Aktuelles 2020 BND auch bei Auslandsaufklärung an Grundrechte des GG gebunden

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24.05.2020: BND auch bei Auslandsaufklärung an Grundrechte des Grundgesetzes gebunden

BVerfG, Urteil v. 19.05.2020 – 1 BvR 2835/17

Mit Urteil v. 19.05.2020 hat der 1. Senat des BVerfG entschieden, dass die Überwachung der Telekommunikation von Ausländern im Ausland durch den Bundesnachrichtendienst (BND) an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden ist und nach der derzeitigen Ausgestaltung der Ermächtigungsgrundlagen gegen das grundrechtliche Telekommunikationsgeheimnis (Art. 10 I GG) und die Pressefreiheit (Art. 5 I S. 2 GG) verstößt. Ob das Urteil angesichts der Notwendigkeit der strategischen Überwachung der Telekommunikation von Ausländern im Ausland überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

I. Sachverhalt: Mehrere, überwiegend ausländische Journalisten, die im Ausland über Menschenrechtsverletzungen in Krisengebieten oder autoritär regierten Staaten berichten, wandten sich mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen etliche Bestimmungen des Gesetzes über den Bundesnachrichtendienst (BNDG), konkret gegen die 2016 eingefügten (siehe dazu BT-Drs. 18/9041) Befugnisse zur strategischen Überwachung der Telekommunikation von Ausländern im Ausland durch den BND (§§ 6 ff. BNDG). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die strategische Fernmeldeaufklärung von Ausländern im Ausland vom Inland aus Erkenntnisse über internationale und übergeordnete, für die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland bedeutsame Themen gewinnen wie z.B. internationaler Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen, internationale organisierte  Kriminalität  sowie  politische  Lageentwicklung  in  bestimmten  Ländern (BT-Drs. 18/9041, S. 1). Durch die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung könne der BND ohne Zeitverzug aktuelle und authentische Informationen erlangen und damit besonders wichtige auftragsrelevante Erkenntnisse aus internationalen Datenströmen gewinnen (BT-Drs. 18/9041, S. 1). Dazu darf gem. § 6 I S. 1 BNDG der BND vom Inland aus mit technischen Mitteln Informationen einschließlich personenbezogener Daten aus Telekommunikationsnetzen, über die Telekommunikation von Ausländern im Ausland erfolgt (Telekommunikationsnetze), verarbeiten (Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung), wenn diese Daten erforderlich sind, um

1. frühzeitig Gefahren für die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland erkennen und diesen begegnen zu können,
2. die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu wahren oder
3. sonstige Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung über Vorgänge zu gewinnen (...).

Die Erhebung von Inhaltsdaten darf gem. § 6 II S. 1 BNDG dabei (nur) anhand von Suchbegriffen erfolgen. Konkrete Anlasstatbestände oder Verdachtsgrade nennt das BNDG indes nicht. Vielmehr genügt – bezogen auf die Kommunikation von Ausländern im Ausland – allein das allgemeine außen- und sicherheitspolitische Interesse zur Gewinnung von Anhaltspunkten für Gefahrenlagen (vgl. § 6 II S. 2 BNDG). Auf diese Weise erhobene Verkehrsdaten dürfen gem. § 6 VI S. 1 BNDG für höchstens sechs Monate gespeichert und (gem. § 6 VI S. 2 i.V.m. § 19 I BNDG) verarbeitet (und damit auch ausgewertet) werden. Insbesondere gegen diese Befugnisse richten sich die Verfassungsbeschwerden. Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung des ihnen zustehenden Telekommunikationsgeheimnisses (Art. 10 I GG) und der ihnen zustehenden Pressefreiheit (Art. 5 I S. 2 GG).

II. Problemaufriss: Wie anhand des Sachverhalts naheliegt, geht es nicht nur um Fragen der Grundrechtsverletzung, sondern bereits um die vorgelagerten Fragen, ob die Grundrechte des Grundgesetzes überhaupt auf Ausländer im Ausland anwendbar sind und ob sich die Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt (und damit auch des BND) aus Art. 1 III GG auch auf nicht-deutsche Territorien erstreckt.

III. Prüfungsgegenstand: Gegenstand des Urteils des BVerfG und der vorliegenden Darstellung sind sowohl die Erhebung und Verarbeitung der Daten von Ausländern im Ausland als auch die Übermittlung der hierdurch gewonnenen Daten an andere Stellen sowie die Kooperation mit anderen ausländischen Nachrichtendiensten (Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung bzw. „Ausland-Ausland-Telekommunikationsüberwachung“). Die Befugnisse des BND zur strategischen Überwachung der Telekommunikation, an der auf mindestens einer Seite Deutsche oder Inländer beteiligt sind (§§ 5 ff. des G-10-Gesetzes), waren nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem BVerfG.

IV. Grundrechtsprüfung: Zu prüfen gilt, ob die behaupteten Grundrechtsverletzungen bestehen. Zunächst wird geprüft, ob die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab überhaupt zur Verfügung stehen, denn das Verfassungsbeschwerdeverfahren betrifft die Telekommunikationsüberwachung durch den BND gegenüber Journalisten im Ausland. Wäre die Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte nach Art. 1 III GG auf das deutsche Staatsgebiet begrenzt, stünden die Grundrechte des Grundgesetzes nicht als Prüfungsmaßstab zur Verfügung. Bejaht man die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab, werden sodann die beanstandeten Vorschriften des BNDG am Maßstab des Art. 10 I GG geprüft, um schließlich zu untersuchen, inwieweit sie auch den Anforderungen des Art. 5 I S. 2 GG entsprechen.

1. Grundrechtsbindung des BND bei Auslandsaufklärung/Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes
Auf den ersten Blick erscheint es zweifelhaft, ob der BND an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden ist, sofern er außerhalb des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland Daten erhebt. Denn die Anwendbarkeit der Grundrechte als Bestandteil des Grundgesetzes kann ja nicht weiter reichen als die Anwendbarkeit des Grundgesetzes selbst. Von der Nichtgeltung der Grundrechte des Grundgesetzes bei Aufklärungsmaßnahmen im Ausland (ohne Involvierung von Deutschen oder Inländern) ging bislang wohl auch der Gesetzgeber aus, indem er Art. 10 I GG nicht als einschränkbares Grundrecht im BNDG zitiert. Dem ist das BVerfG nunmehr entgegengetreten. Art. 1 III GG begründe eine umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes. Einschränkende Anforderungen, die die Grundrechtsbindung von einem territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder der Ausübung spezifischer Hoheitsbefugnisse abhängig machten, ließen sich weder der Vorschrift selbst noch ihrer Entstehungsgeschichte oder systematischen Einbettung entnehmen. Dem grundgesetzlichen Anspruch eines umfassenden, den Menschen in den Mittelpunkt stellenden Grundrechtsschutzes entspreche es vielmehr, dass die Grundrechte als subjektive Rechte immer dann schützten, wenn der deutsche Staat handele und damit potentiell Schutzbedarf auslösen könne – unabhängig davon, an welchem Ort, gegenüber wem und in welcher Form. Das gelte jedenfalls für die Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber Überwachungsmaßnahmen, wie sie hier in Frage stünden (Rn. 89 des Urteils).

Ist also der BND auch bei Auslandsaufklärung an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden und stehen damit die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab zur Verfügung, gilt es nunmehr, die Vereinbarkeit der strategischen Fernmeldeaufklärung mit den Grundrechten des Grundgesetzes zu prüfen.

2. (Un-)Vereinbarkeit mit Art. 10 I GG
Zunächst könnte eine Verletzung des Art. 10 I GG vorliegen.
 
a. Schutzbereich
Art. 10 I GG schützt u.a. die Vertraulichkeit der Kommunikationsvorgänge und der Inhalte von individueller Telekommunikation. Das Grundrecht dient damit der Wahrung des Persönlichkeitsrechts, das sich durch einen privaten, vor der Öffentlichkeit verborgenen Austausch von Nachrichten, Gedanken und Meinungen kennzeichnet. Art. 10 I GG schützt in seiner Funktion als Abwehrrecht vor Eingriffen des Staates allgemein. Die öffentliche Gewalt soll grundsätzlich nicht die Möglichkeit haben, sich Kenntnis vom Inhalt des über Telekommunikationsanlagen abgewickelten mündlichen oder schriftlichen Informations- und Gedankenaustauschs zu verschaffen. Wird also die Telekommunikation der beschwerdeführenden Journalisten überwacht und werden Telekommunikationsinhalte gespeichert, ist Art. 10 I GG thematisch einschlägig. Der sachliche Schutzbereich ist eröffnet.
Die Beschwerdeführer, überwiegend ausländische Journalisten, die im Ausland über Menschenrechtsverletzungen in Krisengebieten oder autoritär regierten Staaten berichten, sind unabhängig davon, ob sie selbstständig oder für ausländische Insititutionen tätig sind, auch in persönlicher Hinsicht vom Schutzbereich erfasst.

b. Eingriff
Die angegriffenen Vorschriften des BNDG ermächtigen zur Erhebung personenbezogener Daten im Wege der heimlichen Telekommunikationsüberwachung und betreffen damit den Gewährleistungsgehalt des durch Art. 10 I GG geschützten Telekommunikationsgeheimnisses (Rn. 111 des Urteils). Ein Eingriff liegt vor.

c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Beschränkungen des Telekommunikationsgeheimnisses dürfen zunächst nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen, Art. 10 II S. 1 GG. Das BNDG ist ein Gesetz i.S.d. dieses Gesetzesvorbehalts.

Das einschränkende Gesetz muss zunächst formell verfassungsgemäß sein. Es muss unter Beachtung von Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorschriften zustande gekommen sein. Formelle Fehler können sich insbesondere in Bezug auf die Gesetzgebungskompetenz ergeben, weil Eingriffe in Art. 10 I GG sowohl der Gefahrenabwehr als auch der Strafverfolgung dienen können. Gefahrenabwehr ist – sofern keine Bundeskompetenz besteht (vgl. etwa Art. 73 I Nr. 9a GG) – Ländersache (vgl. Art. 30, 70 I GG), wohingegen Strafverfolgung der Bundesgesetzgebungskompetenz des Art. 74 I Nr. 1 GG (gerichtliches Verfahren) unterfällt. Auch Gesetze, die der Strafverfolgungsvorsorge dienen, sind dem Bereich der Strafverfolgung und damit der Bundesgesetzgebungskompetenz zuzuordnen.
Wie das BVerfG entschieden hat, können die Befugnisse zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung auf die Gesetzgebungskompetenz der „auswärtigen Angelegenheiten“ nach Art. 73 I Nr. 1 GG gestützt werden. Zwar eröffne die Bestimmung nicht die Aufklärung von Straftaten mit Auslandsbezug als solche. Dem BND könne auf dieser Kompetenzgrundlage aber nicht nur die Aufgabe einer politischen Unterrichtung der Bundesregierung, sondern auch die Früherkennung von aus dem Ausland drohenden Gefahren von internationaler Dimension als eigene, nicht operativ wahrzunehmende Aufgabe übertragen werden. Es müsse sich dabei um Gefahren handeln, die sich ihrer Art und ihrem Gewicht nach auf die Stellung der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft auswirken können und gerade in diesem Sinne von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung seien (Leitsatz 4 sowie Rn. 123-128 des Urteils).

Da das BNDG Art. 10 I GG als einschränkbares Grundrecht zwar in § 3 III BNDG zitiert (in Bezug auf die Eingriffsbefugnisse nach § 3 I und II BNDG), nicht aber in Bezug auf die Befugnisse nach § 6 BNDG, könnte insoweit ein Verstoß gegen das Zitiergebot aus Art. 19 I S. 2 GG vorliegen. Dazu müsste das Zitiergebot zunächst aber überhaupt gelten. Das BVerfG greift die Argumentation der Bundesregierung auf, wonach das Zitiergebot nicht gelte, wenn die betreffenden Vorschriften eine lange bestehende Verwaltungspraxis aufgriffen und nunmehr erstmals gesetzlich regelten, bzw. wenn das Gesetz geltende Grundrechtsbeschränkungen durch das bisherige Recht unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederhole (hier erfolgt der Verweis auf BVerfGE 35, 185, 188 f.). Sodann aber erteilt das BVerfG diesem Ansatz eine Absage. Das Zitiergebot sei gerade dann verletzt, wenn der Gesetzgeber ausgehend von einer bestimmten Auslegung des Schutzbereichs – wie hier der Annahme fehlender Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt bei im Ausland auf Ausländer wirkendem Handeln – die Grundrechte als nicht betroffen erachte. Denn dann fehle es am Bewusstsein des Gesetzgebers, zu Grundrechtseingriffen zu ermächtigen, und an dessen Willen, sich über deren Auswirkungen Rechenschaft abzulegen, was gerade Sinn des Zitiergebots sei (Rn. 135 des Urteils mit Verweis auf BVerfGE 85, 386, 404; 113, 348, 366; 129, 208, 236 f.). Zudem entziehe sich der Gesetzgeber einer öffentlichen Debatte, in der Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen zu klären seien (a.a.O. mit Verweis auf BVerfGE 85, 386, 403 f.; 129, 208, 236 f.).

Zwischenergebnis:
Liegt damit ein Verstoß gegen das Zitiergebot vor, sind die angegriffenen Regelungen des § 6 BNDG bereits formell verfassungswidrig.

Darüber hinaus ist zu prüfen, ob sie auch materiell verfassungswidrig sind. Bei der Prüfung der materiellen Verfassungskonformität sind – wie insbesondere aus der Formulierung „unverletzlich“ in Art. 10 I GG folgt – gerade bei heimlichen Maßnahmen wie der Telekommunikationsüberwachung besonders strenge Anforderungen an die Rechtmäßigkeit zu stellen. So muss – wie bei R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 746 ausgeführt  – die gesetzliche Grundlage, die zur Telekommunikationsüberwachung ermächtigt, einen Katalog von Anlasstatbeständen enthalten, die dem Schutz von überragend wichtigen Rechtsgütern dienen, sowie tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen eines solchen Anlasstatbestands fordern, um dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bereits auf Tatbestandsseite Konturen zu verleihen. Des Weiteren muss die Tat auch im Einzelfall schwer wiegen und die entsprechende Ermächtigung muss Vorkehrungen enthalten, um den Kernbereich privater Lebensgestaltung (auch nachgelagert) zu schützen. Schließlich sind angesichts der Schwere und Heimlichkeit der Maßnahme ein grundsätzlicher Richtervorbehalt sowie eine nachträgliche Unterrichtung des Betroffenen erforderlich. Auch ist dem Parlament in periodischen Abständen Bericht zu erstatten (siehe insgesamt dazu BVerfGE 129, 208, 241 ff.).

An der Normenklarheit und der erforderlichen Bestimmtheit des § 6 BNDG bestehen keine Bedenken. Das sieht auch das BVerfG so (Rn. 140 des Urteils). Jedoch beantstandet das BVerfG nicht, dass § 6 BNDG keine konkreten Anlasstatbestände enthält, sondern die Telekommunikationsüberwachung quasi verdachtslos zulässt, obwohl das Gericht in seinen Urteilen zur Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO (BVerfGE 129, 208, 242 f. – TKÜ-Neuregelung) und zu den Überwachungsmaßnahmen nach dem BKAG (BVerfGE 141, 220, 268 ff.) u.a. qualifizierte Gefahrenlagen und einen konkreten Kriterienkatalog verlangt.

So heißt es im Urteil zur TKÜ-Neuregelung: „Zudem werden die Anlasstaten, bei denen die Telekommunikationsüberwachung als Ermittlungsmaßnahme in Betracht kommt, nicht lediglich mittels abstrakter Kriterien definiert, sondern in einem Katalog einzeln benannt. Ferner bedarf es einer gesicherten Tatsachenbasis („bestimmte Tatsachen“) sowohl für die Annahme eines Tatverdachts als auch für die Erstreckung der Maßnahme auf Dritte als Nachrichtenmittler (vgl. BVerfGE 107, 299 [321 ff.]; 109, 279 [350 f.]; 113, 348 [373, 385 f.] zu § 100c Abs. 1 Nr.  3 StPO). Damit hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Überwachungsmaßnahme in grundsätzlich nachvollziehbarer Weise umschrieben (vgl. BVerfGE 110, 33 [54]).“

Und im BKAG-Urteil heißt es: „Dem genügt § 20g Abs. 1 Satz 1 Nr.  2 BKAG nicht. Zwar knüpft die Vorschrift an eine mögliche Begehung terroristischer Straftaten an. Die diesbezüglichen Prognoseanforderungen sind hierbei jedoch nicht hinreichend gehaltvoll ausgestaltet. Die Vorschrift schließt nicht aus, dass sich die Prognose allein auf allgemeine Erfahrungssätze stützt. Sie enthält weder die Anforderung, dass ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und absehbares Geschehen erkennbar sein muss, noch die alternative Anforderung, dass das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründen muss, dass sie in überschaubarer Zukunft terroristische Straftaten begeht. Damit gibt sie den Behörden und Gerichten keine hinreichend bestimmten Kriterien an die Hand (...)“ (BVerfGE 141, 220, 291).

Im vorliegend zu besprechenden Urteil behandelt das BVerfG das Fehlen von Anlasstatbeständen und eines Kriterienkatalogs im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das ist selbstverständlich vertretbar, irritiert aber, da das Gericht insbesondere im Urteil über die TKÜ-Neuregelung verlangt, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müsse bereits auf Tatbestandsseite Konturen verliehen werden. 

Unabhängig von dieser dogmatischen Ungereimtheit liegt der Fokus auf der Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Die Befugnisnormen müssten einen legitimen Zweck verfolgen, zur Erreichung des Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein (Rn. 141 des Urteils mit Verweis auf BVerfGE 67, 157, 173; 120, 378, 427; 141, 220, 265 Rn. 93).

Legitimer Zweck: Der mit einer gesetzlichen Regelung verfolgte Zweck ist legitim, wenn er auf das Wohl der Allgemeinheit gerichtet ist bzw. wenn ein öffentliches Interesse verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist (BVerfGE 124, 300, 331). Wie das BVerfG im vorliegenden Fall festgestellt hat, soll nach dem Willen des Gesetzgebers die strategische Überwachung Erkenntnisse über das Ausland verschaffen, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik seien. Sie solle damit dazu beitragen, frühzeitig Gefahren zu erkennen, die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik zu wahren und die Bundesregierung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen mit Informationen zu versorgen. Hierin liege ein legitimes Ziel.

Geeignetheit: Die Regelung des § 6 BNDG müsste auch geeignet sein. Geeignet ist die staatliche Maßnahme, wenn mit ihrer Hilfe das angestrebte Ziel erreicht werden kann (Vgl. nur BVerfGE 81, 156, 192; 96, 10, 21; 115, 276, 308; 126, 112, 144; 134, 204, 226; 141, 82, 100; BVerfG NVwZ 2017, 1111, 1123; BVerfG NJW 2018, 2109, 2111; BVerfG NJW 2018, 2542, 2543 f.; BVerfG NJW 2019, 827, 833; BVerfG NStZ-RR 2020, 104). Das BVerfG hat hinsichtlich der in Rede stehenden Regelung des § 6 BNDG entschieden, dass die strategische Telekommunikationsüberwachung geeignet sei, das mit ihr verfolgte legitime Ziel zu erreichen. Denn sie ermögliche es, an außen- und sicherheitspolitische Informationen zu gelangen. Dass hierbei in großem Umfang zunächst Daten miterfasst würden, die keinen relevanten Informationsgehalt hätten, ändere nichts daran, dass die gesamthafte Erfassung und Auswertung von Datenströmen im Ergebnis zu bedeutsamen Erkenntnissen führen könne.

Erforderlichkeit: Darüber hinaus müsste die angegriffene Regelung erforderlich sein. Das wäre der Fall, wenn kein gleich wirksames, aber für den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung stünde (BVerfG NJW 2018, 2109, 2112 mit Verweis auf BVerfGE 113, 167, 259; 135, 90, 118. Vgl. auch BVerfGE 30, 292, 316; 63, 88, 115; 77, 84, 109; 90, 145, 172; 100, 313, 375; 116, 202, 225; 145, 20, 80; BVerfG NJW 2019, 827, 830 f.). Nach Auffassung des BVerfG ist das bei § 6 BNDG der Fall: Ohne die breit angelegte anlasslose Erfassung von Datenströmen und deren Auswertung könnten entsprechende Informationen nicht gewonnen werden. Ein weniger eingriffsintensives Mittel, das generell vergleichbare Informationen gewährleistete, sei nicht ersichtlich. Die strategische Überwachung (genauer müsste es heißen: „Die gesetzliche Befugnis zur strategischen Überwachung“, denn es steht ja die Regelung des § 6 BNDG in Frage, nicht die konkrete Einzelmaßnahme) genüge den Anforderungen der Erforderlichkeit.

Angemessenheit: Schließlich müsste die Regelung des § 6 BNDG angemessen, d.h. verhältnismäßig i.e.S. sein. Das wäre der Fall, wenn der mit ihr verfolgte Zweck in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs steht (vgl. nur BVerfG NJW 2019, 1432, 1433; BVerfG NJW 2019, 827, 830; BVerfG NJW 2019, 584, 585; BVerfGE 117, 163, 182 f.; 133, 277, 322; BVerwG NJW 2018, 2067, 2070). Dabei gilt der Grundsatz: Je intensiver der Grundrechtseingriff ist, desto gewichtiger müssen die Gründe sein, um den Eingriff zu rechtfertigen. Im vorliegenden Fall stellt das BVerfG fest, dass es sich bei der strategischen Telekommunikationsüberwachung allein schon deshalb um ein Instrument von besonders schwerem Eingriffsgewicht handele, weil mit ihr heimlich in persönliche Kommunikationsbeziehungen eingedrungen werde, die oftmals privaten und unter Umständen auch höchstvertraulichen Charakter hätten. Zudem seien sie anlasslos möglich und die Befugnisnorm sei im Wesentlichen nur final (also nicht konditional) formuliert. Als anlasslose, im Wesentlichen nur final angeleitete und begrenzte Befugnis sei sie jedoch eine Ausnahmebefugnis, die auf die Auslandsaufklärung durch eine Behörde, welche selbst keine operativen Befugnisse habe, begrenzt bleiben müsse und nur durch deren besonderes Aufgabenprofil gerechtfertigt sei (Rn. 166 des Urteils). Das BVerfG stellt in den Leitsätzen 5-8 und ab Rn. 145 des Urteils folgende Anforderungen an die Vereinbarkeit mit Art. 10 I GG:

  • Erforderlich seien insbesondere Maßgaben zur Aussonderung der Telekommunikationsdaten von Deutschen und Inländern, eine Begrenzung der zu erhebenden Daten, die Festlegung qualifizierter Überwachungszwecke, die Strukturierung der Überwachung auf der Grundlage eigens festgelegter Maßnahmen, besondere Anforderungen an gezielt personenbezogene Überwachungsmaßnahmen, Grenzen für die bevorratende Speicherung von Verkehrsdaten, Rahmenbestimmungen zur Datenauswertung, Vorkehrungen zum Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen, die Gewährleistung eines Kernbereichsschutzes und Löschungspflichten (Rn. 169 ff. des Urteils).
  • Die Übermittlung personenbezogener Daten aus der strategischen Überwachung sei nur zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter zulässig und setze eine konkretisierte Gefahrenlage oder einen hinreichend konkretisierten Tatverdacht voraus. Ausgenommen seien hiervon Berichte an die Bundesregierung, soweit diese ausschließlich der politischen Information und Vorbereitung von Regierungsentscheidungen dienten (Rn. 211 des Urteils). Die Übermittlung setze eine förmliche Entscheidung des BND voraus und bedürfe der Protokollierung unter Nennung der einschlägigen Rechtsgrundlage. Gehe es um die Übermittlung an ausländische Stellen, sei vorher eine Vergewisserung über den rechtsstaatlichen Umgang mit den Daten geboten; hierbei bedürfe es einer auf die betroffene Person bezogenen Prüfung, wenn es Anhaltspunkte gebe, dass diese durch die Datenübermittlung spezifisch gefährdet werden könne (Rn. 231 ff. des Urteils).
  • Regelungen zur Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten genügten grundrechtlichen Anforderungen nur, wenn sie gewährleisteten, dass die rechtsstaatlichen Grenzen durch den gegenseitigen Austausch nicht überspielt würden und die Verantwortung des BND für die von ihm erhobenen und ausgewerteten Daten im Kern gewahrt bliebe (Rn. 237 ff. des Urteils). Wolle der BND von einem Partnerdienst bestimmte Suchbegriffe nutzen, um die Treffer ohne nähere inhaltliche Auswertung automatisiert an diesen zu übermitteln, erfordere dies eine sorgfältige Kontrolle dieser Suchbegriffe sowie der hieran anknüpfenden Trefferfälle. Die bei Auslandsübermittlungen geltenden Vergewisserungspflichten gölten entsprechend. Die gesamthafte Übermittlung von Verkehrsdaten an Partnerdienste setze einen qualifizierten Aufklärungsbedarf im Hinblick auf eine spezifisch konkretisierte Gefahrenlage voraus. Für den Umgang der Partnerdienste mit den übermittelten Daten seien gehaltvolle Zusagen einzuholen (Rn. 254 ff. des Urteils).
  • Die Befugnisse zur strategischen Überwachung, zur Übermittlung der mit ihr gewonnenen Erkenntnisse und zur diesbezüglichen Zusammenarbeit mit ausländischen Diensten seien (zudem) mit den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit nur vereinbar, wenn sie durch eine unabhängige objektivrechtliche Kontrolle flankiert seien. Sie sei als kontinuierliche Rechtskontrolle auszugestalten, die einen umfassenden Kontrollzugriff ermögliche (Rn. 272 des Urteils). Hierfür sei einerseits eine mit abschließenden Entscheidungsbefugnissen verbundene gerichtsähnliche Kontrolle zu gewährleisten, der die wesentlichen Verfahrensschritte der strategischen Überwachung unterlägen, sowie andererseits eine administrative Kontrolle, die eigeninitiativ stichprobenmäßig den gesamten Prozess der Überwachung auf seine Rechtmäßigkeit prüfen könne (Rn. 274 ff. des Urteils). Zu gewährleisten sei eine Kontrolle in institutioneller Eigenständigkeit. Hierzu gehörten ein eigenes Budget, eine eigene Personalhoheit sowie Verfahrensautonomie. Die Kontrollorgane seien personell wie sächlich so auszustatten, dass sie ihre Aufgaben wirksam wahrnehmen könnten. Sie müssten gegenüber dem Bundesnachrichtendienst alle für eine effektive Kontrolle erforderlichen Befugnisse haben. Dabei sei auch dafür Sorge zu tragen, dass die Kontrolle nicht durch die „Third Party Rule“ behindert werde (Rn. 292 des Urteils).
Das bedeutet: Trotz der hohen Eingriffsintensität bzgl. des Telekommunikationsgrundrechts aus Art. 10 I GG wäre eine gesetzliche Regelung unter Beachtung der Vorgaben des BVerfG verfassungskonform. Die angegriffenen Regelungen des BNDG werden diesen Vorgaben jedoch nicht gerecht und sind verfassungswidrig. Jedoch hat das BVerfG die betreffenden Regelungen nicht für nichtig erklärt (Rn. 329 f. des Urteils). Anderenfalls wäre eine strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung ab sofort nicht mehr möglich gewesen. Das wiederum wäre mit Blick auf das Sicherheitsbedürfnis der Bundesrepublik Deutschland nicht hinzunehmen. Daher hat das BVerfG die Vorschriften trotz ihrer Verfassungswidrigkeit nicht für nichtig erklärt, sondern ihre Fortgeltung bis zum 31.12.2021 angeordnet. Setzt also der Gesetzgeber die Vorgaben um, ist die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung mit Art. 10 I GG vereinbar.

3. (Un-)Vereinbarkeit mit Art. 5 I S. 2 GG
Auf die Frage nach der (Un-)Vereinbarkeit mit der Pressefreiheit aus Art. 5 I S. 2 GG geht das BVerfG immer nur beiläufig im Zusammenhang mit der Prüfung am Maßstab des Art. 10 I GG ein. Apodiktisch formuliert es, die angegriffenen Regelungen seien in formeller Hinsicht verfassungswidrig, weil sie gegen das Zitiergebot des Art. 19 I S. 2 GG verstießen (siehe Rn. 134 des Urteils) und auch nicht zentralen materiellen Anforderungen des Art. 5 I S. 2 GG (siehe etwa Rn. 86, 137 des Urteils) genügten. Lediglich Rn. 325 widmet es allein Art. 5 I S. 2 GG: „Die Vorschriften sind auch insoweit, als sie zu Überwachungsmaßnahmen gegenüber Journalisten ermächtigen und damit Eingriffe in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG begründen, mit der Verfassung unvereinbar, da sie den spezifischen Schutzbedürfnissen unabhängiger ausländischer Journalisten nicht angemessen Rechnung tragen (...).“ Methodisch korrekt hätte die Prüfung am Maßstab des Art. 5 I S. 2 GG aber eigenständig erfolgen müssen. Denn es handelt sich um zwei voneinander unabhängige Grundrechte, die unterschiedliche Schutzbereiche und Schrankenvorbehalte beinhalten sowie unterschiedliche Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung stellen. Eine verzahnte Prüfung ist – jedenfalls in der juristischen Ausbildung – nicht anerkannt, wenngleich sie der Rechtsprechung des BVerfG nicht fremd ist. Das ist insoweit nachvollziehbar, wenn man bedenkt, wie umfangreich die Urteile anderenfalls ausfallen würden und wie viele Redundanzen bzw. Verweise sie enthalten müssten.     

Rolf Schmidt (24.05.2020)



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