Aktuelles 2024 Körperliche Durchsuchung eines Strafgefangenen bei nacktem Körper

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25.2.2024: Körperliche Durchsuchung eines Straf­gefangenen bei nacktem Körper


BVerfG, Beschl. v. 19.5.2023 – 2 BvR 78/22 (NVwZ-RR 2023, 649)


Mit Beschluss vom 19.5.2023 hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG entschieden, dass die Versagung eines Entschädigungsanspruchs wegen der mit einer Entkleidung verbundenen körperlichen Durchsuchung den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG „berührt“. Ob mit der Wahl des Begriffs „Berührung“ statt „Eingriff“ bzw. „Verletzung“ eine besondere Bedeutung verbunden ist und ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.



A. Zum Sachverhalt


Der Beschwerdeführer (Bf.) verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in einer JVA in Bayern. Nach einem Familienbesuch wurde er einer körperlichen Durchsuchung unterzogen. Nachdem er sich vollständig entkleidet hatte, inspizierten die Bediensteten der JVA zunächst die Achselhöhlen, den Mund und die Fußsohlen. Anschließend kam es zu einer Nachschau im Intimbereich. Bereits in einem ersten Verfahren kam das BVerfG zu dem Ergebnis, dass diese Maßnahmen und die sie bestätigenden Gerichtsentscheidungen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers verletzten (BVerfG 23.9.2020 – 2 BvR 1810/19), woraufhin dem LG Regensburg nichts anderes übrig blieb, als in einem zweiten Durchgang die Rechtswidrigkeit festzustellen. Der Bf. nahm daraufhin den Freistaat Bayern auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung i.H.v. 500 € wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Anspruch. Jedoch unterlag er vor der bayerischen Justiz erneut. Das LG Regensburg führte aus, dass man zwar bei der Frage der Rechtswidrigkeit an die gerichtliche Feststellung der zuständigen Strafvollstreckungskammer gebunden sei. Dies gelte jedoch nicht für die Frage, ob eine schuldhafte Amtspflichtverletzung vorliege. Dass der EGMR (in der Sache Roth v. Germany, NJW 2022, 35) in einer vergleichbaren Konstellation eine Geldentschädigung nach Art. 41 EMRK zugebilligt habe, stehe dem nicht entgegen. Bei der Entscheidung über den Entschädigungsanspruch hätten die deutschen Gerichte allein das nationale Recht, hier § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG, zugrunde zu legen. Erst wenn das innerstaatliche Recht lediglich eine unvollkommene Entschädigung für die Folgen einer Konventionsverletzung gewähre, komme eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK in Betracht, für deren Ausspruch allein der EGMR zuständig sei.



B. Verfassungsrechtliche Grundlagen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts


Mit Blick auf die Menschenwürde (Art. 1 I GG) haben der BGH und das BVerfG schon frühzeitig die Notwendigkeit er­kannt, dass dem Einzelnen ein verfassungsrechtlich verankertes Recht auf Achtung und Entfaltung seiner Persönlichkeit zustehen muss, das über das reine Abwehrrecht des Art. 2 I GG hinausgeht (vgl. BGHZ 13, 334, 337 ff. – Leserbrief; BGHZ 30, 7, 12 ff. – Caterina Valente; BVerfG 35, 202, 220 ff. – Soldatenmord von Lebach; aus jüngerer Zeit vgl. etwa BVerfGE 152, 152, 186 – „Recht auf Vergessenwerden I“; BVerfG NJW 2020, 1049, 1056 – Kopftuchverbot ggü Rechtsreferendarinnen; BVerwG NVwZ 2020, 247 ff. – Kennzeichnungspflicht für Polizeivollzugsbedienstete). Gerade der Schutz vor herabsetzenden, fälschlichen und unerbetenen öffentlichen Darstellungen, aber auch vor un­erbetenen (heimlichen) Wahrnehmungen bzw. vor der Erhebung, Offenbarung und Verwendung persönlicher Daten, verlangt eine verfassungsrechtliche Verankerung, die über Art. 2 I GG hinausgeht. Das gilt in noch größerem Maße für die geschlechtliche Intimität und die geschlechtliche Identität als konstituierende Bestandteile der Persönlichkeit. Das war der Anlass, warum der BGH und das BVerfG im Zuge einer Verfassungsinterpretation den Schutz des Art. 2 I GG um Elemente der Menschenwürde (Art. 1 I GG) angereichert und auf diese Weise ein allge­meines Persönlichkeitsrecht (im Folgenden: APR) entwickelt haben, das Elemente der Persönlichkeit schützt, die nicht bereits von besonderen Freiheitsrechten erfasst sind (grundlegend BGHZ 13, 334, 337 ff. – Leserbrief; 30, 7, 12 ff. – Caterina Valente. Und in BVerwG NVwZ 2023, 1427, 1429 heißt es ausdrücklich: „Es ergänzt als „unbenanntes“ Freiheitsrecht die speziellen („benannten“) Freiheitsrechte und schützt Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind (…).“) 


Auf konventionsrechtlicher Ebene flankiert Art. 8 I EMRK (hier: Achtung des Privat- und Familienlebens) den Persönlichkeitsschutz (siehe nur EGMR NJW 2019, 741, 742 f. – Verbreitung von Fotos, die Jörg Kachelmann auf dem Gefängnishof zeigen). Der Blick auf die EMRK ist deshalb notwendig, weil nach ständiger Rspr. des BVerfG aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (Art. 1 II GG) sowie der völkervertraglichen Bindung, die die Bundesrepublik mit der Unterzeichnung der EMRK eingegangen ist, Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK als Aus­legungs­hilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen sind (vgl. nur BVerfG NVwZ-RR 2023, 649, 650; BVerfG NJW 2023, 1117, 1118; BVerfG NVwZ 2022, 139, 143; BVerfG NJW 2021, 1222, 1225; BVerfG NJW 2020, 905, 917; zuvor schon BVerfGE 149, 293, 328; 128, 326, 370 f.; 120, 180, 200 f.; 111, 307, 317 f.) und die vom EGMR formulierten grundlegenden konventionsrechtlichen Wertungen zu beachten seien, weshalb die EMRK insoweit eine verfassungsrechtliche Dimension aufweise (so BVerfG NVwZ 2021, 1211, 1217; BVerfG NVwZ-RR 2023, 649, 650 spricht von „verfassungsrechtliche Bedeutung“).



C. Speziell: Schutz der Intimsphäre, insbesondere des Schamgefühls


Im vorliegenden Zusammenhang steht der Schutz der Intimsphäre, insbesondere des Schamgefühls, im Fokus der Betrachtung (zu den vielfältigen Facetten des APR vgl. die umfangreiche Darstellung bei R. Schmidt, Grundrechte, Rn. 266 ff.). Diese Gewährleistungen des Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG können insbesondere durch staatliche Stellen (aufgrund einer gesetzlichen Regelung) beeinträchtigt werden (= staatliche Eingriffe). Das kann etwa durch eine im nackten Zustand zu duldende körperliche Durchsuchung (Beeinträchtigung des Schamgefühls) geschehen (BVerfG NJW 2015, 3158, 3159; BVerfG NVwZ-RR 2023, 649, 650) oder durch Verpflichtung zur Entblößung der Genitalien, damit beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt werden können (BVerfG NJW 2022, 2610). Da sich in derartigen Fällen der Betroffene grundsätzlich zunächst an die Fachgerichtsbarkeit wenden muss (er also nicht gleich Verfassungsbeschwerde erheben kann, vgl. R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, Rn. 732 ff.), kommt eine Verfassungsbeschwerde i.d.R. nur nach Erschöpfung des Rechtswegs, d.h. gegen das letztinstanzliche Gerichtsurteil in Betracht. Dieses Urteil (ggf. zusammen mit der dem Urteil zugrunde liegenden staatlichen Maßnahme) ist dann – wie vorliegend – Gegenstand der Verfassungsbeschwerde.



D. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen


I. Einschränkbarkeit des APR


(Staatliche) Eingriffe in das APR sind trotz der Bezugnahme auf Art. 1 I GG grds. rechtfertigungsfähig. Denn wie aufgezeigt ist das APR dogmatisch dem Art. 2 I GG zugeordnet, dessen Schutzniveau lediglich durch Art. 1 I GG verstärkt wird. Insoweit zieht die Rspr. auch die Schrankentrias des Art. 2 I GG heran (BVerfG NVwZ 2021, 226, 230; BVerfGE 120, 180, 201; 101, 361, 387; 97, 391, 401 – allesamt zurückgehend auf BVerfGE 65, 1, 43 – Volkszählung). (Staatliche) Eingriffe bedürfen daher zunächst einer formellen gesetzlichen Grundlage (die selbstverständlich auch die allgemeinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen wie die Gesetzgebungskompetenz, das Bestimmtheitsgebot, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz etc. beachten muss, insoweit lediglich klarstellend BVerfG NJW 2023, 1196, 1199). Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist (trotz der Heranziehung der Schrankentrias des Art. 2 I GG) wegen der Hochrangigkeit und Absolutheit des Würdeschutzes ein strengerer Maßstab anzulegen als bei der allgemeinen Verhaltensfreiheit aus Art. 2 I GG. So heißt es etwa in BVerfG NJW 2014, 2019, 2021: „Eine Regelung, die zu Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ermächtigt, ist jedoch nur dann zulässig, wenn sie zum Schutz eines gewichtigen Gemeinschaftsgutes geeignet und erforderlich ist und der Schutzzweck hinreichend schwer wiegt, so dass er die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts in ihrem Ausmaß rechtfertigt.“ Die Rechtmäßigkeit/Rechtswidrigkeit der grundrechtsbeeinträchtigenden Maßnahme muss (jedenfalls außerhalb der absolut geschützten Intimsphäre) mit Hilfe einer umfassenden Interessen- und Güterabwägung festge­stellt werden, wobei auch die Gewährleistungen der EMRK zu berücksichtigen sind (s.o.). Das gilt insbesondere bei staatlich angeordneten Maßnahmen mit Bezug auf die Intimsphäre, insbesondere das Schamgefühl, wie etwa bei der Durchsuchung eines Strafgefangenen bei entkleidetem Körper (BVerfG NJW 2015, 3158, 3159; BVerfG NVwZ-RR 2023, 649, 650) und der Verpflichtung zur Entblößung der Genitalien, damit beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt werden können (BVerfG NJW 2022, 2610, 2611).



II. Die Sphärentheorie als besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes


Als besondere Ausprägung der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von Eingriffen bzw. Beeinträchtigungen in Bezug auf das APR hatte das BVerfG in Fällen, in denen es um Offenbarung persönlicher Umstände geht, seinerzeit die sog. Sphärentheorie entwickelt. Danach unterteilt(e) sich der Lebensbereich des Einzelnen in drei Sphären (vgl. grundlegend etwa BVerfGE 27, 1, 6; 27, 344, 350 f.; 32, 373, 379; 34, 238, 245 f.; 47, 46, 73; 49, 286, 298; 54, 148, 154; 80, 367, 373).


  • Die Intimsphäre kennzeichnet den unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit. Nach allgemeiner Auffassung zählen dazu innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art. Selbstverständlich ist auch die Sexualität erfasst. Die Intimsphäre markiert den Wesensgehalt des APR. Dieser Bereich ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG absolut, d.h. vor jeglicher öffentlichen Gewalt geschützt.
  • Die Privatsphäre kennzeichnet den engeren persönlichen Lebensbereich, insbesondere innerhalb der Familie und im eigenen häuslichen Bereich, und ist daher ebenfalls durch Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG geschützt. Allerdings ist das Schutzniveau nicht so hoch wie bei der Intimsphäre, weshalb Eingriffe grundsätzlich rechtfertigungsfähig sind.
  • Die dritte Sphäre ist die Sozial- oder Öffentlichkeitssphäre. Mit dieser Sphäre ist das (persönliche und berufliche) Ansehen (die soziale Achtung) des Einzelnen in der Gesellschaft gemeint. Wegen des Bezugs nach außen sind Eingriffe unter weniger strengen Voraussetzungen zulässig.


Im Einzelfall kann es schwierig sein, einen Sachverhalt zweifelsfrei einer bestimmten Sphäre zuzuordnen. So ist etwa fraglich, ob die Durchsuchung eines Strafgefangenen bei entkleidetem Körper oder die Verpflichtung gegenüber Strafgefangenen zur Entblößung der Genitalien, damit beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt werden können, der (keiner Abwägung mit kollidierenden Verfassungsgütern zugänglichen) Intimsphäre oder der (einer Abwägung zugänglichen) Privatsphäre zuzuordnen sind. Nach Auffassung des BVerfG und des BGH ist die Sexualität nicht stets der Intimsphäre zu­zuordnen. Das erstaunt angesichts der vom BVerfG selbst aufgestellten Definition der Intimsphäre, aber anderenfalls hätten die Gerichte nicht billigen können, dass die Presse über einen Sexualstraftäter nach Verbüßung seiner Haftstrafe unter voller Namensnennung (BVerfG NJW 2009, 3357, 3359) berichtet. Auch die Zulässigkeit der (Verdachts-)Berichterstattung über einen Strafprozess, bei dem es um den Tatvorwurf einer besonders schweren Vergewaltigung ging und bei dem über sexuelle Vorlieben des Angeklagten berichtet wurde (BGH NJW 2013, 1681 ff.), war nur gegeben, weil man Fragen des Sexuallebens der 2. Sphäre zuordnete. Das kann schon deshalb nicht überzeugen, weil gerade in Zeiten des Internets die Informationen mitunter dauerhaft zugänglich sind. 


Gänzlich verliert die Sphärentheorie ihre Glaubwürdigkeit, wenn es um körperliche Durchsuchungen von entkleideten Strafgefangenen geht oder um die Verpflichtung gegenüber Strafgefangenen zur Entblößung der Genitalien, damit beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt werden können. Hinsichtlich der körperlichen Durchsuchung von entkleideten Strafgefangenen konstatiert das BVerfG, dass die Rechtmäßigkeitsanforderungen besonders hoch seien, wenn mit der Durchsuchung eine Inspizierung von normalerweise verdeckten Körperöffnungen verbunden sei (BVerfG NVwZ-RR 2023, 649, 650). Wegen des besonderen Gewichts von Eingriffen, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren, habe der Betroffene Anspruch auf besondere Rücksichtnahme (BVerfG NVwZ-RR 2023, 649, 650). Das ist richtig, zeigt aber die Untauglichkeit der Sphärentheorie auf, wonach Eingriffe in die Intimsphäre überhaupt nicht (und nicht nur unter besonders hohen Rechtmäßigkeitsanforderungen) zu rechtfertigen sind – und zwar auch dann nicht, wenn etwa Drogen oder gefährliche Gegenstände im Intimbereich versteckt sind. Nicht ohne Grund erwähnt das BVerfG in der genannten Entscheidung die Sphärentheorie nicht einmal mehr. Bezüglich der Verpflichtung gegenüber Strafgefangenen zur Entblößung der Genitalien, damit beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt werden können, erscheint das Dilemma besonders groß, weil die Ein­schlägigkeit der Intimsphäre offenkundig ist. Wohl damit das BVerfG die Frage, ob im Strafvollzug überhaupt beaufsichtigte Urinkontrollen angeordnet werden können, nicht von vornherein verneinen musste, spricht es von „Berührung“ des Intimbereichs und des Schamgefühls. So heißt es in der Entscheidung: „Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat insoweit Anspruch auf besondere Rücksichtnahme.“ (BVerfG NJW 2022, 2610, 2611 – Beaufsichtigte Urinkontrollen in JVA).


Mit „Berührung“ ist wohl ein abgeschwächter Grad des Grundrechtseingriffs gemeint, damit die Maßnahme überhaupt rechtfertigungsfähig sein kann. Das erinnert an die Rechtsprechung des BVerfG zur Menschenwürde, wo es konstatiert, dass bloße „Berührungen“ der Menschenwürde keine Eingriffe in die Menschenwürde des Betroffenen darstellten (vgl. BVerfG NJW 2009, 3089, 3090 f. – dazu R. Schmidt, Grundrechte, Rn. 244). Denn nähme man einen Eingriff an, wäre damit stets die Verletzung der Menschenwürde verbunden.


Fazit: Mit der Sphärentheorie hat die Rechtsprechung versucht, Rechtssicherheit zu schaffen. Jedoch führt die Anwendung der Sphärentheorie mitunter zu untragbaren Ergebnissen, was auch von der Rechtsprechung bisweilen gesehen wird, die dann in dogmatisch angreifbarer Weise eine gewisse „Flexibilität“ zeigt. Abhilfe kann nur eine Abkehr von der Sphärentheorie schaffen, zumal sich die Zu­ordnung zu einer Stufe ohnehin als schwierig erweisen kann. Stellt man allein auf die Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen ab, kommt man nicht in Bedrängnis, sich für die eine oder andere Stufe entscheiden oder die gewählte Sphäre „flexibel handhaben“ zu müssen. Mit der allgemeinen Abwägungslehre schafft man sich einen Freiraum, im Einzelfall sachadäquat entscheiden zu können: Je intimer bzw. persönlicher der Sachverhalt ist, desto restriktiver muss die Zulässigkeit von Eingriffen sein.



III. Die Kernbereichslehre


Einen vermeintlichen Ausweg aus dem Dilemma mit der Sphärentheorie soll die Kernbereichslehre bereiten, die nach dem Kern- und Randbereich des Persönlichkeitsschutzes differenziert. Liege ein Eingriff in den Kernbereich privater Lebensgestaltung vor, folge aus der vom BVerfG konstatierten Absolutheit des Schutzes (vgl. etwa BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 102 – SOG Meck-Vor) die Rechtswidrigkeit des Eingriffs. Lediglich Eingriffe in den Randbereich des APR seien abwägungs- und damit rechtfertigungsfähig.


Aber auch dieses Modell der Kategorisierung muss zwangsläufig scheitern. Gerade, wenn es um eine Durchsuchung der Genitalien eines bzw. einer Strafgefangenen nach illegalen Drogen oder gefährlichen Gegenständen geht oder um die Verpflichtung gegenüber Strafgefangenen zur Entblößung der Genitalien, damit beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt werden können, versagt die Kernbereichs­these, weil ihr zufolge solche Maßnahmen keinesfalls zu rechtfertigen wären, obwohl ein zwingendes Bedürfnis für derartige Maßnahmen bestehen kann. Die terminologischen „Tricks“ des BVerfG, in solchen Fällen von „Berührungen“ zu sprechen, um nicht am selbst entwickelten „Unabwägbarkeitsdogma“ zu scheitern, überzeugen nicht. Um sachangemessene Ergebnisse, frei von Dogmatismus und Ideologie, erzielen zu können, wird man nicht umhinkommen, stets eine (vom Kernbereichsdogma losgelöste) Abwägung vorzunehmen, bei der dann das Gewicht der Intimsphäre zu berücksichtigen ist. Die Formel lautet: Je intensiver der Eingriff in die Höchstpersönlichkeit ist, desto gewichtiger müssen die Gründe für die Rechtfertigung sein. Das eröffnet zwar eine gewisse Rechtsunsicherheit, aber anders lässt sich dem „Unabwägbarkeitsdogma“ nicht konsistent begegnen.



IV. Ergebnis


Die Ausarbeitung hat die dogmatischen Schwächen der Sphärentheorie und der Kernbereichslehre, die in der Spruchpraxis zu einem „Unabwägbarkeitsdogma“ führen, wenn Kernelemente der Persönlichkeit betroffen sind, offenbart. Noch so übergewichtige kollidierende Verfassungsgüter sind keiner Abwägung fähig, verharrt man bei der Sphärentheorie bzw. der Kernbereichslehre. Dabei war die Entwicklung dieser Konstrukte noch nicht einmal notwendig. Mit der vom Verfasser aufgezeigten Abwägungsformel lassen sich auch höchstpersönliche Aspekte des APR, namentlich die Intimsphäre, insbesondere das Schamgefühl, ohne weiteres schützen – ohne, dass man in dogmatische Schwierigkeiten oder Ungereimtheiten geriete.


Für den Ausgangsfall war der Verstoß gegen das APR nach allen dogmatischen Überlegungen offenkundig. In der Rechtsfolge war daher der Entschädigungsanspruch von Bedeutung. Der Verfasser dieses Beitrags mochte zuerst nicht glauben, was er in der Sachverhaltsfeststellung las. Denn bereits nach innerstaatlichem Recht spricht die Rechtsprechung bei schwerwiegender Verletzung des APR gem. § 253 II BGB (der auch über § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG anwendbar ist) eine Entschädigung zu (BGHZ 132, 13, 27; gebilligt von BVerfG NJW 2004, 591 f.; BVerfG NJW 2006, 595 f.; zu weiteren Nachweisen vgl. R. Schmidt, Schuldrecht Besonderer Teil II, Rn. 1115), ohne dass es auch auf die Konventionswidrigkeit und ein Urteil des EGMR ankäme. Davon unbeschadet lag eine Konventionswidrigkeit im vorliegenden Fall gerade vor (Verstoß gegen Art. 8 I EMRK); die Nichtbeachtung durch die Fachgerichte ist schlicht nicht nachvollziehbar.




Rolf Schmidt (25.2.2024)


 



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