Aktuelles 2022 Akzessorietätslockerung bei Garantenstellung aus Ingerenz beim Mord durch Unterlassen

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21.12.2022: Akzessorietätslockerung bei Garantenstellung aus Ingerenz beim Mord durch Unterlassen


BGH, Beschl. v. 24.3.2021 – 4 StR 416/20 (NStZ 2022, 220)


Mit Beschluss vom 24.3.2021 hat der 4. Strafsenat des BGH entschieden, dass die Garantenstellung aus Ingerenz (die Bezeichnung Ingerenz entstammt dem lateinischen Verb ingerere = sich einmischen; wer also durch Einmischung eine Gefahr schafft, ist zur Erfolgsabwendung verpflichtet) ein besonderes persönliches Merkmal im Sinne von § 28 I StGB sei. Diese auf den ersten Blick unverfängliche Aussage hat auf den zweiten Blick unmittelbare Auswirkungen: Zum einen klärt sie (für die Praxis) die umstrittene Frage, ob die Ingerenzpflicht ein täter- oder tatbezogenes Merkmal ist, und zum anderen bestätigt sie die Rechtsprechung des BGH (außer der des 5. Strafsenats in dessen Beschl. v. 10.1.2006 – 5 StR 341/05 – NJW 2006, 1008 ff.), beim Mord handele es sich gegenüber dem Totschlag um ein eigenständiges Delikt (und nicht um eine Qualifikation). Denn § 28 I StGB enthält eine obligatorische Strafmilderung für den Teilnehmer, wenn bei ihm „besondere persönliche Merkmale“, welche die Strafbarkeit des Täters begründen, fehlen. Bei der Verdeckungsabsicht handelt es sich nach dem BGH um ein strafbarkeitsbegründendes Merkmal, da der BGH dieses dem § 28 I StGB zuordnet. Das impliziert, dass es sich bei § 211 StGB um einen eigenständigen Tatbestand und nicht um eine Qualifikation zu § 212 StGB handelt


Dem Beschluss lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde (leicht abgewandelt, um die Probleme zu fokussieren): Nach einem gemeinsamen Kneipenbesuch fuhren A und B mit ihren Fahrzeugen nachts hintereinander in Richtung Wohnort. Beide fuhren unter Alkoholeinfluss und waren nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis. Der vorausfahrende A übersah an einer Kreuzung den von rechts kommenden, vorfahrtsberechtigten Fahrradfahrer F und erfasste ihn mit seinem Fahrzeug. F erlitt durch den Zusammenstoß u.a. einen Abriss der Hauptschlagader, was innerhalb weniger Minuten zu seinem Tod führte. A hielt sein Fahrzeug an, stieg aus und begab sich zur Unfallstelle. Dort sah er F regungslos am Straßenrand liegen. Er hielt es für möglich, dass F noch lebte und gerettet werden konnte. Zwar ging er davon aus, dass von F keine Entdeckungsgefahr drohte; er befürchtete aber, beim Veranlassen von Rettungsmaßnahmen wegen der fehlenden Fahrerlaubnis und des Fahrens unter Alkoholeinfluss strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Daher entschloss er sich, keine Rettungsmaßnahmen einzuleiten und zu flüchten. Ein Versterben des Unfallopfers infolge unterlassener Rettungsmaßnahmen nahm er billigend in Kauf. Da sich aber der Wagen nicht mehr starten ließ, gelang es A zunächst nicht, den Unfallort mit seinem Wagen zu verlassen.

B sah, als er die Unfallstelle passierte, dass F schwer verletzt und regungslos am Straßenrand lag. Auch sah er, dass A den Wagen nicht starten konnte, sodass er diesem „Pannenhilfe“ gab. Sodann setzte er – wie A – die Fahrt fort, weil es ihm besser erschien, die Unfallstelle wegen seiner fehlenden Fahrerlaubnis und des Fahrens unter Alkoholeinfluss schnellstmöglich zu verlassen.


Da das LG die mögliche Strafrahmenverschiebung nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB nicht in Betracht gezogen hatte, bei Beachtung jedoch bei der Strafbemessung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, hob der BGH das Urteil des LG in Bezug auf den Strafausspruch auf. Ob die Entscheidung des BGH überzeugt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.



A. Einführung


I. Rechtliche Grundlagen


1. Limitierte Akzessorietät der Teilnehmerstrafbarkeit


Im Ausgangspunkt gilt, dass sich die Strafe für den Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe, siehe § 28 I StGB) grundsätzlich (unter Berücksichtigung der obligatorischen Strafmilderung für den Gehilfen, § 27 II S. 2 i.V.m. § 49 I StGB) nach der für den Täter geltenden Strafandrohung richtet. Weiterhin folgt aus §§ 26 und 27 StGB, dass eine lediglich tatbestandliche und rechtswidrige Haupttat vorliegen muss. Auf die Schuld des Haupttäters kommt es nicht an (Limitierung der Teilnahmeakzessorietät auf Tatbestand und Rechtswidrigkeit der Haupttat). § 28 StGB enthält eine zusätzliche Akzessorietätslockerung. Diese Vorschrift bezieht sich auf Tatbestände, die strafbegründende und strafmodifizierende besondere persönliche Merkmale enthalten. Mit ihr können die jeweiligen persönlichen Merkmale von Mittätern und Teilnehmern besonders berücksichtigt und strafrechtlich noch unabhängiger von den anderen Beteiligten gewürdigt werden.



2. Besondere persönliche Merkmale


Von zentraler Bedeutung ist somit die Kenntnis der besonderen persönlichen Merkmale. Das sind nach dem BGH solche i.S.d. § 14 I StGB, also besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (so ausdrücklich BGH NStZ 2022, 220: „Eine Milderung nach § 28 Abs. 1 StGB ist zu gewähren, wenn besondere persönliche Merkmale (§ 14 Abs. 1 StGB) beim Teilnehmer fehlen, welche die Strafbarkeit des Täters begründen“; streng genommen ist die Auffassung des BGH aber ungenau, da § 14 I StGB von „welche die Strafbarkeit des Täters begründen“ spricht, bei § 28 StGB dies aber lediglich auf Abs. 1 zutrifft, nicht auf Abs. 2, der von besonderen persönlichen Merkmalen spricht, die die Strafe schärfen, mildern oder ausschließen, also modifizieren, nicht begründen). Mit der Terminologie des § 28 StGB sind das somit täterbezogene Merkmale, worunter nach dem BGH Merkmale zu verstehen sind, die im Schwergewicht die Persönlichkeit des Täters kennzeichnen (BGH NStZ 2022, 220, 221 mit Verweis u.a. auf BGHSt 39, 326, 328; 41, 1 f.; 58, 115, 117 f.; 63, 282 ff.). Diese sind wiederum von den tatbezogenen Merkmalen abzugrenzen, d.h. von solchen Merkmalen, die nur der sachlichen Charakterisierung der Tat (der Rechtsgutverletzung) dienen, für die der Anwendungsbereich des § 28 StGB konsequenterweise nicht eröffnet ist und bei denen dementsprechend eine Akzessorietätslockerung nicht stattfinden kann. Das zeigt, welche Bedeutung die Einordnung eines Tatbestandsmerkmals entweder als täterbezogen oder als tatbezogen im konkreten Fall für die Strafbarkeit des Beteiligten haben kann. Allgemeingültige Abgrenzungskriterien bestehen nicht. Der BGH stellt – wie aufgezeigt – darauf ab, ob das betreffende Merkmal im Schwergewicht die Tat oder die Persönlichkeit des Täters kennzeichnet. Umstände, die eine besondere Gefährlichkeit des Täterverhaltens anzeigten oder die Ausführungsart des Delikts beschrieben, seien i.d.R. tatbezogen. Gehe es um Merkmale, die die Persönlichkeit des Täters mit seinen Absichten und Motiven kennzeichnen (was auch bei strafrechtlichen Sonderpflichten anzunehmen sei), seien diese Merkmale täterbezogen (BGH NStZ 2022, 220, 221 mit Verweis auf BGHSt 41, 1, 4 f.; 58, 115, 117 f.; 63, 282 ff.).


Mithin lässt sich sagen, dass besondere persönliche Merkmale i.S.d. § 28 StGB jedenfalls solche täterbezogenen Merkmale sind, die eine besondere Pflichtenstellung höchstpersönlicher Art umschreiben. Das betrifft insbesondere die Stellung des Täters als Erzieher in den §§ 174 und 180 I S. 2 StGB, als Amtsträger in den §§ 331 ff. StGB, als Garant (nach dem BGH jedenfalls bei Ingerenz, dazu sogleich) in den unechten Unterlassungsdelikten, als Bandenmitglied in den §§ 244 I Nr. 2, 250 I Nr. 2 StGB (str.) oder als derjenige, dem die Sache im Bereich der verun­treuenden Unterschlagung (§ 246 II StGB) anvertraut war. Auch die Motiv- und Absichtsmerkmale beim Mord (§ 211 II StGB 1. und 3. Gruppe) gehören dazu (siehe auch BGH NStZ 2022, 220, 221).


Ordnet man also die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB dem § 28 StGB zu, stellt sich die im Folgenden zu beantwortende Frage, ob es sich bei diesen Mordmerkmalen um strafbegründende (dann ist § 28 I StGB anwendbar) oder um strafmodifizierende (dann ist § 28 II StGB anwendbar) Merkmale handelt.



3. Der Regelungsgehalt des § 28 I StGB 


§ 28 I StGB enthält eine obligatorische Strafmilderung (mit Verweis auf § 49 I StGB) für den Teilnehmer (und nur für diesen, nicht also für den Mittäter!), wenn bei ihm „besondere persönliche Merkmale“, welche die Strafbarkeit des Täters begründen, fehlen. § 28 I StGB stellt aufgrund der Formulierung „die Strafe ist zu mildern“ eine Strafzumessungsregel (Strafrahmenverschiebung; hier: nach unten) dar und ist somit im Deliktsaufbau immer erst nach der Schuld zu prüfen. Strafbegründend ist ein besonderes persönliches Merkmal, wenn der gesetzliche Tatbestand, der dieses Merkmal beschreibt, ein eigenständiges Delikt darstellt, dieser die Strafbarkeit also begründet, nicht lediglich modifiziert, wie das der Fall wäre, wenn es sich bei dem betreffenden Tatbestand um eine Qualifikation oder um eine Privilegierung eines Grundtatbestands handelte (in einem solchen Fall wäre nicht § 28 I StGB, sondern § 28 II StGB anwendbar). Als strafbegründend sind zunächst folgende besondere persönliche Merkmale anerkannt: die Amtsträgereigenschaft bei den eigentlichen (echten) Amtsdelikten wie §§ 331, 332, 343-345 und 348 StGB, die Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit, soweit sie für die Strafbarkeit konstitutiv sind (z.B. in § 180a I StGB), das Treueverhältnis und die Vermögensbetreuungspflicht im Bereich der Untreue (§ 266 StGB), das Schutzverhältnis nach § 225 StGB, die Berufseigenschaften in den §§ 203, 278 StGB und die Stellung als Geschäftsführer z.B. bei § 82 I Nr. 1, 3 GmbHG.


Auch die Garantenpflicht aus Ingerenz, also diejenige Garantenpflicht, die den Täter aufgrund seines pflichtwidrigen Vorverhaltens, das die nahe Gefahr des tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht hat (BGH NStZ 2022, 220, 222 m.w.N.), zur Erfolgsabwendung verpflichtet, ist ein dem Regelungsbereich des § 28 I StGB unterfallendes täterbezogenes Merkmal – jedenfalls nach dem BGH (BGH NStZ 2022, 220, 222; damit schloss sich der BGH den sogleich genannten Literaturstimmen an) und einem Teil der Literatur (so etwa Sch/Sch-Heine/Weißer, § 28 Rn 19; NK-Puppe, § 28 Rn 72; SK-Hoyer, § 28 Rn 35; Baumann/Weber-Eisele, AT, § 26 Rn 151; Wessels/Beulke/Satzger, AT Rn 558/773; Grunst, NStZ 1998, 548, 551; Hinderer, JA 2009, 25, 28. Vertreter der Gegenauffassung – keine Anwendung des § 28 I StGB auf Garantenstellungen, da tatbezogenes Merkmal – sind etwa MüKo-Freund, § 13 Rn 261 ff.; Lackner/Kühl-Kühl, § 28 Rn 6; Jescheck/Weigend, AT, § 61 VII 4 a; Herzberg, ZStW 88 (1976), 68, 109; Ranft, JZ 1995, 1186, 1187). Fehlt es beim Teilnehmer, ist für diesen nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB die Strafe zu mildern. Handelt es sich bei dem ingerenzpflichtigen Teilnehmer um einen Gehilfen (und nicht um einen Anstifter), wäre sogar eine doppelte Strafmilderung (einmal nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB und einmal nach § 27 II S. 2 i.V.m. § 49 I StGB) die Folge, die vom BGH aber ausgeschlossen wird (BGH NStZ 2022, 220, 223 („nur einmal zu mildern“).



4. Der Regelungsgehalt des § 28 II StGB 


Gegenüber der Regelung des § 28 I StGB gelten nach § 28 II StGB besondere persönliche Merkmale, welche die Strafe „schärfen, mildern oder ausschließen“ (modifizieren), nur für den Beteiligten (Täter oder Teilnehmer!), bei dem sie vorliegen. Damit werden zwei Unterschiede zu der Regelung des § 28 I StGB deutlich:

 

  • § 28 I StGB gilt nur für den Teilnehmer und wirkt auch nur strafmildernd.
  • § 28 II StGB gilt dagegen für Täter und Teilnehmer und wirkt sowohl strafmildernd als auch strafschärfend.


Strafmodifizierend ist ein besonderes persönliches Merkmal, wenn der gesetzliche Tatbe­stand, der dieses Merkmal beschreibt, eine unselbstständige Abwandlung zu einem Grundtatbestand darstellt, dieser die Strafbarkeit also lediglich modifiziert und nicht begründet, wie das der Fall wäre, wenn es sich bei dem betreffenden Tatbestand um einen selbstständigen Tatbestand handelte (in einem solchen Fall wäre nicht § 28 II StGB, sondern § 28 I StGB anwendbar). Beispiele von unselbstständigen Abwandlungen sind: Die gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB), die schwere Körperverletzung (§ 226 StGB), die Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) und die Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) haben die (einfache) Körperverletzung (§ 223 StGB) zum Grundtatbestand. Gleiches gilt hinsichtlich des Diebstahls mit Waffen und des Bandendiebstahls (§ 244 StGB) sowie des schweren Bandendiebstahls (§ 244a StGB) im Verhältnis zum (einfachen) Diebstahl (§ 242 StGB).


Nach ganz h.M. führt § 28 II StGB zu einer Verschiebung des Tatbestands, aus dem der jeweilige Beteiligte verurteilt wird, d.h. zu einer Veränderung des Schuldspruchs und nicht (wie bei § 28 I StGB) nur des Strafrahmens.



5. § 28 I oder II StGB bei Tötungsdelikten?


Von besonderer Bedeutung (auch für den vorliegend zu besprechenden Fall) ist die Anwendung des § 28 StGB auf Tötungsdelikte, weil sich dann zusätzlich das Problem des Verhältnisses von § 211 StGB zu § 212 StGB stellt. Betrachtet man den Mordtatbestand als gegenüber dem Totschlag qualifizierend, greift für die täterbezogenen Mordmerkmale (das sind die der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB) § 28 II StGB. Sieht man den Mordtatbestand indes als eigenständigen Tatbestand an, sind die Mordmerkmale strafbegründend. Die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB unterfallen dann dem Regelungsbereich des § 28 I StGB. Die Mordmerkmale der 2. Gruppe des § 211 II StGB stehen niemals in Verbindung zu § 28 StGB, da sie tatbezogene (und keine besonderen persönlichen) Merkmale darstellen. Diese unterfallen ausschließlich den allgemeinen Teilnahmeregeln der §§ 26 und 27 StGB. Ob nun bei den täterbezogenen und damit „besonderen persönlichen Merkmalen“ i.S.d. § 28 StGB dessen Abs. 1 oder Abs. 2 Anwendung findet, hängt wiederum entscheidend davon ab, ob es sich bei den täterbezogenen Mordmerkmalen um strafbegründende (dann § 28 I StGB) oder um strafschärfende (dann § 28 II StGB) besondere persönliche Merkmale handelt.


  • Strafschärfend wären die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe, wenn es sich bei § 211 StGB um eine Qualifikation des § 212 StGB handelte. Folge wäre eine Anwendbarkeit des § 28 II StGB; es läge eine Tatbestandsverschiebung vor, was bedeutete, dass die Strafmodifizierung für den Beteiligten gelten würde, bei dem das besondere persönliche Merkmal vorläge.

 

  • Handelte es sich bei § 211 StGB hingegen um ein eigenständiges Delikt (delictum sui generis), wären die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe konsequenterweise strafbegründend. Das führte zur Anwendbarkeit des § 28 I StGB, wenn der Teilnehmer die täterbezogenen Mordmerkmale des Haupttäters zwar kennt, selbst aber nicht erfüllt. Rechtsfolge wäre eine Verschiebung des Strafrahmens, was bedeutet, dass der Teilnehmer trotz fehlenden Mordmerkmals wegen Teilnahme am Mord schuldig zu sprechen, seine Strafe jedoch gem. §§ 28 I, 49 I StGB zu mildern wäre.


Der BGH vertritt seit jeher die zuerst genannte Auffassung (vgl. nur BGHSt 1, 235, 238; 1, 368, 371; 22, 375, 377; BGH NJW 1998, 619, 620; BGH NStZ-RR 2002, 139; BGH NJW 2002, 3559, 3560; BGH NJW 2005, 996, 997; auch BGH NStZ 2022, 220, 221 ff. geht in diese Richtung). Lediglich der 5. Strafsenat des BGH hat dieses Ver­ständnis vom Verhältnis von Mord und Totschlag in Frage gestellt. In seiner Entscheidung vom 10.1.2006 (NJW 2006, 1008 ff.) hält er der bisherigen Rspr. des BGH zum Verhältnis von Mord und Totschlag gewichtige Argumente entgegen. Sie führe zu schwer überbrückbaren Wertungswiders­prüchen und unausgewogenen Ergebnissen, wider­spreche der sonst üblichen Systematik und sei unnötig kompliziert. Der Mord stelle sich als ein Tötungsunrecht i.S.v. § 212 StGB dar, zu dem (in den Varianten der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB) lediglich besonders schwer­wiegende persönliche Umstände beim Täter hinzu­träten. Ein solches Verhältnis entspreche nach der üblichen Systematik demjenigen zwischen Grunddelikt und Qualifikation. Dies werde besonders deutlich, wenn es um die Bewertung des Tatbeitrags von Teilnehmern gehe. Im zu entscheidenden Fall konnte der 5. Strafsenat die Frage, ob es sich bei den täterbezogenen Mordmerkmalen um strafschärfende besondere persönliche Merkmale i.S.v. § 28 II StGB und nicht um strafbegründende i.S.v. § 28 I StGB handelt, letztlich aber offenlassen, weil das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe beim Haupttäter nicht vom Vorsatz des Teilnehmers umfasst war. Daher war der Teilnehmer so oder so „nur“ wegen Beihilfe zum Totschlag strafbar. Gleichwohl ist hervorzuheben, dass der 5. Strafsenat die Bereitschaft erkennen lässt, mit der gefestigten Rspr. aller Strafsenate des BGH zur Selbstständigkeit von Mord und Totschlag zu brechen und sich der (ganz herrschenden) Lehrmeinung vom Stufen­verhältnis der Tötungstatbestände anzuschließen.


Der 4. Strafsenat hat in der vorliegend zu besprechenden Entscheidung zwar Bezug auf den 5. Straf­senat genommen, jedoch darauf hingewiesen, dass dieser ausdrücklich offengelassen habe, ob und inwieweit die aus den Garantenstellungen der unechten Unterlassungsdelikte fließenden Pflichten besondere persönliche Merkmale sind (BGH NStZ 2022, 220, 221). Indem der 4. Strafsenat je­doch das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht dem Regelungsbereich des § 28 I StGB unterstellt, gibt er eindeutig zu verstehen, dass er an der Eigenständigkeit des § 211 StGB festhält. Denn die Zuordnung der Verdeckungsabsicht zu § 28 I StGB ist nur möglich, wenn man das Mord­merkmal als strafbegründend ansieht, was die Eigenständigkeit des § 211 StGB im Verhältnis zu § 212 StGB impliziert. In der Literatur wird formuliert, dass „die Rspr. bisher mit der ihr eigenen Beharrlichkeit (…) die Ansicht der Lehre … ignoriert“ (BeckOK-Eschelbach, § 211 Rn 6.2; zitiert von Hinderer, NStZ 2022, 223, 224). Das ist so nicht korrekt. Die Recht­sprechung ignoriert die Lehre nicht (weil sie sie durchaus anführt), sondern sie folgt ihr schlicht nicht.



B. Prüfung des Falls


I. Strafbarkeit des A


A hat sich tateinheitlich (natürliche Handlungseinheit) wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG), Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c I Nr. 1a i.V.m. III StGB), unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 I Nr. 2 StGB) und versuchten Mordes in Verdeckungsabsicht durch Unterlassen (§§ 211 I, II Var. 9, 13 I, 22 StGB – die Garantenstellung ergibt sich aus Ingerenz) strafbar gemacht. Der ebenfalls verwirklichte Tatbestand der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) tritt subsidiär hinter § 315c I Nr. 1a StGB zurück. Die versuchte Aussetzung mit Todesfolge (§§ 221 I Nr. 2, III, 22, 23 I, 12 I StGB) tritt im Wege der Gesetzeskonkurrenz hinter dem Verdeckungsmord zurück.


 

II. Strafbarkeit des B


B hat sich wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Entfernen vom Unfallort (§§ 142 I Nr. 2, 27 I StGB) und Beihilfe zum versuchten Mord in Verdeckungsabsicht durch Unterlassen (§§ 211 I, II Var. 9, 13 I, 22, 27 I StGB) strafbar gemacht. Fraglich ist allein, ob B hinsichtlich des Mordmerkmals der Verdeckung einer anderen Straftat neben der Strafmilderung gem. § 27 II S. 2 i.V.m. § 49 I StGB auch die Strafrahmenverschiebung nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB zugutekommt. Denn § 28 I StGB enthält eine obligatorische Strafmilderung für den Teilnehmer, wenn bei ihm „besondere persönliche Merkmale“, welche die Strafbarkeit des Täters begründen, fehlen.


Betrachtet man (mit der h.L.) den Mordtatbestand als gegenüber dem Totschlag qualifizierend, greift für die täterbezogenen Mordmerkmale (das sind die der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB) § 28 II StGB. Sieht man (mit dem BGH) den Mordtatbestand indes als eigenständigen Tatbestand an, sind die Mordmerkmale strafbegründend. Die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB unterfallen dann dem Regelungsbereich des § 28 I StGB.


Bei der Verdeckungsabsicht handelt es sich nach dem BGH um ein strafbarkeitsbegründendes Merkmal, da der BGH dieses dem § 28 I StGB zuordnet. Das impliziert freilich, dass es sich bei § 211 StGB um einen eigenständigen Tatbestand und nicht um eine Qualifikation zu § 212 StGB handelt. Da das LG die mögliche Strafrahmenverschiebung nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB nicht in Betracht gezogen hatte, bei Beachtung jedoch bei der Strafbemessung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, hob der BGH das Urteil des LG in Bezug auf den Strafausspruch auf.

  


C. Bewertung


Zunächst wird durch die besprochene Entscheidung deutlich, dass sich der 5. Strafsenat der h.L. angeschlossen hat, wonach die Garantenpflicht aus Ingerenz, also diejenige Garantenpflicht, die den Täter aufgrund seines pflichtwidrigen Vorverhaltens, das die nahe Gefahr des tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht hat (BGH NStZ 2022, 220, 222 m.w.N.), zur Erfolgsabwendung verpflichtet, ein dem Regelungsbereich des § 28 I StGB unterfallendes täterbezogenes Merkmal ist. Fehlt es beim Teilnehmer, ist für diesen nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB die Strafe zu mildern. Weiterhin folgt aus der Entscheidung, dass der 4. Strafsenat an der Eigenständigkeit des § 211 StGB festhält. Denn die Zuordnung der Verdeckungsabsicht zu § 28 I StGB ist nur möglich, wenn man das Mordmerkmal als strafbegründend ansieht, was die Eigenständigkeit des § 211 StGB im Verhältnis zu § 212 StGB impliziert.

   


Rolf Schmidt (21.12.2022)



 



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