Aktuelles 2021 Verfassungskonformitaet der elektronischen Aufenthaltsueberwachung („elektronische Fußfessel“)

Beiträge 2021


09.02.2021: Verfassungskonformität der elektronischen Aufenthaltsüberwachung („elektronische Fußfessel“)


BVerfG, Beschluss v. 01.12.2020 – 2 BvR 916/11, 2 BvR 636/12


Mit dem genannten Beschluss hat der Zweite Senat des BVerfG entschieden, dass die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nach § 68b I S. 1 Nr. 12, S. 3 StGB i.V.m. § 463a IV StPO und deren Ausführung mit den Bestimmungen des Grundgesetzes vereinbar seien. Der Gesetzgeber sei jedoch verpflichtet, die spezialpräventiven Wirkungen und technischen Rahmenbedingungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung empirisch zu beobachten und das gesetzliche Regelungskonzept gegebenenfalls den dabei gewonnenen Erkenntnissen anzupassen. Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden, wobei besondere Aufmerksamkeit der unscheinbaren Formulierung: „Die materielle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung (...) ist am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen, da es an unionsrechtlichen Determinierungen fehlt“ gelten soll. Denn durch diese Formulierung scheint sich die vom Verfasser in seinem Beitrag v. 01.12.2019 vorgeschlagene vorangestellte „Anwendbarkeitsprüfung“ zu etablieren.


Dem Beschluss lagen folgende Sachverhalte zugrunde: Der Beschwerdeführer (BF) zu I. (Az. 2 BvR 916/11) („eine einfach strukturierte, sehr schnell erregbare, reizbare und leicht frustrierbare Persönlichkeit“) wurde wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren und sechs Monaten verurteilt. Er hatte das Opfer zunächst körperlich schwer misshandelt und zu sexuellen Handlungen (Geschlechtsverkehr und Oralverkehr) genötigt. Anschließend fügte er ihr Stichverletzungen mit einem Bajonett zu und ertränkte sie in einem See. Während der Strafhaft beging er Gefangenenmeutereien sowie eine Geiselnahme. Das vom Gericht eingeholte forensisch-psychiatrische Gutachten bescheinigte dem Beschwerdeführer eine schizoide autistisch-psychopathische Persönlichkeit. Es wurde eine schizoide autistisch-psychopathische Persönlichkeit diagnostiziert. Auffallend seien seine Gemütsarmut, Gefühlskälte, Unberechenbarkeit und Gnadenlosigkeit. Diese Eigenschaften würden ihn als schizoiden Psychopathen charakterisieren. Nach Verbüßung der Strafhaft wurde eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung geprüft, jedoch mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR für unzulässig erachtet. Stattdessen wurde Führungsaufsicht nach § 68f I S. 1 StGB für die Dauer von fünf Jahren angeordnet. Das zuständige Gericht unterstellte den Beschwerdeführer für diese Zeit der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers und erteilte ihm verschiedene Weisungen nach § 68b I S. 1 StGB. Dabei wurde der Beschwerdeführer u.a. angewiesen, einen festen Wohnsitz zu nehmen und den Kontakt zu drei namentlich benannten Personen zu meiden, und wurde zunächst polizeilich beobachtet. Dann aber wurde als weitere Weisung die elektronische Aufenthaltsüberwachung angeordnet. Er wurde angewiesen, für die Dauer der seitens der forensischen Ambulanz für notwendig erachteten Behandlungs- beziehungsweise Gesprächstermine, längstens jedoch für die Dauer der Führungsaufsicht, die für eine elektronische Überwachung seines Aufenthaltsortes erforderlichen technischen Mittel („elektronische Fußfessel“) ständig in betriebsbereitem Zustand bei sich zu führen und deren Funktionsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen. Der BF zu I. macht verschiedene Grundrechtsverletzungen geltend. Er rügt einen Verstoß gegen Art. 1 I GG, Art. 2 II S. 2 GG, Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG sowohl in seiner Ausprägung als informationelles Selbstbestimmungsrecht als auch in seiner Ausprägung als Resozialisierungsgebot, Art. 12 GG, Art. 103 II GG bzw. das allgemeine Vertrauensschutzgebot und Art. 19 I S. 2 GG (siehe Rn. 79 des Beschlusses).


Der BF zu II. (Az. 2 BvR 636/12) hatte zunächst seine frühere Freundin unter einem Vorwand in sein Auto gelockt, dort mit Handschellen gefesselt und dann mit ihr gegen ihren Willen den Geschlechtsverkehr ausgeübt, weshalb er zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Nach Entlassung aus der Haft lockte er eine schwangere Arbeitskollegin, die er am Tattag noch zu einem Vorsorgetermin gefahren hatte, in seine Wohnung, zwang sie auf ein Sofa und fesselte ihre Hände an eine Lampenhalterung. Anschließend übte er den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss aus, obwohl die Geschädigte ihn mehrfach gebeten hatte, mit Rücksicht auf die ihm bekannte Risikoschwangerschaft und wegen einer ärztlichen Weisung, zum Schutz des Kindes keinen Sexualverkehr zu haben, von ihr abzulassen. In einem anderen Fall fesselte er eine ihm bekannte, 15-jährige Jugendliche mit Handschellen und einer Wäscheleine an ein Couchgestell und führte gegen ihren Willen den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss durch. Über die folgenden vier Tage hielt er sie in einer Wohnung fest und zwang sie in weiteren vier Fällen zum ungeschützten Geschlechtsverkehr. Wegen dieser Taten wurde er zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Nach Haftentlassung wurden ihm u.a. die Weisungen erteilt, seinen Wohn- und Aufenthaltsort nicht länger als drei Tage ohne vorherige Abmeldung bei seinem Bewährungshelfer zu verlassen und sich nicht ohne vorherige Anmeldung bei seinem Bewährungshelfer in zwei bestimmte Gemeinden zu begeben oder dort aufzuhalten. Weiterhin wurde ihm die Weisung erteilt, keinen Kontakt zu vier namentlich benannten Frauen aufzunehmen. Er wurde angewiesen, für die Dauer der Führungsaufsicht die für eine elektronische Überwachung seines Aufenthaltsortes erforderlichen technischen Mittel ständig in betriebsbereitem Zustand bei sich zu führen und deren Funktionsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen. Auch der BF zu II. macht verschiedene Grundrechtsverletzungen geltend. Er rügt einen Verstoß gegen Art. 1 I GG und Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG sowohl in seiner Ausprägung als informationelles Selbstbestimmungsrecht als auch in seiner Ausprägung als Resozialisierungsgebot, Art. 12 GG, Art. 11 GG und Art. 2 II S. 2 GG sowie Art. 103 II GG bzw. das allgemeine Vertrauensschutzgebot und schließlich gegen Art. 19 I S. 2 GG durch die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung. Des Weiteren macht er das Fehlen der Gesetzgebungskompetenz des Bundes und eine unzulässige Privatisierung des Maßnahmenvollzugs geltend (siehe Rn. 99 des Beschlusses).


Im Folgenden gilt es, die geltend gemachten Verfassungsverstöße zu prüfen. Allerdings müsste zunächst der Prüfungsmaßstab geklärt werden. Denn sollte der Sachverhalt europarechtlich determiniert sein, könnte wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts der Sachverhalt am Maßstab des Unionsrechts (d.h. der EU-Grundrechtecharta) zu prüfen sein. Anlass zu dieser Annahme bietet die Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres). Diese Richtlinie regelt den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung und verfolgt eine Mindestharmonisierung innerhalb der Mitgliedstaaten beim Datenschutz auf den genannten Gebieten. Da die vorliegenden Sachverhalte ebendiese Gebiete betreffen, ist ein Unionsrechtsbezug evident, was die Notwendigkeit der Feststellung des Prüfungsmaßstabs erklärt. 

 
I. Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes

1. Anwendungsvorrang der Unionsgrundrechte

Dadurch, dass die Grundrechte der Grundrechtecharta der EU (GRC) integraler Bestandteil des primären Unionsrechts sind (siehe Art. 6 I EUV), sind sie im Rahmen des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta (siehe Art. 51 I GRC, wobei der EuGH den Anwendungsbereich der GRC über den Wortlaut des Art. 51 I GRC hinaus auf den Anwendungsbereich des Unionsrechts erstreckt, EuGH NJW 2013, 1415, 1416 – Åkerberg Fransson; danach reicht also der Anwendungsbereich der GRC so weit wie der des Unionsrechts) verbindliche und mit einem Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht (einschließlich der Grundrechte) versehene Rechtsquelle für Unionsbürger (EuGH Slg. 1964, 1251 ff.; vgl. auch EuGH Slg. 1970, 1125 ff. – Internationale Handelsgesellschaft, aufgegriffen in EuGH NJW 2013, 1215 ff. – Melloni; zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts und dessen Begründung siehe R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 9).


Das BVerfG geht ebenfalls von einem Anwendungsvorrang des Unionsrechts aus (BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht; bestätigt in BVerfGE 102, 147 ff. – Bananenmarktordnung, BVerfGE 126, 286, 302 – Honeywell bzw. Mangold und BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 – Identitätskontrolle) und misst Sachverhalte, die unionsrechtlich vollständig determiniert sind, ausschließlich am Maßstab der Unionsgrundrechte (BVerfG NVwZ 2020, 63, 66 – „Recht auf Vergessenwerden II“; jüngst BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung; siehe zur Problematik R. Schmidt, Grundrechte, 15. Aufl. 2020, Rn. 9f).


Anwendungsvorrang bedeutet nicht Geltungsvorrang. Die Grundrechtecharta lässt also die Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes unberührt. Bei Überlappung der Gewährleistungsbereiche gilt sogar die Schutzniveauklausel (Meistbegünstigungsklausel) des Art. 53 GRC, was nach der Rechtsprechung des EuGH aber nicht dazu führen darf, dass der Anwendungsvorrang der Grundrechtecharta unterlaufen wird (Siehe EuGH NJW 2013, 1215, 1216 f. – Melloni). Greift danach der Anwendungsvorrang der Unionsgrundrechte, bleiben die Grundrechte des Grundgesetzes nach der Rechtsprechung des BVerfG hinter den Unionsgrundrechten „ruhend in Kraft“ (BVerfG NVwZ 2020, 63, 66 – „Recht auf Vergessenwerden II“; bestätigt in BVerfG NJW 2020, 2699, 2703 – Bestandsdatenauskunft II und in BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 64 – Antiterrordateigesetz II). Den Grundrechten des Grundgesetzes komme insoweit eine Reservefunktion zu (BVerfG NVwZ 2020, 63, 66 – „Recht auf Vergessenwerden II“). Das führt zur Notwendigkeit einer Abgrenzung der Anwendungsbereiche und der Bestimmung des Prüfungsmaßstabs.

 

2. Bestimmung des Prüfungsmaßstabs anhand des Determinationsgrads

Weist also der Sachverhalt (d.h. der Prüfungsgegenstand) Unionsrechtsbezug auf, ist zu empfehlen, vor der eigentlichen Grundrechtsprüfung zu klären, ob Unionsgrundrechte oder Grundrechte des Grundgesetzes den Prüfungsmaßstab bilden (siehe R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn 222 ff.). Eine vorausgehende „Anwendbarkeitsprüfung“ scheint nunmehr auch beim BVerfG etabliert zu sein, siehe etwa BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung, wo es heißt: „Die materielle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung (...) ist am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen, da es an unionsrechtlichen Determinierungen fehlt“, was insbesondere am Determinationsgrad des Prüfungsgegenstands festzumachen ist (siehe zur Differenzierung auch Hoffmann, NVwZ 2020, 33, 34 f.):


  • Unionsrechtlich vollständig determinierte Regelungen des deutschen Rechts werden am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden. Zu den unionsrechtlich vollständig determinierenden Regelungen wird man etwa die betreffenden Regelungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zählen müssen (dann wären Prüfungsmaßstab von nationalen Maßnahmen die betreffenden Bestimmungen der DSGVO und letztlich Art. 7 und 8 GRC), aber auch das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 mit Verweis auf BVerfGE 140, 317, 343; 147, 364, 382). Auf Richtlinienebene sind vollharmonisierende Regelungen des zivilistischen Verbraucherschutzrechts zu nennen, etwa die Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU, die – im Übrigen nicht auf den Verbrauchsgüterkauf beschränkt – eine Vollharmonisierung auf EU-Ebene insbesondere im Fernabsatzrecht erreichen möchte (siehe Erwägungsgründe 2, 4, 5, 7 und 9 sowie Art. 4 der RL). Eine weitgehende Vollharmonisierung besteht auch hinsichtlich der Warenkaufrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/771), deren Zweck es ist, zum ordnungsgemäßen Funktionieren des (digitalen) Binnen­markts beizutragen und gleichzeitig für ein hohes Verbraucherschutzniveau zu sorgen (siehe Art. 1 der RL i.V.m. ihren Erwägungsgründen 1 und 3), und hinsichtlich der Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen (Richtlinie (EU) 2019/770), die gemeinsame Vorschriften für bestimmte Anforderungen an Verträge zwischen Unternehmern und Verbrauchern über die Bereitstellung digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen festlegt und in ihren Kernbereichen (wie die Warenkaufrichtlinie) eine weit reichende Vollharmonisierung vorsieht; abweichende nationale Be­stimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 4 der RL i.V.m. Erwägungsgrund 11; lediglich einzelne Materien wie die Verjährungsregelung sind einer abweichenden Regelung zugänglich, siehe Erwägungsgrund 58). Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit nationaler Regelungen werden danach also grundsätzlich am Maßstab der Unionsgrundrechte zu entscheiden sein.


  • Geht es um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht, ist dieses am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu prüfen, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Als Anwendungsfelder seien diejenigen Vorschriften der DSGVO genannt, die den Mitgliedstaaten Spielräume lassen, wie z.B. Art. 85 II DSGVO („Medienprivileg“) oder Art. 88 DSGVO in Bezug auf den Beschäftigtendatenschutz. Auch die „Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz“ (Richtlinie (EU) 2016/680) determiniert nicht vollständig das nationale Recht, da sie lediglich Mindeststandards setzt, den Mitgliedstaaten Spielräume lässt und Abweichungsbefug­nisse enthält. Des Weiteren ist § 6a ATDG zu nennen, der ebenfalls kein (zwingendes) Unionsrecht umsetzt, da die Richtlinie 2002/58/EG („ePrivacy“-Richtlinie), die Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres) und die Richtlinie (EU) 2017/541 (Terrorismusbekämpfungs-Richtlinie) nur Grundsätze und Mindeststandards festlegen (BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 65 ff. – Antiterrordateigesetz II). In diesen Fällen sind die Grundrechte des Grund­gesetzes nicht in ihrer Anwendung gesperrt und das BVerfG prüft innerstaatliches Recht, das der Durchführung von Unionsrecht dient, am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes (BVerfG NVwZ 2020, 53 ff. – „Recht auf Vergessenwerden I“; BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 65 – Antiterrordateigesetz II; siehe auch BVerfG NJW 2020, 2699, 2703 – Bestandsdatenauskunft II) und BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung, wobei das BVerfG nicht die Richtlinie (EU) 2016/680 erwähnt), freilich in richtlinienkonformer Auslegung, was bedeutet, dass die Unionsgrundrechte zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten sind.


  • Rein nationale Akte (die man gemäß dem zuvor Gesagten als „unionsrechtlich nicht determiniertes innerstaatliches Recht“ bezeichnen muss) sind von der vorstehenden Problematik nicht berührt. Für diese gelten von vornherein ausschließlich die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab (klarstellend BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 66 – Antiterrordateigesetz II).


Vordergründig scheint die Sache also unproblematisch zu sein: Unionsrechtlich vollständig determiniertes nationales Recht ist am Maßstab der Unionsgrundrechte zu prüfen; die Prüfung von nicht oder nicht vollständig unionsrechtlich determiniertem nationalem Recht erfolgt am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Ob aber das betreffende Unionsrecht das nationale Recht vollständig determiniert oder diesem Spielräume bzw. Abweichungsbefugnisse lässt, ist – bei unklarem Wortlaut – letztlich durch Auslegung (in der Praxis freilich durch den EuGH) am Maßstab des EU-Primärrechts zu ermitteln. Im Extremfall kann es sogar sein, dass ein Teil einer Vorschrift des Sekundärrechts das nationale Recht vollständig determiniert und ein anderer Teil derselben Vorschrift dem Mitgliedstaat Spielräume bzw. Abweichungsbefugnisse lässt. Die daraus resultierende Folge ist so vorhersehbar wie ambivalent: Der eine Teil der Vorschrift muss sich an Unionsgrundrechten messen lassen, der andere Teil an den nationalen Grundrechten. Wenn sich wenigstens noch sagen ließe, in den meisten Fällen sei das jeweilige Schutzniveau (Grundrecht des Grundgesetzes, Grundrecht der EU-Grundrechtecharta) vergleichbar, sodass sich die gespaltene Prüfung materiell-rechtlich im Ergebnis nicht auswirke. Dem ist aber nicht so, da sich die Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen von Grundrechten der GRC im Hinblick auf die Gewichtung öffentlicher Interessen oder auf die Verarbeitung von Wertungskonflikten bei Grundrechtskollisionen sowie auf die Prüfungsdichte (d.h. die Dichte gerichtlicher Kontrolle von staatlichen Maßnahmen am Maßstab der Grundrechte) von den Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen von Grundrechten des Grundgesetzes unterscheiden (BVerfG NVwZ 2020, 63, 64 ff. – „Recht auf Vergessenwerden II“; siehe auch BVerfG NVwZ 2020, 857, 862 f. – Anleihenkauf der EZB, wo das BVerfG formuliert, dass zwar auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein allgemeiner, in Art. 5 I S. 2 und IV EUV kodifizierter Rechtsgrundsatz des Unionsrechts sei, der seine Wurzeln im Common Law und v.a. im deutschen Recht habe, und dass auch in der Rechtsprechung des EuGH die Begriffe „geeignet“, „erforderlich“ oder „notwendig“ oftmals den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kennzeichneten; jedoch sei damit keine vollständige Übereinstimmung mit deutscher Terminologie und Dogmatik verbunden). Daher wird man in der Rechtsanwendung nicht umhinkommen, in der Grundrechtsprüfung zunächst eine (umfangreiche) Anwendbarkeitsprüfung voranzustellen, denn es muss ja der Prüfungsmaßstab feststehen. Ist demnach ein Grundrecht der EU-Grundrechtecharta anwendbar, muss man folgerichtig auch die hier hierzu ergangene Rechtsprechung des EuGH beachten. Und da das BVerfG den Anwendungsvorrang des Unionsrechts davon abhängig macht, dass die Union die ihr übertragenen Kompetenzen nicht überschritten hat (das BVerfG betont, dass Rechtsakte von Organen der EU, die ersichtlich die ihnen eingeräumten Handlungsbefugnisse überschritten, für deutsche Stellen nicht verbindlich seien und daher auch keinen Anwendungsvorrang gegenüber nationalem (Verfassungs-)Recht begründen könnten, vgl. BVerfGE 126, 286, 302 – Honeywell bzw. Mangold; BVerfG NJW 2019, 3204, 3206 ff. – Europäische Bankenunion; BVerfG NVwZ 2020, 857, 860 – Anleihenkaufprogramm der EZB), wird man darüber hinaus prüfen müssen, ob ein solcher „ausbrechender“ Akt („Ultra-vires-Akt“) vorliegt (siehe dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 21. Aufl. 2020, Rn. 357e ff.). Freilich wird man Kompetenzgemäßheit und Determinationsgrad nur durch eine mehr oder weniger umfangreiche materielle Prüfung des Unionsrechts feststellen können, was zu einer extremen „Kopflastigkeit“ der Prüfung führen kann/muss. Sie ist aber notwendig, um den Prüfungsmaßstab feststellen zu können.

Anwendungsgebiete werden nicht nur Umweltschutzbestimmungen bieten, sondern auch Datenschutz- und Verbraucherschutzbestimmungen, ist die EU bekanntermaßen ja sehr aktiv auf diesen Gebieten. Virulent wird dies bei den bereits erwähnten Richtlinien (EU) 2019/771 (Warenkaufrichtlinie – WKRL) und (EU) 2019/770 (Digitale-Inhalte-Richt­linie – DIRL). Beide sehen eine weit reichende Vollharmonisierung vor; abweichende nationale Bestimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 1 WKRL i.V.m. ihren Erwägungsgründen 1 und 3 und Art. 4 DIRL i.V.m. deren Erwägungsgrund 11). Auch das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ist vollständig unionsrechtlich determiniert (BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 mit Verweis auf BVerfGE 140, 317, 343; 147, 364, 382). Nationale Umsetzungsakte werden also unionsrechtlich vollständig determiniertes Recht darstellen mit der Folge, dass Streitigkeiten über deren Rechtmäßigkeit am Maßstab der Unionsgrundrechte zu entscheiden sein werden.


Im vorliegenden Fall hat das BVerfG festgestellt, dass die materielle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen sei, da es an unionsrechtlichen Determinierungen fehle. Das ist insofern zumindest ungenau, da der Sachverhalt sehr wohl unionsrechtlich determiniert ist. Denn es greift die Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres). Diese Richtlinie regelt den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung und verfolgt eine Mindestharmonisierung innerhalb der Mitgliedstaaten beim Datenschutz auf den genannten Gebieten. Damit besteht sehr wohl ein unionsrechtlicher Determinationsgrad, der allerdings nicht vollständig und abschließend wirkt, weshalb aus diesem Grund die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab zur Verfügung stehen.       

In der
Fallbearbeitung kann man u.a. auf die Konstellation treffen, in der sich der Kläger durch einen unionsrechtlich nicht vollständig determinierten innerstaatlichen Rechtsakt in seinen Grundrechten des Grundgesetzes verletzt sieht und hiergegen vor dem zuständigen deutschen Verwaltungsgericht klagt. Dann prüft das Verwaltungsgericht den angegriffenen Akt am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, freilich in europarechtskonformer Auslegung. Es kann aber auch vorkommen, dass sich ein Bürger gegen einen Akt einer deutschen staatlichen Stelle wendet, die vollvereinheitlichtes Unionsrecht (wie z.B. Aspekte des Datenschutzrechts) anwendet. Da ihm in diesem Fall nicht die Direktklage vor dem EuGH offensteht (siehe Art. 263 IV AEUV, der von Handlungen und Rechtsakten der Union ausgeht), kommen nur der nationale Rechtsweg und – nach dessen Erschöpfung – Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG in Betracht. Hierbei ist dann das bei R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 9f erläuterte Problem zu lösen, dass dem BVerfG an sich nur das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab offensteht, vorliegend es sich jedoch um vollvereinheitlichtes Unionsrecht handelt (das lediglich von nationalen Stellen angewendet wird). Während das BVerfG in diesem Fall eine Überprüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte vornimmt (weil die Grundrechte des Grundgesetzes nicht anwendbar seien) (BVerfG NVwZ 2020, 63, 64 ff. – „Recht auf Vergessenwerden II“), sind nach der hier vertretenen Auffassung die Grundrechte des Grundgesetzes sehr wohl anwendbar. Nach dem hier vertretenen Standpunkt stehen die Unionsgrundrechte – wie sich aus Art. 23 und 93 GG ergibt – dem BVerfG in keinem Fall als Prüfungsmaßstab zur Verfügung. Da aber die Individualverfassungsbeschwerde zu den in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätzen (hier: Demokratie und Rechtsstaat) und damit zur „Verfassungsidentität“ gehört, kann das BVerfG staatliche Maßnahmen – auch wenn sie vollvereinheitlichtes Unionsrecht anwenden – am Maßstab des Grundgesetzes prüfen. Man wird sogar sagen müssen: Lässt das Unionsrecht Rechtsschutzlücken, kann es insoweit auch keinen Anwendungsvorrang für sich beanspruchen. Kann also ein Verstoß gegen Unionsgrundrechte nicht vom EuGH geprüft werden, bleibt es bei der Anwendung der nationalen Gerichtsbarkeit, freilich mit den nationalen Grundrechten als Prüfungsmaßstab. Auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen, heißt das: Das BVerfG prüft unionsrechtlich determinierte Akte deutscher öffentlicher Gewalt am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Die vom BVerfG mit Blick auf Art. 23 I GG postulierte „Integrationsverantwortung“ vermag sich nicht über Art. 93 GG hinwegzusetzen, der das Grundgesetz als dem BVerfG zur Verfügung stehenden Prüfungsmaßstab vorgibt (siehe bereits den Beitrag des Verfassers vom 1.12.2019).

Auf der Basis der soeben gemachten Ausführungen ergibt sich hinsichtlich der Feststellung des Prüfungsmaßstabs (Grundrechte des Grundgesetzes oder der Grundrechtecharta) folgendes Prüfungsschema:

1. Feststellung, ob Maßnahme des nationalen Rechts Unionsrechtsbezug hat
Zunächst ist festzustellen, ob der Prüfungsgegenstand Unionsrechtsbezug hat. Ist das nicht der Fall, sind von vornherein die Grundrechte des Grundgesetzes Prüfungsmaßstab.
 

2. Bei Unionsrechtsbezug: Prüfung des Determinationsgrads

Weist die Maßnahme des nationalen Rechts aber Unionsrechtsbezug auf, ist zu prüfen, ob der fragliche Akt deutscher öffentlicher Gewalt


  • eine unionsrechtlich vollständig determinierte Regelung umsetzt
  • oder lediglich unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht darstellt.


Ausschließlich unionsrechtlich vollständig vereinheitlichte Akte deutscher Stellen werden am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden (so in den Fällen BVerfG NVwZ 2020, 63 – „Recht auf Vergessenwerden II“; BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 – Europäischer Haftbefehl; BGH NJW 2020, 3436 – Löschungsanspruch ggü Google). Im Übrigen greifen die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab, freilich in europarechtskonformer Auslegung, sofern unionsrechtlich beeinflusst (so in den Fällen BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 – Antiterrordateigesetz II; BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung). Welche der genannten Konstellationen vorliegt, ist mitunter anhand einer um­fangreichen Prüfung des Unionsrechts zu ermitteln und (in der Praxis) ggf. durch Vorabentscheidung des EuGH (Art. 267 AEUV) zu klären.


3. Prüfung der Maßnahme am Maßstab des anwendbaren Grundrechts
Steht demnach der Prüfungsmaßstab fest, ist die staatliche Maßnahme am Maßstab des auf den Sachverhalt anwendbaren Grundrechts zu prüfen.


  • So gelten für die Prüfung der fraglichen staatlichen Maßnahme am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes die allgemeinen Grundrechtslehren, die spezifischen grundrechtlichen Anforderungen und auch die übrigen vom BVerfG entwickelten Grundsätze. Ggf. sind eine unionsrechtskonforme und konventionskonforme Auslegung erforderlich.
  • Für die Prüfung der fraglichen staatlichen Maßnahme am Maßstab der Unionsgrundrechte gelten die allgemeinen Grundrechtslehren, die spezifischen grundrechtlichen Anforderungen und auch die übrigen vom EuGH entwickelten Grundsätze. Diese können, müssen aber nicht identisch sein mit denen einer Grundrechtsprüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Ggf. ist (wegen der Kongruenz- bzw. Konvergenzklausel des Art. 52 III S. 1 GRC, wonach Rechte der GRC, die den in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden) eine konventionskonforme Auslegung erforderlich. 


Die Folgen des genannten Anwendungsvorrangs der Grundrechtecharta und der Rechtsprechung des BVerfG zeigen sich bereits jetzt überaus deutlich: Unionsrechtlich vollständig vereinheitlichte Regelungen und damit auch vollharmonisierende Regelungen des sekundären Unionsrechts führen dazu, als alleinigen Prüfungsmaßstab für Akte nationaler Stellen das Unionsrecht anzunehmen.


Das sieht auch der BGH so (BGH NJW 2020, 3436, 3437 ff.), der im Rahmen geltend gemachter Löschungsansprüche ggü Google Einzelfallprüfungen ausschließlich am Maßstab der widerstreitenden Grundrechte der GRC vornimmt. Um im Fall BVerfG NVwZ 2020, 63 („Recht auf Vergessenwerden II“) heißt es: „Der von der Bf. im Ausgangsverfahren verfolgte Anspruch auf Auslistung betrifft Fragen des unionsweit abschließend vereinheitlichten Datenschutzrechts. (...). Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich; das Unionsrecht hat hier gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes Anwendungsvorrang“. Ebenso im Fall BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 (Europäischer Haftbefehl): „Das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ist vollständig unionsrechtlich determiniert (...). Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern die Unionsgrundrechte maßgeblich (vgl. BVerfGE 152, 216, 233 ff.). Die Nichtanwendung der deutschen Grundrechte als unmittelbarer Kontrollmaßstab beruht auf der Anerkennung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts.“

 

Die Grundrechte des Grundgesetzes werden insoweit an Bedeutung verlieren und als Prüfungsmaßstab nur in Fällen zur Verfügung stehen, in denen es um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht bzw. um rein innerstaatliches Recht geht.


So heißt es in BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 63 (Antiterrordateigesetz II), dass die Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes eröffnet sei, da § 6a ATDG kein zwingendes Unionsrecht in deutsches Recht umsetze. Ähnlich BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 (elektronische Aufenthaltsüberwachung), wo das BVerfG erneut deutlich macht, dass der Beschwerdegegenstand am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen sei, da es an unionsrechtlichen Determinierungen fehle. Daraus folgt im Umkehrschluss: Setzt eine Norm des nationalen Rechts zwingendes Unionsrecht um, stehen die Grundrechte des Grundgesetzes nicht als Prüfungsmaßstab zur Verfügung.


Um den Prüfungsmaßstab festzustellen, ist in Fällen mit Unionsrechtsbezug eine der Grundrechtsprüfung vorgelagerte „Anwendbarkeitsprüfung“ (Feststellung des Determinationsgrads) vorzunehmen, wie dies oben aufgezeigt wurde. Auch in der Rechtsprechung des BVerfG ist die Tendenz erkennbar, im Rahmen einer „Vorabprüfung“ („Anwendbarkeitsprüfung“) den Prüfungsmaßstab (Grundrechte der Grundrechtecharta oder Grundrechte des Grundgesetzes) festzustellen, sofern der Sachverhalt Unionsrechtsbezug aufweist (siehe etwa BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung, wo es heißt: „Die materielle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung (...) ist am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen, da es an unionsrechtlichen Determinierungen fehlt“). Diese Vorgehensweise wird man daher auch bei der Bearbeitung von Grundrechtsfällen im juristischen Studium empfehlen müssen, weshalb sich folgendes Prüfschema empfiehlt:


3. Allgemeine Grundrechtsprüfung am Maßstab des Grundgesetzes

Kommen danach die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab in Betracht, wird die Prüfung nach folgendem Schema vorgeschlagen:


a. Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes
Weist (wie vorliegend) der Sachverhalt (d.h. der Prüfungsgegenstand) Unionsrechtsbezug auf, ist vor der eigentlichen Grundrechtsprüfung festzustellen, ob die Grundrechte des Grundgesetzes überhaupt Prüfungsmaßstab sind. Denn Sachverhalte, die unionsrechtlich vollständig determiniert sind, sind nach der insoweit zutreffenden Rechtsprechung des BVerfG ausschließlich am Maßstab der Unionsgrundrechte zu messen. Die Grundrechte des GG sind dann nicht anwendbar (zum Prüfungsschema bzgl. der Unionsgrundrechte siehe R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 222g).


b. Grundrechtsprüfung
aa. Schutzbereich des Grundrechts

Der sachliche und personale Schutzbereich ist durch Auslegung i.S. einer Verfassungsinterpretation zu ermitteln. Die Auslegung erfolgt mit Hilfe der anerkannten Auslegungsmethoden, in erster Linie aus dem Wortlaut und der systematischen Stellung des Grundrechts. Dabei sind die im Verfassungstext vorgesehenen sachlichen (z.B. Beschränkung auf Friedlichkeit bei Art. 8 I GG) und personalen Begrenzungen (z.B. Beschränkung auf Deutsche bei Art. 8 I, 12 I, 9 I oder 11 I GG) zu berücksichtigen. Weiterhin muss die Möglichkeit berücksichtigt werden, extrem sozialschädliche Verhaltensweisen auch dann aus dem Schutzbereich herauszuhalten, wenn der Verfassungstext diesbezüglich keine sachliche Schutzbereichsbegrenzung vornimmt (sog. verfassungsunmittelbare Schutzbereichsbegrenzung).

bb. Eingriff in den Schutzbereich
Ist der Schutzbereich eröffnet, muss als Nächstes der Eingriff in denselben geprüft werden. Zu beachten ist jedoch, dass nicht jede belastende Maßnahme einen Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts darstellt. So werden sog. Bagatelleingriffe nicht erfasst (daher stellt z.B. das bloße Streifegehen von Polizisten auf öffentlichen Verkehrsflächen keinen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG dar). Darüber hinaus ist ein Eingriff zu verneinen, wenn der Betroffene wirksam auf das Grundrecht verzichtet hat. Ein Grundrechtsverzicht liegt vor, wenn der Betroffene rechtlich bindend auf den Schutz des betreffenden Grundrechts verzichtet hat. Kommt einer staatlichen Maßnahme aber eine Eingriffsqualität zu, ist ggf. die Art des möglichen Eingriffs (direkter oder indirekter Eingriff) zu untersuchen: Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff immer dann vor, wenn ein Rechtsakt final und unmittelbar freiheitsverkürzend in die Rechtssphäre des Bürgers eingreift (sog. enger Eingriffsbegriff, der auf die Imperativität des staatlichen Handelns abstellt). Aber auch bei faktisch-mittelbaren Maßnahmen kann ein Eingriff vorliegen (sog. weiter Eingriffsbegriff). Voraussetzung ist aber wegen der Unüberschaubarkeit und Vielgestaltigkeit von Neben- und Folgewirkungen, dass die Belastung von einiger Intensität ist.

cc. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Ein Grundrecht ist verletzt, wenn der Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. Dazu muss zunächst die durch das betreffende Grundrecht eröffnete Einschränkbarkeit (Ausgestaltungs- bzw. Regelungsvorbehalt; einfacher oder qualifizierter Gesetzesvorbehalt etc.) geklärt werden (dazu R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 154 ff.). Ist das Grundrecht einschränkbar und liegt eine entsprechende Grundrechtsschranke vor (z.B. ein förmliches Gesetz), muss diese Schranke ihrerseits verfassungsmäßig sein, insb. den formellen Anforderungen (Beachtung von Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorschriften) und den materiellen Anforderungen (insb. Beachtung des Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) entsprechen (sog. Schranken-Schranken). Vgl. dazu das Prüfungsschema bei R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 168 sowie die Ausführungen bei R. Schmidt, a.a.O. Rn. 169 ff. Im Anwendungsbereich der EMRK ist zudem eine konventionskonforme Auslegung vorzunehmen. Nach Prüfung der Verfassungsmäßigkeit (und der Konventionskonformität) des Gesetzes folgt i.d.R. die Prüfung des Einzelakts (sofern vorhanden).


II. Prüfung der staatlichen Maßnahme (hier: die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung) am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes

Sind die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung unionsrechtlich nicht vollständig determiniert, da die Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres lediglich eine Mindestharmonisierung innerhalb der Mitgliedstaaten beim Datenschutz auf den genannten Gebieten bezweckt, stehen die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab zur Verfügung (auf den nicht gegebenen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot soll nicht weiter eingegangen werden).


1. Menschenwürde (Art. 1 I GG)

Auf die Menschenwürde kann sich jemand berufen, dem in menschenverachtender Weise seine Menschqualität abgesprochen und der zum Objekt eines beliebigen Verhaltens erniedrigt bzw. zu einer vertretbaren Größe herabgewürdigt wird (allg. Auffassung). Freilich sind die Bestimmung der Menschenwürde und der Eingriff nach dieser vagen Formulierung nicht unproblematisch. Jedoch haben sich im Laufe der Zeit bestimmte Fallgruppen herausgebildet, anhand derer sich der Schutzbereich bestimmen lässt. Art. 1 I GG (ggf. i.V.m. Art. 2 I GG) bietet demnach bspw. Schutz vor einer Rundumüberwachung und einem Zwang, an der eigenen Strafverfolgung mitzuwirken (siehe BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 189 f.). Bei der elektronischen Aufenthaltsüberwachung („elektronische Fußfessel“) hat das BVerfG jedoch zu Recht keinen Eingriff in die Menschenwürde angenommen, weil die Betroffenen nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht würden (Rn. 238-251 des Beschlusses).


2. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG)

Von Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG umfasst ist auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Einzelne soll grds. selbst entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Sachverhalte (genauer: personenbezogene Daten) erhoben und hieraus gewonnene Daten verwendet werden (st. Rspr. seit BVerfGE 65, 1, 43 – Volkszählung; vgl. aus jüngerer Zeit bspw. BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 71 – Antiterrordateigesetz II; BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 198 – elektronische Aufenthaltsüberwachung). In seiner Funktion als Leistungsrecht gewährt Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG bspw. einen Anspruch eines Täters auf Resozialisierung, d.h. die Chance darauf zu erhalten, sich nach Verbüßung der Strafe in die Gesellschaft wieder einzuordnen und keiner sozialen Isolierung und Stigmatisierung ausgesetzt zu sein (BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn 194/197 – elektronische Aufenthaltsüberwachung). Für den vorliegenden Fall hat das BVerfG entschieden, dass sich die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung als Konkretisierung der verfassungsmäßigen Ordnung darstelle. Sie trage den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Bestimmtheit und Normenklarheit sowie der Verhältnismäßigkeit Rechnung und verstoße weder gegen das Resozialisierungsgebot noch gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Auch liege keine unzulässige Privatisierung staatlicher Aufgaben vor, da die vorliegende Ausgestaltung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung keine Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf Private beinhalte (Rn. 252-314 des Beschlusses).


3. Körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II S. 1 Var. 2 GG)

Obwohl von den Beschwerdeführern nicht gerügt, prüft das BVerfG die Vereinbarkeit der gesetzlichen Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und von deren Anwendung mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es stellt jedoch nach relativ kurzer Prüfung fest, es sei nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen, dass die elektronische Aufenthaltsüberwachung zu Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität führe. Es fehle an hinreichenden Anhaltspunkten, dass das ordnungsgemäße Anlegen und Tragen der „elektronischen Fußfessel“ gesundheitsschädliche oder sonstige mit körperlichen Schmerzen vergleichbare Auswirkungen habe. Allenfalls handele es sich um geringfügige Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Da dieses Recht gemäß Art. 2 II S. 3 GG einem Gesetzesvorbehalt unterliege, wären diese Grundrechtseingriffe aus den zu Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG dargelegten Gründen jedenfalls gerechtfertigt (Rn. 315-323 des Beschlusses).


4. Freizügigkeit (Art. 11 I GG)
Art. 11 I GG garantiert die Freizügigkeit aller Deutschen (wegen Art. 18 AEUV ist eine Erweiterung des Schutzes auch auf andere EU-Bürger erforderlich). Freizügigkeit ist das Recht, unbeschränkt durch die deutsche Staatsgewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen und auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen (BVerfGE 2, 266, 273 ff. – Notaufnahmegesetz; 80, 137, 150 – Reiten im Wald; 110, 177, 190 – Spät­aussiedler; 134, 242, 323 f. – Braunkohletageabbau Garzweiler; BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn 223 – elektronische Aufenthaltsüberwachung). Das BVerfG hat entschieden, dass die Weisung (von der gesetzlichen Regelung des § 68b I S. 1 Nr. 12 StGB ist hier nicht die Rede) zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung Art. 11 I GG nicht tangiere. Die Betroffenen seien allein durch die Überwachungsweisung nicht gehindert, den räumlichen Schwerpunkt ihres Lebens innerhalb des Bundesgebiets frei zu bestimmen oder zu ändern. Auch, wenn die Betroffenen aufgrund der elektronischen Fußfessel gehindert seien, Flugreisen zu unternehmen, tangiere dies nicht Art. 11 I GG, da der Regelungsgehalt von Art. 11 I GG auch bei einer Änderung des Lebensmittelpunkts die Wahl des Beförderungsmittels nicht umfasse (Rn. 324 des Beschlusses).


5. Berufsfreiheit (Art. 12 I GG)
Das Grundrecht auf Berufsfreiheit gewährleistet den Schutz der wirtschaftlichen Entfaltung der Persönlichkeit. Zutreffend hat das BVerfG einen Eingriff in Art. 12 I GG verneint. Weder liege eine unmittelbar auf die Berufstätigkeit bezogene Maßnahme vor, noch sei eine objektiv berufsregelnde Tendenz gegeben. Die Regelung des § 68b I S. 1 Nr. 12 StGB betreffe die Berufsausübung nicht in einem Umfang, der die Annahme einer objektiv berufsregelnden Tendenz begründe (Rn. 325-329 des Beschlusses).


6. Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 I GG)
Art. 13 I GG schützt die Ausübung der Privat- und Intimsphäre im räumlichen Bereich und ist damit besonderer Ausdruck sowohl des Persönlichkeitsrechts als auch der Menschenwürde (siehe nur BVerfG NJW 2018, 2185, 2186; BVerfG NJW 2019, 1428, 1429; BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 228). Da die elektronische Fußfessel auch innerhalb der Wohnung getragen werden muss, erscheint ein Eingriff in das Wohnungsgrundrecht nicht ganz ausgeschlossen. Das BVerfG hat Bedenken. Doch auch, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts vorläge, griffe die Regelung weder in den Kernbereich privater Lebensgestaltung ein, noch würden die verfassungsrechtlichen Vorgaben an den Einsatz technischer Mittel zur Überwachung von Wohnungen missachtet. Mit der bloßen Präsenzkontrolle trage die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung dem verfassungsrechtlichen Gebot, die Wohnung als räumlich-gegenständlichen Bereich der Privatsphäre zu schützen, in dem der Einzelne für sich sein und sich nach selbstgesetzten Maßstäben frei entfalten kann, hinreichend Rechnung. Aber auch, wenn die bloße Feststellung der Anwesenheit in der Wohnung durch den Einsatz von „elektronischer Fußfessel“ und „Home-Unit“ als eine Überwachung von Wohnungen mit technischen Mitteln zu qualifizieren wäre, sei jedenfalls den Rechtfertigungsanforderungen an einen solchen Eingriff gem. Art. 13 IV GG Genüge getan. Bestehe die begründete Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Straftaten der in § 66 III S. 1 StGB genannten Art, sei das Erfordernis einer dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr (Art. 13 IV S. 1 GG), erfüllt (Rn. 330-333 des Beschlusses).


7. Ergebnis

Mit dem BVerfG sind die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung verfassungskonform. Das BVerfG prüfte auch die Vereinbarkeit der Maßnahmen mit der EMRK und sah hier ebenfalls keinen Rechtsverstoß. Eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführer ist mithin nicht gegeben.


Rolf Schmidt (09.02.2021)






 



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