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Beiträge 2015


10.3.2015: Familienrecht: Neuere Entwicklung zum Begriff der Familie


BVerfG, Beschluss v. 24.6.2014 - 1 BvR 2926/13

Ergänzung zu R. Schmidt, FamR, 3. Auflage 2015, Rn 20 ff.:

Ausgangslage: Weder das Grundgesetz noch das einfache Recht enthalten eine Definition, was unter den Begriffen „Ehe“ und „Familie“ zu verstehen ist. Insbesondere die Grundrechtsbestimmung des Art. 6 I GG setzt mit ihrem normgeprägten Schutzbereich die Existenz von Ehe und Familie als gesellschaftliche und rechtliche Institute voraus (BVerfGE 105, 313, 345; 15, 328, 332). Für eine Rechtsanwendung ist eine Definition aber unerlässlich. Der Schutzgehalt des Art. 6 I GG schließt familiäre Bindungen zwischen nahen Verwandten ein, ins­besondere zwischen Großeltern und ihren Enkel­kindern (weiter Familienbegriff, vgl. BVerfG NJW 2014, 2853, 2854). Mit dem Abstellen auf diesen weiten Familienbegriff (näher R. Schmidt, FamR, Rn 4) er­teilt das BVerfG seiner früheren Rechtsprechung, in der es den Begriff auf das Eltern-Kind-Verhältnis beschränkte (enger Familienbegriff, vgl. BVerfGE 48, 327, 339), eine klare Absage.

Diese Ausweitung des Schutzbereichs übt Einfluss etwa auf die Frage aus, ob nahe Ver­wandte das Recht haben, bei der Entscheidung über die Auswahl eines Vormunds oder Ergänzungspflegers in Betracht gezogen zu werden. Das BVerfG bejaht dies nicht nur, sondern geht sogar so weit, dass es den nahen Verwandten bei der Entscheidung über die Auswahl eines Vormunds oder Ergänzungspflegers den Vorrang gegen­über dritten Personen einräumt, sofern nicht im Einzelfall konkrete Erkenntnisse darüber vorliegen, dass dem Wohl des Kindes durch die Auswahl einer nicht verwandten Person besser gedient ist (BVerfG NJW 2014, 2853, 2855).

Zum Fall BVerfG 24.6.2014 - 1 BvR 2926/13: Sachverhalt (BVerfG 24.6.2014 - 1 BvR 2926/13 - vereinfacht und gekürzt, um die relevanten Aspekte hervorzuheben): M gab ihre Tochter T nach der Geburt in die Obhut ihrer Mutter G. Zwei Jahre später zog sie zu ihrer Mutter und ihrer Tochter und lebte bei diesen ca. 8 Jahre lang. Im 7. Jahr ihres Wohnaufenthalts bei G gebar M ihr zweites Kind, den S. T blieb nach dem Auszug der M aus dem gemeinsamen Haushalt auf eigenen Wunsch bei ihrer Großmutter, wohin­gegen S mit seiner Mutter auszog. G hielt das Verhalten der M für kindeswohl­gefährdend und wandte sich an das Jugendamt. Dieses brachte S – mit Zustimmung der M – zunächst bei einer Pflegefamilie unter. Wenig später setzte das Familiengericht zu­nächst das Jugendamt als Vormund für beide Kinder ein. G beantragte daraufhin, ihr die Vor­mundschaft für beide Kinder zu übertragen. Hinsichtlich des S sprachen sich sowohl der gerichtliche Sachverständige als auch M für einen Verbleib des S bei der Pflege­familie aus. Kurze Zeit später entzog das Familiengericht der M das Sorgerecht für beide Kinder. Es bestellte G gem. § 1779 BGB zum Vormund für T. Für S bestellte es hingegen mit Verweis auf das Kindeswohl das Jugendamt zum Vormund. G sieht sich dadurch in ihren Rechten aus Art. 6 I GG und Art. 8 I EMRK verletzt (Anm.: Im Originalfall prüfte das BVerfG zwar auch das Elternrecht aus Art. 6 II S. 1 GG, kam jedoch zutreffend zu der Annahme, dass das Elternrecht keinen eigenen grundrechtlichen Schutz der subjektiven Interessen der Großeltern begründet (BVerfG NJW 2014, 2853, 2854). 

Entscheidung: Das BVerfG erläuterte zunächst allgemein den Schutzgehalt des Art. 6 I GG. Diese Verfassungsnorm schütze die Familie als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern. Sie ziele generell auf den Schutz spezifisch familiärer Bindungen (BVerfG NJW 2014, 2853, 2854 mit Verweis auf BVerfGE 133, 59, 82 f.), wie sie auch zwischen erwachsenen Familienmitgliedern und auch – wenngleich regelmäßig weniger ausgeprägt – über mehrere Generationen hinweg zwischen den Mitgliedern einer Großfamilie bestehen könnten. Intensive Familienbindungen träten nicht nur im Verhältnis zwischen heran­wachsenden Kindern und Eltern auf, sondern seien auch zwischen Mitgliedern der Generationen-Großfamilie möglich. Besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft könnten insbesondere im Verhältnis zwischen Enkeln und Großeltern, aber auch zwischen nahen Verwandten in der Seitenlinie zum Tragen kommen. Bestünden zwischen nahen Verwandten tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Bindungen, seien diese vom Schutz des Art. 6 I GG erfasst (BVerfG NJW 2014, 2853, 2854 mit Verweis auf Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 6 Rn 10; Kingreen, Jura 1997, 401, 402; Pirson, in: Bonner Kommentar, Bd. 2, 1976, Art. 6 Abs. 1 Rn 21; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Abs. 1 Rn 88; Uhle, in: Epping/Hillgruber, GG, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn 14; ebenso EGMR NJW 1979, 2449 zum Schutz des „Familienlebens“ i.S.d. Art. 8 EMRK; a.A. Burgi, in: Friauf/Höfling, GG, Bd. 1, 2002, Art. 6 Rn 20; v. Coelln, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 6 Rn 17). Soweit aus BVerfGE 48, 327, 339 etwas anderes gefolgert werden mag, halte der Senat daran nicht fest. Es spreche nichts dafür, dass Art. 6 I GG die Beziehungen zwischen Großeltern und Enkelkind aus dem Schutz der Familie ausnehmen wolle. Vielmehr deute der Wortlaut des Art. 6 III GG, der ausdrücklich vor der Trennung des Kindes von der „Familie“ schütze, darauf hin, dass der Verfassungsgeber unter Familie mehr verstanden habe als die Gemeinschaft des Kindes mit seinen Eltern. Einer abnehmenden verwandtschaftlichen Nähe der Familienmitglieder zueinander sei bei der Bestimmung der Schutzintensität und der Konkretisierung der Schutzinhalte des Art. 6 I GG Rechnung zu tragen (BVerfG NJW 2014, 2853, 2854 mit Verweis auf Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Abs. 1 Rn 89; Uhle, in: Epping/Hillgruber, GG, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn 14; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn 112).

Umfasst damit der Schutz des Art. 6 I GG auch die Großfamilie und greift im Verhältnis Großeltern-Enkelkinder, ist nunmehr die Reichweite des Schutzes zu bestimmen.

Das BVerfG führt dazu aus, dass der grundrechtliche Schutz familiärer Beziehungen zwischen nahen Verwandten jenseits des Eltern-Kind-Verhältnisses deren Recht umfasse, bei der Entscheidung über die Auswahl eines Vormunds oder Ergänzungspflegers berücksichtigt zu werden. Großeltern und sonstigen nahen Verwandten komme (wegen Art. 6 I GG) bei der Auswahl des Vormunds oder Ergänzungspflegers sogar der Vorrang gegenüber dritten Personen zu, sofern nicht im Einzelfall konkrete Erkenntnisse darüber bestünden, dass dem Wohl des Kindes durch die Auswahl einer dritten Person besser gedient sei (BVerfG NJW 2014, 2853, 2855). Das BVerfG macht diesbezüglich aber deutlich, dass Voraussetzung für eine solche vorrangige Berücksichtigung das tatsächliche Bestehen einer engeren familiären Bindung zum Kind sei. Daran fehle es im vorliegenden Fall im Verhältnis zu S. Daher sei die Entscheidung des Familiengerichts rechtlich nicht zu beanstanden.

Stellungnahme: Auch wenn G mit ihrer Rechtsauffassung im Ergebnis nicht durchdrang, so hat sie doch den Grundstein für eine überaus wichtige und in ihren Folgen sehr weitreichende bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung gelegt. Denn das BVerfG hat den Fall zum Anlass genommen, den Begriff der Familie und die Reichweite des Schutzes aus Art. 6 I GG neu zu bestimmen bzw. zu erweitern. Der Schutz aus Art 6 I GG erstreckt sich (nunmehr) auf den mehrere Generationen umfassenden Familienverband und auf enge Verwandte in der Seitenlinie wie Geschwister, Onkel und Tante. Voraussetzung ist nur, dass eine tatsächliche enge familiäre Bindung besteht. Zugleich ist eine Annäherung zur vom EGMR vorgenommenen weiten Auslegung des Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – dazu sogleich) deutlich zu erkennen. Welche „Fernwirkung“ das Urteil entfalten wird, etwa auf den Gebieten des Adoptionsrechts oder des Erbschaftsteuerrechts, ist derzeit noch nicht absehbar. 

R. Schmidt (10.3.2015)


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