Aktuelles 2019 Teilverwirklichungsregel beim unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung

Beiträge 2019


12.08.2019: Zur Problematik der Teilverwirklichungsregel beim unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung

BGH, Beschluss v. 17.07.2018 – 2 StR 123/18 (NStZ 2019, 79)

Mit Beschluss v. 17.07.2018 hat der 2. Strafsenat des BGH (2 StR 123/18) über die Frage entschieden, ob der Täter, der dem unter 14 Jahre alten Opfer ein doppelseitiges Klebeband auf den Mund geklebt, es in sein Auto gezerrt, dort auf die Rückbank verbracht hatte und im Begriff gewesen war, davonzufahren, um das Opfer an einem anderen Ort zu vergewaltigen, bereits damit zum sexuellen Missbrauch von Kindern (und zur sexuellen Nötigung im besonders schweren Fall) angesetzt hatte, obwohl es dem Opfer gelang, die hintere Tür zu öffnen und das Auto zu verlassen. Der BGH hat – nach Anhörung des Generalbundesanwalts – entschieden, dass der Angeklagte mit dem Einsatz von Gewalt bereits ein Tatbestandsmerkmal der sexuellen Nötigung nach § 177 StGB verwirklicht habe und jedenfalls insoweit in das Versuchsstadium gelangt sei. Dagegen lasse sich nicht feststellen, dass er mit der Verbringung des Opfers in sein Kraftfahrzeug auch bereits zum sexuellen Missbrauch eines Kindes nach § 176a StGB angesetzt habe. Ob der Beschluss überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Es gibt Situationen, in denen der Täter eine bestimmte Straftat begehen möchte, aus tatsächlichen Gründen den angestrebten Erfolg aber nicht verwirklichen kann. Der Tatverlauf ist vielmehr im Versuch „stecken geblieben“. Da der Täter jedoch auch in diesen Fällen durch sein Verhalten kriminelles Unrecht zum Ausdruck bringt, hat der Gesetzgeber es in bestimmten Fällen für erforderlich gehalten, die Strafbarkeit des Täters anzuordnen, obwohl es noch zu keiner Rechtsgutverletzung bzw. Tatvollendung gekommen ist (siehe R. Schmidt, StrafR AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 630). Da nicht jedes Verhalten im Vorfeld der eigentlichen Tatbegehung strafbar sein kann, andererseits aber zumindest dann, wenn die Rechtsgutverletzung unmittelbar bevorsteht, eine strafrechtliche Sanktionierung angebracht sein kann, hat der Gesetzgeber ein differenziertes System geschaffen. Grundgedanke ist, dass jede vorsätzliche Straftat verschiedene Etappen bis zu ihrem Abschluss durchläuft. So führt der Weg vom (1) Entschluss des Täters, eine bestimmte Straftat zu begehen, über (2) die Vorbereitungshandlung, (3) den Beginn der Ausführung (Versuch), (4) den Abschluss der Tatbestandshandlung und den Eintritt des Erfolgs (Vollendung) bis (5) hin zur Beendigung (vgl. u.a. Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, 48. Aufl. 2018, Rn. 839). Während der Tatentschluss für sich genommen straflos ist, verhält es sich bei den Vorbereitungshandlungen in bestimmten Fällen anders. Der Versuch, der sich nach § 22 StGB dadurch kennzeichnet, dass der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar ansetzt, ist hingegen strafrechtlich relevant: Handelt es sich bei der anvisierten Tat um ein Verbrechen, ist der Versuch stets strafbar (§ 23 I Halbs. 1 StGB). Hinsichtlich Vergehen ist der Versuch nur dann strafbar, wenn der betreffende Straftatbestand dies ausdrücklich anordnet (§ 23 I Halbs. 2 StGB). Ob eine Straftat ein Verbrechen oder ein Vergehen ist, richtet sich nach der abstrakt angedrohten Mindeststrafe (vgl. § 12 StGB).

Das zentrale Kriterium bei der Frage nach der Strafbarkeit des Versuchs formuliert § 22 StGB (s.o.). Diese Vorschrift kombiniert subjektive und objektive Elemente. Das subjektive Element ergibt sich aus der Formulierung: „nach seiner Vorstellung“ und das objektive aus „unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt“. Auf der Grundlage dieser gesetzlichen Ansatzformel und deren Anwendung durch die Rechtsprechung setzt der Täter unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung an, wenn sein Verhalten nach dem Gesamtplan zeitlich/räumlich so eng mit der tatbestandlichen Ausführungshandlung verknüpft ist, dass es bei ungestörtem Fortgang ohne längere Unterbrechung im Geschehensablauf unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestands führen soll (vgl. BGH NStZ 2019, 79; NStZ 2015, 207 f.; NJW 2014, 1463; NStZ 2014, 447, 448; NStZ 2013, 156, 157). Das Merkmal „unmittelbar“ wird vom BGH bisweilen auch mit „ohne (wesentliche) Zwischenakte in die Tatbestandsverwirklichung einmünden“ beschrieben. Denn oft liest man, dass ein Versuch vorliege, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht´s los“ überschreite und objektiv derart zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetze, dass sein Tun ohne (wesentliche) Zwischenakte in die Rechtsgutverletzung bzw. Erfüllung des Tatbestands übergehe (so eine Zusammenschau aus z.B. BGH NStZ 2019, 79; NStZ 2015, 207 f.; NJW 2014, 1463; NStZ 2013, 579; NStZ 2013, 156, 157; NStZ 2011, 400, 401; NStZ 2006, 331 f.; NJW 2002, 1057; NStZ 2001, 415; NStZ 2001, 475, 476; BGHSt 48, 34, 36 ff.; 37, 294, 297 f.; 26, 201, 203). Mit dieser „Zwischenaktformel“ versucht der BGH, den strafbaren Versuch von nicht strafbaren Vorbereitungshandlungen abzugrenzen, was insbesondere erforderlich wird, wenn objektiv noch keine Rechtsgutverletzung eingetreten ist bzw. der Täter noch kein objektives Tatbestandsmerkmal erfüllt hat (siehe dazu R. Schmidt, StrafR AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 672). Aber auch die Zwischenaktformel ist nicht stets geeignet, eine konturscharfe Abgrenzung zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuch zu ermöglichen. Das liegt insbesondere daran, dass der Begriff des (wesentlichen) Zwischenakts ebenso einer wertenden Betrachtung unterworfen ist. Jedenfalls liegt nach der genannten Rechtsprechung des BGH ein Versuch i.d.R. dann vor, wenn der Täter bereits mit der tatbestandlichen Ausführungshandlung begonnen bzw. ein Tatbestandsmerkmal erfüllt hat (Teilverwirklichung des Tatbestands). Diese (vermeintlich überzeugende) Lösung hat aber ihre Tücken, wie der vorliegend zu besprechende Fall BGH NStZ 2019, 79 zeigt. 

Sachverhalt (leicht abgewandelt, um das Problem zu fokussieren): T beabsichtigte, ein Kind zu vergewaltigen. Er ergriff in einem bewohnten Ortsteil die 13-jährige O, klebte ihr Klebeband auf den Mund und zerrte sie in sein Auto, um mit ihr zur Tatausführung an einen abgelegenen Ort zu fahren und dort die Tat zu vollziehen. Jedoch gelang es O, die Tür zu öffnen und aus dem Fahrzeug zu fliehen, als T im Begriff war, loszufahren.

Durch das beschriebene Verhalten könnte T sich wegen Versuchs einer sexuellen Nötigung in einem besonders schweren Fall gem. §§ 177 I, V Nr. 1, 22, 23 I, 12 I i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB strafbar gemacht haben. Daneben kommt eine Strafbarkeit wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gem. §§ 176a II Nr. 1 Var. 1, 22, 23 I, 12 I StGB in Betracht.

Strafbarkeit nach §§ 176a II Nr. 1 Var. 1, 22, 23 I, 12 I StGB
T beabsichtigte, mit O den Beischlaf zu vollziehen und damit den Tatbestand des § 176a II Nr. 1 Var. 1 StGB zu verwirklichen. Er müsste gem. § 22 StGB aber auch nach seiner Vorstellung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt haben, was nach ständiger Rechtsprechung des BGH der Fall ist, wenn das Täterverhalten ohne wesentliche Zwischenakte in die Rechtsgutverletzung bzw. Erfüllung des Tatbestands übergeht, jedenfalls aber dann, wenn der Täter ein Tatbestandsmerkmal erfüllt hat.

Ein Tatbestandsmerkmal des § 176a II Nr. 1 Var. 1 StGB hat T nicht erfüllt. Ein Versuch liegt daher nur vor, wenn T nach seiner Vorstellung unmittelbar zur Tat angesetzt hat. Hierzu hat der BGH entschieden, dass zum Zeitpunkt des Sichbemächtigens und Ins-Auto-Zerrens, um an einen abgelegenen Ort zu fahren, auch für T unklar gewesen sei, wo dieser Ort sein sollte und wie lange die Fahrt dorthin dauern würde. Denn T sei ortsfremd gewesen und ihm hätten Ortskenntnisse zur Umgebung des Ergreifungsortes gefehlt. Eine Strafbarkeit wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sei damit nicht gegeben (BGH NStZ 2019, 79).

Strafbarkeit nach §§ 177 I, V Nr. 1, 22, 23 I, 12 I i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB
Da T den beabsichtigten Beischlaf mit O auch gegen deren Willen vollziehen wollte, kommt auch eine versuchte sexuelle Nötigung in einem besonders schweren Fall gem. §§ 177 I, V Nr. 1, 22, 23 I, 12 I i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB in Betracht. Auch hier müsste T gem. § 22 StGB nach seiner Vorstellung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt haben, was – wie aufgezeigt – nach ständiger Rechtsprechung des BGH der Fall ist, wenn das Täterverhalten ohne wesentliche Zwischenakte in die Rechtsgutverletzung bzw. Erfüllung des Tatbestands übergeht, jedenfalls aber dann, wenn der Täter ein Tatbestandsmerkmal erfüllt hat.

T hat ein Tatbestandsmerkmal erfüllt; durch das Anbringen von Klebeband und das Zerren in den Pkw hat er Gewalt angewendet i.S.d. § 177 V Nr. 1 StGB. Demzufolge müsste er nach der vom BGH vertretenen Teilverwirklichungsregel wegen versuchter sexueller Nötigung in einem besonders schweren Fall gem. §§ 177 I, V Nr. 1, 22, 23 I, 12 I i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB strafbar sein.

Gleichwohl kommt der BGH zu einem anderen Ergebnis. T habe mit dem Einsatz von Gewalt bereits ein Tatbestandsmerkmal der sexuellen Nötigung nach § 177 StGB verwirklicht und sei jedenfalls insoweit in das Versuchsstadium gelangt (BGH NStZ 2019, 79). Danach ist T also wegen versuchter sexueller Nötigung in einem besonders schweren Fall gem. §§ 177 I, V Nr. 1, 22, 23 I, 12 I i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB strafbar.

Bewertung: Das erstaunt. Denn ebenso wie bei der Frage nach der Strafbarkeit wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ist bei der Frage nach dem Versuch einer sexuellen Nötigung in einem besonders schweren Fall unklar, welche wesentlichen Zwischenschritte zur Tatbestandsverwirklichung noch erforderlich gewesen wären (sehr kritisch auch Eidam, NStZ 2019, 79, 80). Zwar hat T durch das Anbringen von Klebeband und das Zerren in den Pkw Gewalt angewendet, wo und wann aber die Tat hätte ausgeführt werden können und welche Zwischenschritte noch erforderlich gewesen wären, war T zu diesem Zeitpunkt unklar. Die unterschiedliche Bewertung im Vergleich zur verneinten Strafbarkeit wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern überzeugt daher nicht, ist aber Ergebnis der Anwendung der Teilverwirklichungsregel (siehe Eidam, NStZ 2019, 79, 80). Ein Lösungsansatz, der solche Wertungswidersprüche vermeidet, bestünde darin, ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung – und damit einen Versuch – auch bei Verwirklichung eines einzelnen Tatbestandsmerkmals erst dann anzunehmen, wenn ein von der Strafnorm geschütztes Rechtsgut unmittelbar gefährdet ist. Bemächtigt sich also ein Täter eines Opfers, um dieses zu vergewaltigen, ist für den Täter zu diesem Zeitpunkt aber noch unklar, wo und wann die Tat ausgeführt werden könnte und welche Zwischenschritte noch erforderlich sind, liegt darin trotz Teilverwirklichung des Tatbestands noch kein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung des § 177 StGB.

Fazit: Die Feststellung, ob der Täter unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt hat oder sich noch im (straflosen) Vorbereitungsstadium bewegt, ist nicht immer klar möglich, weil das gesetzliche Kriterium der Unmittelbarkeit Raum zur wertenden Einzelfallbetrachtung lässt und auch die von der Rechtsprechung verwendete Zwischenaktformel und Teilverwirklichungsregel nur vermeintlich Klarheit schaffen. So ist insbesondere unklar, wann ein Zwischenakt „wesentlich“ sein soll und ob die Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals, das isoliert betrachtet überhaupt nicht zum geschützten Rechtsgut zählt, wirklich geeignet ist, die Annahme eines Versuchs zu begründen. Daher ist es nachvollziehbar, dass in der Abgrenzung strafbarer Versuch/straflose Vorbereitungshandlung regelmäßig der Schwerpunkt jeder Versuchsprüfung liegt. Der vom Verfasser vorgeschlagene Lösungsansatz, der solche Wertungswidersprüche vermeidet, besteht darin, ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung – und damit einen Versuch – auch bei Verwirklichung eines einzelnen Tatbestandsmerkmals erst dann anzunehmen, wenn ein von der Strafnorm geschütztes Rechtsgut unmittelbar gefährdet ist.

Rolf Schmidt (12.08.2019)






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