darf,
  • der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Ziels geeignet,
  • der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Ziels erforderlich
  • und der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Ziels angemessen ist.
Legitim ist der Zweck, wenn er auf das Wohl der Allgemeinheit gerichtet ist bzw. wenn ein öffentliches Interesse verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist (BVerfGE 124, 300, 331).  Zweck der in § 31 I SGB II geregelten Mitwirkungspflichten ist es, Menschen wieder in Arbeit bringen, was ohne weiteres als legitim angesehen werden kann. Die Regelung müsste aber auch geeignet sein. Geeignet ist die staatliche Maßnahme, wenn mit ihrer Hilfe das angestrebte Ziel erreicht werden kann (vgl. nur BVerfGE 81, 156, 192; BVerfG NJW 2018, 2542, 2543 f.; BVerfG NJW 2019, 827, 829). Auch dies kann festgestellt werden. Denn mit den genannten Mitwirkungspflichten können die erwähnten Ziele erreicht werden. Erforderlich ist die gesetzliche Regelung, wenn kein gleich wirksames, aber für den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung steht (vgl. etwa BVerfG NJW 2018, 2109, 2112 mit Verweis auf BVerfGE 113, 167, 259; 135, 90, 118). Vorliegend ist – wie das BVerfG zu Recht ausführt – nicht evident, dass weniger belastende Mitwirkungshandlungen oder positive Anreize dasselbe bewirken könnten. Mithin ist die Mitwirkungsregelung erforderlich. Schließlich müsste sie auch angemessen sein. Das wäre der Fall, wenn der mit ihr verfolgte Zweck in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs stünde (vgl. nur BVerfG NJW 2019, 584, 588). Das BVerfG führt hierzu aus, dass der Gesetzgeber – anders als im Recht der Arbeitsförderung – beim ALG II keinen Berufsschutz normieren müsse, denn das Recht der Sozialversicherung und das Grundsicherungsrecht unterschieden sich strukturell. Es sei daher nicht zu beanstanden, dass hier andere als bislang ausgeübte und auch geringerwertige Tätigkeiten zumutbar sind. Darüber hinaus sei nicht erkennbar, dass eine der in § 31 I SGB II benannten Mitwirkungspflichten gegen das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 II GG) verstieße. Es sei verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, wenn die Mitwirkungspflicht eine Erwerbstätigkeit betreffe, die nicht dem eigenen Berufswunsch entspricht. In den allgemeinen Zumutbarkeitsregelungen, die auch für die Mitwirkungspflichten gölten, sei auch der grundrechtliche Schutz der Familie (Art. 6 GG) berücksichtigt.

Zwischenergebnis: Mithin ist die Regelung in § 31 I SGB II, soweit sie erwerbsfähige Erwachsene zu einer zumutbaren Mitwirkung verpflichtet, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden oder zu verhindern, verfassungsgemäß.

2. Zwangsmittel zur Durchsetzung der gesetzlichen Mitwirkungspflicht (§ 31a I S. 1 SGB II), sog. Sanktionen
Gemäß § 31a I S. 1 SGB II mindert sich bei einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II das ALG II in einer ersten Stufe um 30% des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs (zum Regelbedarf s.o.). Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II mindert sich gem. § 31a I S. 2 SGB II das ALG II um 60% des Regelbedarfs. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II entfällt das ALG II vollständig (§ 31a I S. 3 SGB II).

Beginn und Dauer der Leistungskürzung sind in § 31b SGB II geregelt. Gemäß § 31b I S. 3 SGB II beträgt der Minderungszeitraum drei Monate. Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, kann gem. § 31b I S. 4 SGB II der Träger die Minderung des Auszahlungsanspruchs in Höhe der Bedarfe nach den §§ 20 und 21 SGB II unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auf sechs Wochen verkürzen. Und schließlich gilt: Während der Minderung des Auszahlungsanspruchs besteht kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des SGB XII (§ 31b II SGB II).

Wie den genannten Bestimmungen zu entnehmen ist, besteht also hinsichtlich der Leistungskürzung und der dreimonatigen Dauer der Kürzung kein Ermessen: Die Behörde hat diese Sanktion festzusetzen und muss dies zudem für die genannte Dauer tun. Lediglich bei den unter 25-jährigen Leistungsberechtigten kann (Ermessen) die Behörde nach einer entsprechenden Abwägung aller Einzelfallumstände die Sanktion auf sechs Wochen verkürzen. 

Das BVerfG hat hierzu entschieden, dass das Anliegen des Gesetzgebers, legitime Pflichten mit Sanktionen durchzusetzen, verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden sei, da der Gesetzgeber damit ein legitimes Ziel verfolge. Jedoch genügten die konkreten gesetzlichen Regelungen (also das genannte „Drei-Stufen-Modell“) dem in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhältnismäßigkeit nicht.

1. Stufe (30%ige Kürzung)
Die in der 1. Stufe (erstmalige Pflichtverletzung) vorgesehene zwingende Leistungskürzung um 30% des Regelbedarfs ist nach Auffassung des BVerfG grds. nicht zu beanstanden, da es zur Abschreckung legitim sei, in dieser Größenordnung zu kürzen. Fraglich ist allerdings, wie es sich auswirkt, dass die Leistungskürzung zwingend und starr für die Dauer von drei Monaten zu erfolgen hat.

a. Zwingende Leistungskürzung
Da § 31a I S. 1 SGB II die Vorgabe macht, dass der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung immer zwingend zu mindern ist, und daher ein Absehen von der Leistungskürzung zur Abwendung einer außergewöhnlichen Härte nicht in Betracht kommt, könnte die Vorschrift gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Das BVerfG hat hierzu entschieden, dass eine gesetzlich angeordnete Leistungsminderung in Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs nur zumutbar (d.h. verhältnismäßig i.e.S.) sei, wenn in einem Fall außergewöhnlicher Härte von der Sanktion abgesehen werden könne. Das sei bei § 31a I S. 1 SGB II nicht möglich. Der Gesetzgeber habe außer Betracht gelassen, dass es Ausnahmesituationen gebe, in denen es Menschen zwar an sich möglich sei, eine Mitwirkungspflicht zu erfüllen, die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheine.

Stellungnahme: Bei Vorschriften, die eine gebundene Entscheidung vorsehen, steht ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Tat stets im Raum, da bei solchen Vorschriften dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht durch eine grundrechtskonforme Ermessensausübung Rechnung getragen werden kann. Dann aber ist auf Tatbestandsebene eine grundrechtskonforme Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe vorzunehmen, möchte man das Verdikt der Verfassungswidrigkeit vermeiden (vgl. dazu etwa BVerfG NVwZ 2015, 510; NJW 2004, 2663; BVerfGE 59, 336, 350 f. Siehe auch BVerfG NJW 2019, 827, 828 f.). § 31a SGB II enthält insoweit aber keine unbestimmten Rechtsbegriffe, die man verfassungskonform auslegen könnte. Auslegbar ist aber die der Sanktionsregelung zugrunde liegende Regelung des § 31 SGB II über die Pflichtverletzungen, weil dort u.a. von „ausreichendem Umfang“, „zumutbare Arbeit“, „zumutbare Maßnahme“ und von einem „wichtigen Grund“ die Rede ist. Daher ist es durchaus möglich, durch Verneinung einer Pflichtverletzung die Sanktion abzuwehren. Freilich ist dieser Weg nicht gangbar im Falle einer Komplettverweigerung, also in dem Fall, dass ein Anspruchsberechtigter vorsätzlich seine Mitwirkungspflichten verletzt, weil er kein Interesse an einer zumutbaren bzw. der ihm angebotenen zumutbaren Arbeit hat und stattdessen lieber von ALG II leben möchte (bzw. so lange, bis man ihm eine ihm genehme Arbeit anbietet).  

b. Starre Dauer von drei Monaten
Dadurch, dass § 31b I S. 3 SGB II einen starren Minderungszeitraum von drei Monaten nennt, könnte diese Vorschrift (ebenfalls) verfassungswidrig sein. Das BVerfG ist dieser Ansicht. Zwar gebe es einen zu akzeptierenden gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum bei der Frage, wie Pflichtenverstößen zu begegnen sei und wie Sanktionen auszugestalten seien. Der Gesetzgeber habe diesen Gestaltungsspielraum mit der starren Fristenregelung aber überschritten. Er habe außer Betracht gelassen, dass es in Ausnahmesituationen Menschen gebe, denen es zwar möglich sei, eine Mitwirkungspflicht zu erfüllen, für die die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheine. Da der Gesetzgeber an die Eigenverantwortung der Betroffenen anknüpfen müsse, wenn er existenzsichernde Leistungen suspendiere, weil zumutbare Mitwirkung verweigert werde, sei dies nur zumutbar, wenn eine solche Sanktion grundsätzlich ende, sobald die Mitwirkung erfolge. Die Bedürftigen müssten selbst die Voraussetzungen dafür schaffen können, die Leistung tatsächlich wieder zu erhalten. Sei die Mitwirkung nicht mehr möglich, erklärten sie aber ihre Bereitschaft dazu ernsthaft und nachhaltig, müsse die Leistung jedenfalls in zumutbarer Zeit wieder gewährt werden. Der starr andauernde Leistungsentzug überschreite daher die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums und verletze Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG (Rn. 186 ff. der Entscheidung).

2. Stufe (60%ige Kürzung)
Die in der 2. Stufe (erste Wiederholung der Pflichtverletzung) vorgesehene - ebenfalls zwingende - Leistungskürzung um 60% des Regelbedarfs könnte nach dem bisher Gesagten erst recht mit Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG unvereinbar sein. Zwar ist es nach Auffassung des BVerfG nicht ausgeschlossen, erneut zu sanktionieren, wenn sich eine Pflichtverletzung wiederholt und die Mitwirkungspflicht tatsächlich nur so durchgesetzt werden könne. Doch sei die Minderung in der Höhe von 60% des Regelbedarfs unzumutbar, weil hier entstehende Belastung weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hineinreiche. Im Übrigen ergäben sich auch bei der Minderung in Höhe von 60% des Regelbedarfs nach § 31a I S. 2 SGB II die genannten Zweifel daran, dass die Sanktion auch in erkennbar ungeeigneten Fällen zwingend vorgegeben sei und unabhängig von jeder Mitwirkung starr drei Monate andauern müsse.

3. Stufe (vollständiger Wegfall des ALG II)
Nach § 31a I S. 3 SGB II entfällt bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II das ALG II vollständig. Da sich die Vorschrift (anders als § 31a I S. 1 und S. 2 SGB II) nicht auf die Regelbedarfe nach § 20 SGB II bezieht, entfallen neben den Geldzahlungen für den maßgebenden Regelbedarf hinaus auch die Leistungen für Mehrbedarfe und für Unterkunft und Heizung sowie die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Unabhängig davon, ob der vollständige Wegfall des ALG II überhaupt geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern (verneinend das BVerfG), ist der vollständige Wegfall der Leistung aufgrund der gravierenden Belastung im grundrechtlich geschützten Bereich der menschenwürdigen Existenz nach Auffassung des BVerfG nicht erforderlich. Es sei in keiner Weise belegt, dass ein Wegfall existenzsichernder Leistungen notwendig wäre, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Es sei möglich, dass eine Minderung der Regelbedarfsleistungen in geringerer Höhe, eine Verlängerung des Minderungszeitraumes oder auch eine teilweise Umstellung von Geldleistungen auf Sachleistungen und geldwerte Leistungen genauso wirksam oder sogar wirksamer wäre, weil die negativen Effekte der Totalsanktion unterblieben. In der Gesamtabwägung ergebe sich, dass der völlige Wegfall aller Leistungen auch mit den begrenzten Möglichkeiten ergänzender Leistungen bereits wegen dieser Höhe nicht mit den hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit vereinbar sei.


Ergebnis: Während nach der Entscheidung des BVerfG
  • gesetzlich angeordnete Leistungskürzungen bis maximal 30% des Regelbedarfs möglich sind, sofern sie nicht zwingend erfolgen (sondern Ausnahmen zulassen, um außergewöhnliche Härten zu vermeiden) und auch nicht an die starre Dauer von drei Monaten geknüpft sind (sondern früher enden, wenn sich der Sanktionstatbestand erledigt hat),
  • sind die bisher möglichen Abzüge bei Verletzung der Mitwirkungspflicht um 60% oder 100% nach Ansicht des BVerfG mit Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG unvereinbar.
Stellungnahme: Bemüht man mit dem BVerfG die Menschenwürde als Prüfungsmaßstab, hätte es streng genommen keine (im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmende) Abwägung geben dürfen, soll die Menschenwürde doch unantastbar und keiner Abwägung offen sein (was selbst das BVerfG in dem hier besprochenen Urteil nochmals klarstellt, siehe Rn. 119 ff. der Entscheidung). Macht das BVerfG zudem deutlich, dass die Gewährleistung aus Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG sich nicht in einen „Kernbereich“ der physischen und einen „Randbereich“ der sozialen Existenz aufspalten lasse, und stellt fest, dass der Gesetzgeber die Höhe des ALG II bereits als Minimum normiert hat (Rn. 119 der Entscheidung), hätte es des Weiteren überhaupt keine Kürzung des ALG II zulassen dürfen. Indem es eine 30%ige Kürzung grundsätzlich zulässt (Rn. 168 ff. der Entscheidung), die 60%ige Kürzung aber mit dem Argument der hier weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hineingreifenden Belastung für verfassungswidrig erklärt (Rn. 190 ff. der Entscheidung), gibt es zu verstehen, dass es offenbar doch bei der Menschenwürde zwischen einem Randbereich (30%ige Kürzung) und einem Kernbereich (60%ige oder gar 100%ige Kürzung) unterscheidet. Das aber ist nicht nur mit der sonstigen Rechtsprechung des BVerfG unvereinbar, sondern auch mit den Ausführungen bei Rn. 119 der Entscheidung. Denn dort heißt es: „Die Verankerung des Gewährleistungsrechts im Grundrecht des Art. 1 Abs. 1 GG bedeutet, dass Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung (Art. 1 Abs. 3 GG) den Menschen nicht auf das schiere physische Überleben reduzieren dürfen, sondern mit der Würde mehr als die bloße Existenz und damit auch die soziale Teilhabe als Mitglied der Gesellschaft gewährleistet wird. Es widerspräche dem nicht relativierbaren Gebot der Unantastbarkeit, wenn nur ein Minimum unterhalb dessen gesichert würde, was der Gesetzgeber bereits als Minimum normiert hat; insbesondere lässt sich die Gewährleistung aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nicht in einen „Kernbereich“ der physischen und einen „Randbereich“ der sozialen Existenz aufspalten.“
Nicht hinreichend gewürdigt hat das BVerfG zudem die Regelung des § 31a III SGB II. Nach S. 1 dieser Vorschrift kann bei einer Minderung des ALG II um mehr als 30% des nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs der Träger auf Antrag in angemessenem Umfang nämlich ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Bei einer Kürzung von Geldleistungen um mehr als 30% des maßgebenden Regelbedarfs können also Sachleistungen (zu denen auch Nahrungsmittelgutscheine gehören) erbracht werden. Warum bei einer Gewährung von Sachmitteln statt von Geldleistungen die Menschenwürde verletzt sein soll, verschließt sich dem Verfasser.
Insgesamt handelt es sich also um eine wenig überzeugende und an dogmatischen Schwächen leidende Entscheidung.
Von den aufgezeigten methodischen und dogmatischen Schwächen und inhaltlich abzulehnenden Aspekten der Entscheidung abgesehen, erscheint es sachangemessen, „notorischen Verweigerern“ Leistungen zu kürzen, und zwar durchaus mittels gestufter Sanktionsregelung. Es kann nicht Aufgabe der Solidargemeinschaft sein, aus ihren Mitteln vermittlungs- und arbeitsfähigen, jedocharbeitsunwilligenMenschen Transferleistungen zu gewähren. Der Rückgriff auf die - indisponible - Menschenwürde geht insoweit fehl. Denn vermittlungs- und arbeitsfähige, jedoch arbeitsunwillige Menschen werden durch Sanktionen nicht zum Objekt staatlichen Handelns herabgestuft. Ihnen wird nicht in menschenverachtender Weise ihre Menschqualität abgesprochen und sie werden nicht zum Objekt eines beliebigen staatlichen Verhaltens erniedrigt bzw. werden nicht zu einer vertretbaren Größe herabgewürdigt (siehe zu diesen Kriterien R. Schmidt, Grundrechte, 24. Aufl. 2019, Rn. 232). Demgegenüber uneingeschränkt unterstützungsberechtigt sind Menschen, denen wegen z.B. (erheblicher) psychischer (und/oder physischer) Schwächen und daraus resultierender multipler Vermittlungshemmnissekeine vorwerfbare Mitwirkungsverweigerung anzulasten ist. In diesen Fällen ist eine sanktionierende Leistungskürzung mit Blick auf die Menschenwürde i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip nicht angezeigt und auch nicht zulässig. Rechtstechnisch könnte dem mit einem einzufügenden Gesetzesmerkmal wie: „Von einer Leistungskürzung ist abzusehen, wenn anderenfalls eine unzumutbare Härte entstünde“ Rechnung getragen werden - siehe dazu Punkt VI.

V. Folgen der Entscheidung
Das BVerfG verzichtet auf eine Nichtigkeitserklärung, sondern stellt (lediglich) die Verfassungswidrigkeit der betreffenden Regelungen fest. Mit Verzicht auf die Nichtigkeitserklärung bleiben die betreffenden Vorschriften also zunächst gültig, jedoch mit den vom BVerfG aufgestellten Maßgaben: 
  • Die – für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende – Leistungsminderung i.H.v. 30% nach § 31a I S. 1 SGB II bleibe mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen müsse, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führte.
  • Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60% sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a I S. 2 und 3 SGB II) seien bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30% des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen dürfe und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden könne, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führte.
  • Die Regelung des § 31b I S. 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs sei bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen könne, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt werde oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklärten, ihren Pflichten nachzukommen.
VI. Vorschlag einer gesetzlichen Neufassung
Eine Frist zur Neuregelung hat das BVerfG dem Gesetzgeber nicht aufgegeben. Daraus wird man folgern dürfen, dass das BVerfG die um seine Maßgaben modifizierten Vorschriften auch als „Dauerlösung“ akzeptieren würde. Dementsprechend könnten die Neuregelungen wie folgt aussehen und den Vorgaben des BVerfG entsprechen:

§ 31a Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen
(1) Bei einer (auch wiederholten) Pflichtverletzung nach § 31 mindert sich das Arbeitslosengeld II um 30 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Von der Leistungsminderung ist abzusehen, wenn anderenfalls eine unzumutbare Härte entstünde. Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt wurde. Sie liegt nicht vor, wenn der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums länger als ein Jahr zurückliegt.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 kann der Träger auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Der Träger hat Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn Leistungsberechtigte mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben.
(3) Für nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte gilt Absatz 1 und 2 bei Pflichtverletzungen nach § 31 Absatz 2 Nummer 1 und 2 entsprechend.

§ 31b Beginn und Dauer der Minderung
(1) Der Auszahlungsanspruch mindert sich mit Beginn des Kalendermonats, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes folgt, der die Pflichtverletzung und den Umfang der Minderung der Leistung feststellt. In den Fällen des § 31 Absatz 2 Nummer 3 tritt die Minderung mit Beginn der Sperrzeit oder mit dem Erlöschen des Anspruchs nach dem Dritten Buch ein. Der Minderungszeitraum beträgt drei Monate. Die Leistungsminderung endet vor Ablauf dieses Zeitraums, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder der Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen. Das Gleiche gilt, wenn durch eine Fortführung der Leistungsminderung eine unzumutbare Härte entstünde. Die Feststellung der Minderung ist nur innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Pflichtverletzung zulässig. Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, kann der Träger die Minderung des Auszahlungsanspruchs in Höhe der Bedarfe nach den §§ 20 und 21 unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls generell auf sechs Wochen verkürzen; Satz 6 gilt entsprechend.
(2) Während der Minderung des Auszahlungsanspruchs besteht kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des Zwölften Buches.

Rolf Schmidt (9.11.2019)



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