Aktuelles 2024 Bezeichnung als fetter Anwalt und Rumpelstilzchen

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13.3.2024: Bezeichnung als „fetter Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“


BVerfG, Beschl. v. 24.11.2023 – 1 BvR 1962/23 (abgedruckt u.a. in NJW 2024, 745)


Mit Beschluss vom 24.11.2023 hatte die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde einer Rechtsanwältin zu entscheiden. Sie wandte sich gegen ihre im Wege der einstweiligen Verfügung ergangene Verurteilung, es zu unterlassen, auf ihrer Internetseite „(…)“ über die Inhalte der nichtöffentlichen Sitzung eines Familiengerichts zu berichten, für die sie als Verfahrensbeistand zugelassen worden war, und einen darin auftretenden Rechtsanwalt – den Verfügungskläger des Ausgangsverfahrens – als „fetten Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“ zu bezeichnen. Unabhängig davon, dass das BVerfG die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat, da sie nicht dem Grundsatz der Subsidiarität genüge, hat es die Fachgerichte gerügt, diese hätten die Annahme der Beleidigung allein darauf gestützt, die Bezeichnungen „fetter Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“ seien „ein Werturteil, welches ehrverletzenden Charakter“ habe und den Verfügungskläger des Ausgangsverfahrens in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletze. Damit ließen die Ausgangsgerichte jede Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen vermissen, die aber nur ausnahmsweise entbehrlich sei, wenn sich eine Äußerung als Schmähung oder Schmähkritik im verfassungsrechtlichen Sinne, als Angriff auf die Menschenwürde oder als Formalbeleidigung darstelle. Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.



A. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Meinungsäußerungsfreiheit


I. Weite Auslegung des Schutzbereichs


Für eine demokratische Gesellschaft spielt – wie das BVerfG in ständiger Rechtsprechung betont – die Meinungsäußerungsfreiheit eine be­deutende Rolle (vgl. etwa BVerfG NJW 2020, 2622, 2623; grundlegend BVerfGE 7, 198, 208).   


Auf konventionsrechtlicher Ebene gewährleistet Art. 10 I EMRK die Meinungsäußerungsfreiheit. Der Blick auf die EMRK ist deshalb notwendig, weil nach ständiger Rspr. des BVerfG aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (Art. 1 II GG) sowie der völkervertraglichen Bindung, die die Bundesrepublik mit der Unterzeichnung der EMRK eingegangen ist, Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK als Aus­legungs­hilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen seien (vgl. nur BVerfG NVwZ-RR 2023, 649, 650; BVerfG NJW 2023, 1117, 1118; BVerfG NVwZ 2022, 139, 143; BVerfG NJW 2021, 1222, 1225; BVerfG NJW 2020, 905, 917; zuvor schon BVerfGE 149, 293, 328; 128, 326, 370 f.; 120, 180, 200 f.; 111, 307, 317 f.) und die vom EGMR formulierten grundlegenden konventionsrechtlichen Wertungen zu beachten seien, weshalb die EMRK insoweit eine verfassungsrechtliche Dimension aufweise (so BVerfG NVwZ 2021, 1211, 1217; BVerfG NVwZ-RR 2023, 649, 650 spricht von „verfassungsrechtliche Bedeutung“). Da auch der EGMR in Art. 10 I EMRK eine für die demokratische Gesellschaft konstitutive Bedeutung sieht (siehe nur EGMR NJW 2017, 3501, 3503; EGMR NJW 2016, 1373, 1374; grundlegend EGMR EGMR-E 1 (1976), 217 ff.), wäre für den Fall, dass der EGMR Art. 10 I EMRK ein höheres Schutzniveau entnimmt als das BVerfG in Bezug auf Art. 5 I GG, dies im Rahmen einer konventionskonformen Auslegung zu berücksichtigen.


Sowohl nach der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 5 I GG als auch nach derjenigen des EGMR zu Art. 10 I EMRK ist der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit sehr hoch anzusiedeln. Auf welchen Gegenstand sich eine Meinungsäußerung beziehe und welchen Inhalt sie habe oder auf welchem intellektuellen Niveau sie sich be­finde, sei insoweit gleichgültig; es spiele keine Rolle, ob sie politisch oder unpolitisch sei, von anderen als wertvoll oder wertlos, sachlich oder polemisch, vernünftig oder unvernünftig, harmlos oder gefährlich bzw. verletzend oder schockierend empfunden werde.


Siehe dazu etwa EGMR NJW 2016, 1373, 1374 (Verleumdung einer ehemaligen Richterin durch Journalistin); BVerfG 17.3.2021 – 2 BvR 194/20 Rn 30 (Brief in JVA) – insoweit nicht abgedruckt in NStZ 2021, 439; BVerfG NJW 2020, 2622, 2623 (strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung von Richtern; Bezeichnung u.a. als „asoziale Justizverbrecher“, „Provinzverbrecher“ und „Kindesentfremder“, die Rechtsbeugung begingen und Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien); BVerfG NJW 2019, 2600 (Verletzung der Meinungsfreiheit durch fälschliche Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik); BVerfG NJW 2017, 2606 (Bezeichnung eines Gerichts u.a. als „Musikantenstadl“); NJW 2016, 2643 f. („ACAB“ nicht ohne weiteres Beleidigung); BVerfGE 124, 300, 320 (Rudolf-Heß-Gedenkfeier); 90, 241, 247 (Auschwitzlüge). Vgl. auch BVerf­GE 30, 336, 347 (Sonnenfreunde); 33, 1, 14 f. (Strafgefangene); 61, 1, 7 (Wahlkampf); 93, 266, 289 („Soldaten sind Mörder“); BVerfG NJW 2012, 1273; BVerwG NVwZ 2023, 1167, 1169 („Migration tötet“).


Nach Auffassung des BVerfG, das insoweit einen Rückschluss aus Art. 5 II Var. 3 GG (Recht der persönlichen Ehre) zieht, sind auch Beleidigungen vom Schutzbereich des Art. 5 I GG erfasst (siehe BVerfGE 82, 43, 51; 85, 1, 16; 90, 241, 248; 93, 266, 294; 99, 185, 196; BVerfG NJW 2009, 3016 f.; BVerfG NJW 2014, 764, 765; BVerfG NJW 2020, 2622, 2623; BVerfG 8.12.2020 – 1 BvR 842/19), jedoch sei ihnen im Wege einer Abwägung mit kollidierenden Persönlichkeitsinteressen zu begegnen.


Und sogar bei ausländerfeindlichen und rechtsextremistischen Äußerungen (wie bspw. „Aktion Ausländerrückführung – Für ein lebenswertes deutsches Augsburg”) geht das BVerfG von der Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 5 I GG aus, begegnet ihnen aber immerhin im Rahmen der Schranken des Art. 5 II GG und lässt sie bei der Abwägung mit den gegenläufigen Verfassungsgütern zurücktreten (BVerfG NJW 2010, 2193, 2194 – aufgegriffen von VGH Kassel ZUM-RD 2019, 415, 417 f.).


Auch bei Schmähungen, also bei Äußerungen, bei denen nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung, Verunglimpfung bzw. gravierende Ehrverletzung der Person im Vordergrund stehen (siehe etwa BVerfG NJW 2024, 745; BVerfG NZA 2020, 1704, 1705; BVerfG NJW 2020, 2622, 2624 – jeweils mit Verweis u.a. auf BVerfGE 82, 272, 283 f.; 85, 1, 16; 93, 266, 294 – siehe auch BVerfG NJW 2019, 2600), ist ebenfalls klar, dass im Ergebnis kein Schutz bestehen kann. Regelmäßig nimmt das BVerfG gleichwohl eine Eröffnung des Schutzbereichs an und begegnet dem Unwertgehalt der Schmähung bei der Rechtfertigung des Eingriffs (vgl. etwa BVerfG NJW 2024, 745; BVerfG NJW 2021, 301, 302; BVerfG 17.3.2021 – 2 BvR 194/20 Rn. 44 – insoweit nicht abgedruckt in NStZ 2021, 439; BVerfG NJW 2020, 2622, 2623 ff.; BVerfG NJW 2013, 3021, 3022; BVerfGE 93, 266, 293 f.), wobei es aber bei der Annahme einer Schmähung sehr zurückhaltend ist.


Ein solch weites Verständnis des Schutzbereichs ist sicherlich nicht zwingend. Keinesfalls überzeugt es aber, wenn das BVerfG sogar eine „menschenverachtende Diskriminierung“ wie die gegenüber einem dunkelhäutigen Menschen getätigte Äußerung „Ugah, Ugah“ (BVerfG NZA 2020, 1704, 1706) als vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit erfasst ansieht (um ihr erst im Rahmen der Rechtfertigung zu begegnen – BVerfG a.a.O., S. 1705). Vorzugswürdiger wäre gewesen, be­reits den Schutzbereich zu verneinen. Eine „menschenverachtende Diskriminierung“ bzw. eine die „Menschenwürde verletzende Äußerung“, die vorliegt, „wenn eine Person nicht als Mensch, sondern als Affe adressiert wird“, als vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit erfasst anzusehen, kann angesichts der Grundrechtsfunktion nicht überzeugen.


Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung (Bejahung des Schutzbereichs des Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG): Bezeichnung eines Gerichts u.a. als „Musikantenstadl“ (BVerfG NJW 2017, 2606); Anmerkung gegenüber einem Richter, dass dieser „dämlich grinst“ (BVerfG NJW 2021, 301); Bezeichnung eines Polizisten als Oberförster, Wegelagerer oder Spitzel (vgl. BayObLG NStZ 2005, 215; BayObLG NJW 2005, 1291 f.); Bezeichnung eines Staatsanwalts oder einer ehemaligen Landrätin als „durchgeknallt“ (vgl. BVerfG NJW 2009, 3016 f.; BVerfG NJW 2014, 764, 765); Bezeichnung einer Staatsanwältin als „widerwärtig, boshaft, dümmlich und geisteskrank“ (BVerfG NJW 2016, 2870 f.); Tragen eines Kleidungsstücks mit der Aufschrift „ACAB“ (BVerfG NJW 2016, 2643 f. – „ACAB“ steht für „all cops are bastards“.); Tragen eines Ansteckers mit der Aufschrift „FCK CPS“ (BVerfG NJW 2015, 2022 f. – „FCK CPS“ steht für „Fuck Cops“.); Bezeichnung eines Polizeibeamten als „Spinner“ und/oder „Spasti“ (OLG Hamm 11.9.2018 – 1 RVs 58/18). Auch die Bezeichnung von (namentlich genannten!) Richtern u.a. als „asoziale Justizverbrecher“ und „Provinzverbrecher“, die unter der Leitung eines „rechtsradikalen Gerichtspräsidenten“ Rechtsbeugung begingen und Drahtzieher einer Vertuschung von Ver­brechen im Amt seien (BVerfG NJW 2020, 2622), dürfte ohne Zweifel nicht nur staatskritisch, geschmacklos, polemisch und beleidigend sein, sondern stellt nach der hier vertretenen Auffassung auch eine Schmähung dar, selbst wenn die Äußerung als Reaktion auf einen verlorenen Sorgerechtsstreit erging. Dennoch aber ist sie Ausdruck einer Meinung und nach Auffassung des BVerfG vom Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG erfasst (BVerfG NJW 2020, 2622, 2623).



II. Tatsachenbehauptungen


Keine Meinungen sind Tatsachenbehauptungen, also Beschreibungen wirklich geschehener oder existierender, dem Beweis zugänglicher Umstände (BVerfG NJW 2023, 510, 512; BVerfG NJW 2021, 1585, 1586; BVerf­GE 94, 1, 8; 90, 241, 247; BGHZ 139, 95, 102). Jedoch kann die Abgrenzung im Einzelfall gleichwohl schwierig sein, weshalb das BVerfG auf die be­sondere Verknüpfung von Werturteilen und Tatsachenbehauptungen abstellt. Die Mitteilung einer Tatsache sei im strengen Sinne zwar keine Äußerung einer „Meinung”, weil ihr das Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens und des Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung fehle, sie sei allerdings vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit erfasst, wenn sie geeignet sei, zur Meinungsbildung beizutragen (st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 61, 1, 8). Diese Auffassung überzeugt schon deshalb, weil sie den Wortlaut des Art. 5 I S. 1 GG, der nur von „Meinung“ und nicht auch von „Tatsachenbehauptung“ spricht, nicht ignoriert. Reine Tatsachenbehauptungen sind eben keine Meinungen. Da Tatsachenbehauptungen aber sehr oft, ja sogar regelmäßig geeignet sind, zur Meinungsbildung beizutragen (insbesondere, wenn durch selektive Darbietung, Akzentuierung, Schwerpunktsetzung, Verschweigen von bestimmten Tatsachenelementen etc. die Meinungs­bildung der Adressaten beeinflusst wird), führt das dazu, dass auch Tatsachenbehauptungen, etwa, wenn Tatsachenbehauptungen mit wertenden Elementen durchzogen sind oder schlicht selektive Informationen enthalten, in gleicher Weise wie Meinungsäußerungen vom Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG erfasst sind.  


Auch für den vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Kontext der Entscheidung: Bezeichnet eine Rechtsanwältin auf ihrer Internetseite den Anwalt der Gegenseite als „fetten Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“ und sollte es sich bei dem Anwalt tatsäch­lich um einen stark übergewichtigen (und unansehnlichen) Mann geringer Körpergröße han­deln, entspräche die Bezeichnung in gewisser Weise ja den Tatsachen. Gleichwohl ist damit ein Werturteil verbunden, da mit der Äußerung unbestreitbar eine ab­fällige Wir­kung einher­geht. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG ist daher auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG, das insoweit eine verfassungsimmanente Schutzbereichsbegrenzung ablehnt, selbst dann eröffnet, wenn man in dieser Äußerung eine Schmähkritik sieht.  



B. Eingriff und Abwägung mit kollidierenden Grundrechten Dritter


Die Grundrechte aus Art. 5 I GG sind nicht vorbehaltlos gewährleistet (insofern lediglich klarstellend BVerfG NJW 2023, 510, 511). Sie stehen in erster Linie unter dem Gesetzesvorbehalt des Art. 5 II GG, d.h. sie finden ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Der hier genannte Schutz der persönlichen Ehre ist zwar ohnehin durch Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht) gewährleistet, was dazu führt, dass bei einer Kollision mit der Meinungsäußerungsfreiheit grundsätzlich eine umfassende Rechtsgüterabwägung vorzunehmen ist. Durch den in Art. 5 II GG genannten Gesetzesvorbehalt ist aber ein Gesetz erforderlich, das sich zudem am Maßstab des Art. 5 I GG messen lassen muss. Solche Gesetze stellen in erster Linie die §§ 185 ff. StGB dar, die von der Rechtsprechung jedoch bereits als „allgemeine Gesetze“ i.S.v. Art. 5 II Var. 1 GG angesehen werden (vgl. dazu R. Schmidt, Grundrechte, Rn. 508). Auch die §§ 823 und 1004 BGB, bei denen es im vorliegenden Kontext um einen zivilrechtlichen Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch geht, enthalten als allgemeine Gesetze einen Schutz der Ehre, da die Ehre Bestandteil des in diesen Vorschriften geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist. Wendet sich eines der beteiligten Privatrechtssubjekte fachgerichtlich gegen eine Äußerung der anderen Privatperson, ist es dann die Gerichtsentscheidung, die den unmittelbaren Grundrechtseingriffsakt darstellt. Das Gericht muss bei seiner Entscheidung grundsätzlich die widerstreitenden Grundrechte gegeneinander und untereinander abwägen, die Meinungsäußerungsfreiheit des Äußernden auf der einen Seite, das allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Person auf der anderen Seite, wobei das BVerfG für den Fall, dass die Äußerung als Schmähung, Formalbeleidigung oder als verbaler Angriff auf die Menschenwürde einzustufen ist, eine abwägende Gewichtung für verzichtbar hält und dem Ehrschutz den Vorrang einräumt (vgl. etwa BVerfG NZA 2020, 1704, 1705). Gerade aber in Bezug auf Schmähkritik ist das BVerfG bei der Annahme einer solchen äußerst zurückhaltend. Ausgangspunkt dabei ist zunächst, dass die ehrrührige Aussage (gerade, wenn ein politischer oder gesellschaftlicher Hintergrund aufgegriffen wird) grds. nicht wörtlich verstanden werden darf, sondern nach ihrem Bedeutungsgehalt interpretiert werden muss. Zudem darf sie auch nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss stets im Gesamtzusammenhang gesehen werden, in dem die Äußerung getätigt wurde (vgl. auch BVerfG NJW 2016, 2643 f.; BVerfG NJW 2015, 2022 f.; BVerfG NJW 2016, 2870 f.). Es sind sämtliche Begleitumstände der Äußerung wie deren Anlass und Kontext, in dem sie getätigt wurde, zu berücksichtigen; erforderlich ist eine umfassende Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen; dabei sind i.d.R. Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten zu berücksichtigen (BVerfG NZA 2020, 1704, 1706 – mit Verweis u.a. auf BVerfG NJW 2020, 2622, 2623).


Schmähkritik hat das BVerfG bspw. verneint für den Fall, dass ein Staatsanwalt als „durchgeknallt“ bezeichnet wurde, da Anlass und Kontext der Äußerung nicht auf eine beab­sichtigte persönliche Kränkung hätten schließen lassen (BVerfG NJW 2009, 3016 f., s.o.). In die gleiche Richtung geht ein Beschluss des BVerfG hinsichtlich der Bezeichnung einer Staats­anwältin als „widerwärtig, boshaft, dümmlich und geisteskrank“ (s.o.). Der Äußernde (hier: ein Strafverteidiger) tätigte die Aus­sage gegenüber einem mit dem Verfahrensstand vertrauten Journalisten, der ihn in seiner Eigenschaft als Strafverteidiger zu dem Ermittlungsverfahren gegen seinen Mandan­ten und dessen Inhaftierung befragt hatte. Nach Auffassung des BVerfG war es in diesem Kontext jedenfalls mög­lich, dass sich die inkriminierten Äußerun­gen auf das dienst­liche Verhalten der Staatsanwältin vor allem mit Blick auf die Be­antragung des Haft­befehls bezogen haben. Für die Annahme einer Schmähkritik reiche es unter diesen Umständen nicht, darauf ab­zustellen, dass die Äußerungen dabei nicht relati­viert würden oder auf ganz bestimmte einzelne Handlungen der betreffen­den Staatsanwältin Bezug genommen hätten. Es hätte insoweit in Auseinander­setzung mit der Situation näherer Darlegungen bedurft, dass sich die Äußerungen von dem Ermittlungsver­fahren völlig gelöst hatten oder der Verfahrensbezug nur als mutwillig gesuchter An­lass oder Vorwand genutzt wurde, um die Staatsanwältin als solche zu diffamie­ren (BVerfG NJW 2016, 2870 f.). Auch stellt sich die Frage, ob es überzeugt, wenn das BVerfG feststellt, dass die von einem Kläger in einem Zivilprozess getätigte Äußerung: „Die Art und Weise der Beeinflussung der Zeugen und der Verhandlungsführung durch die Richterin sowie der Versuch, den Kläger von der Verhandlung auszuschließen, erinnern stark an einschlägige Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten“ keine Schmähung sei, weil sie auf die Verhandlungsführung – und nicht auf die Richterin als Person – gerichtet sei und daher Sachbezug aufweise (BVerfG NJW 2019, 2600). Die Verneinung von Schmähung ist schließlich zweifelhaft, wenn der Äußernde, der im Rahmen eines familiengerichtlichen Verfahrens einen Sorgerechtsstreit verloren hatte, die mitwirkenden Richter und den Oberlandesgerichtspräsidenten in einem Internet-Weblog unter namentlicher Nennung u.a. als „rechtsradikal, asoziale Justizverbrecher und Kindesentfremder“ bezeichnet hat, die Rechtsbeugung begingen und Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien (anders BVerfG NJW 2020, 2622, 2627: „keine Schmähkritik“).



C. Ergebnis und Bewertung


Im vorliegenden Fall, in dem die Rechtsanwältin auf ihrer Internetseite den Anwalt der Gegenseite als „fetten Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“ bezeichnet hatte, hat das BVerfG – anders als die Fachgerichte – Schmähkritik verneint (BVerfG NJW 2024, 745 f.) und damit seine äußerst restriktive Haltung bei der Annahme von Schmähkritik bestätigt. Die Folge ist damit eingeleitet: Aufgrund der (nach Auffassung des BVerfG fehlerhaften) Annahme von Schmähkritik hatten die Fachgerichte dem Ehrschutz den Vorrang eingeräumt und dabei (folgerichtig) auf eine umfassende Güterabwägung verzichtet. Da nun das BVerfG Schmähkritik aber verneint hat, konnte es die fehlende Güterabwägung beanstanden. Damit ist freilich noch nicht entschieden, ob die Bezeichnung als „fetter Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“ im vorliegenden Fall tatsächlich mit der Meinungsäußerungsfreiheit vereinbar ist. Das BVerfG hat lediglich die fehlende Güterabwägung beanstandet, indem es formuliert: „Aus dem Blick verloren haben die Ausgangsgerichte zudem, dass die untersagten Äußerungen im Kontext eines gerichtlichen Verfahrens gefallen sind, in dem die Bf. als Verfahrensbeistand bestellt worden war.“ Damit ist also völlig offen, ob nach dem BVerfG die fragliche Äußerung zulässig wäre (insofern geben die Schlagzeilen auch führender juristischer Verlage, wo es heißt: „Dies kann im Kontext einer rechtlichen Auseinandersetzung erlaubt sein.“, ein falsches Bild). Dass es beim „Kampf um das Recht“ im Kontext rechtlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt ist, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Rechtspositionen und Anliegen zu unterstreichen (so BVerfG NJW 2024, 745 m.w.N. aus der Rspr. des BVerfG), soll nicht in Frage gestellt werden. Nach der hier vertretenen Auffassung sind aber die Bezeichnungen als „fetter Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“ nicht lediglich „besonders starke und eindringliche Ausdrücke“, um „Rechtspositionen und Anliegen zu unterstreichen“, sondern – trotz Anlass und Kontext, in dem sie ge­tätigt wurden – schlicht Diffamierungen. Kritik am Anwalt der Gegenseite lässt sich unter Organen der Rechtspflege (§ 1 BRAO) auch ohne Diffamierung üben, auch beim „Kampf ums Recht“, bei dem nach dem BVerfG auch „be­son­ders star­ke und ein­dring­li­che Aus­drü­cke“ zu­läs­sig sind. Schließlich möge man sich den Fall vorstellen, dass der Anwalt die Anwältin als „dumme Anwältin“ bezeichnet hätte. Wäre das auch im „Kampf um das Recht“ zulässig? Dass es als Anwalt/Anwältin unklug ist, Schriftstücke aus einem nicht öffentlichen Scheidungsprozess auf einer Internetseite zu veröffentlichen und ohne Erschöpfung des Rechtswegs Verfassungsbeschwerde zu erheben, dürfte jedenfalls als gesichert gelten.   


Gleichwohl waren die Fachgerichte in ihrer Annahme von Schmähkritik schlecht beraten. Denn bei einer Orientierung an der vorangegangenen Rechtsprechung des BVerfG zum Meinungsäußerungsrecht hätten sie durchaus erkennen können, dass die Annahme von Schmähkritik auf „wackeligen Beinen“ stehen würde: Zum einen, weil das BVerfG hohe Anforderungen an das Vorliegen von Schmähkritik stellt, und zum anderen, weil es fordert, dass die Einstufung ausführlich zu begründen sei. Daran fehlte es bei den fachgerichtlichen Entscheidungen. Anzuraten für die Praxis (aber auch für die juristische Fallprüfung) ist daher, schlicht eine (umfassende) Güterabwägung vorzunehmen, um sich nicht dem Einwand auszusetzen, die Reichweite der Meinungsäußerungsfreiheit verkannt zu haben. Mittels dieser Vorgehensweise kann eine Meinungsäußerung, die sich als Schmähkritik erweisen würde, auch ohne diesbezügliche Einstufung hinter den kollidierenden Ehrschutz zurücktreten. Freilich sind bei der Abwägung sämtliche Anforderungen, die das BVerfG an die Abwägung stellt, zu berücksichtigen: Die ehrrührige Aussage (gerade, wenn ein politischer oder gesellschaftlicher Hintergrund aufgegriffen wird) darf grds. nicht wörtlich verstanden werden, sondern muss nach ihrem Bedeutungsgehalt interpretiert werden. Zudem darf sie auch nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss stets im Gesamtzusammenhang gesehen werden, in dem die Äußerung getätigt wurde. So sind sämtliche Begleitumstände der Äußerung wie deren Anlass und Kontext, in dem sie ge­tätigt wurde, zu berücksichti­gen; erforderlich ist eine umfassende Auseinande­r­setzung mit den konkreten Umständen; dabei sind i.d.R. Inhalt, Form, Anlass und Wir­kung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffe­nen und der Rezipienten zu berücksichtigen (BVerfG NZA 2020, 1704, 1706).



Rolf Schmidt (13.3.2024)


 



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