Aktuelles 2021

Beiträge 2021


 Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

an dieser Stelle möchte ich aktuelle Entwicklungen in Form von Gesetzesnovellen und Urteilsanmerkungen aufzeigen und gleichzeitig Inhalte meiner Bücher aktualisieren. Für das Jahr 2021 werden bislang folgende Themen behandelt (Thema bitte durch Anklicken auswählen):
 
15.07.2021: Neue Facetten bei der Gewahrsamserlangung in Geldautomatenfällen

BGH, Beschl. v. 03.03.2021 – 4 StR 338/20 (NStZ 2021, 425)

Mit dem genannten Beschluss hat sich der 4. Strafsenat des BGH zum Gewahrsam des Bankkunden am Bargeld im Ausgabefach eines Geldautomaten geäußert, wenn er den Auszahlungsvorgang durch Einführen seiner Karte und Eingabe der zugehörigen PIN-Nummer ausgelöst hat. Der Gewahrsamsbruch ist einer der zentralen Aspekte des Diebstahls (§ 242 StGB – alle folgenden §§ sind solche des StGB, soweit nicht anders gekennzeichnet). Nach Auffassung des 4. Senats ist mit der Ausgabe des Geldes, d.h. mit der Bereitstellung im Ausgabefach, (Mit-)Gewahrsam auf den Bankkunden übergegangen, sodass der Täter, der in diesem Moment das Geld entnimmt, (Mit-)Gewahrsam des Kunden bricht und damit einen Diebstahl begeht. Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde (abgewandelt und vereinfacht, um die Probleme des Falls zu fokussieren): O will Geld abheben. Nachdem er seine Bankkarte in den Automaten eingeschoben und seine Geheimnummer eingegeben hatte, stellte sich T neben O, verdeckte das Bedienfeld mit einer Zeitung und gab als auszuzahlende Geldsumme 500 € ein. Er entnahm dem Automaten das anforderungsgemäß ausgegebene Bargeld und entfernte sich.

I. Problemaufriss
Im Bereich der Vermögensdelikte bildet (neben dem Betrug) der Diebstahl den zentralen Tatbestand. Geschützte Rechtsgüter sind – da der Diebstahl eine Eigentumsverletzung durch Wegnahme der Sache zwecks Anmaßung einer eigentümerähnlichen Position darstellt (se ut dominum gerere) – nach zutreffender Auffassung (BGHSt 10, 400, 401; 29, 319, 323; BGH NJW 2001, 1508; SK-Hoyer, vor § 242 Rn. 12; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 1; LK-Vogel, vor § 242 Rn. 3) das Eigentum und der Gewahrsam.

Tatobjekt ist eine fremde bewegliche Sache. Ob der strafrechtliche Sachbegriff eigenständig zu bestimmen ist oder mit dem zivilrechtlichen Sachbegriff übereinstimmt mit der Folge, dass die entsprechenden zivilrechtlichen Definitionen und Wertungen auf das Strafrecht übertragen werden können, wird unterschiedlich gesehen. Während ein Teil der Literatur (u.a. Fischer, § 242 Rn. 3) den strafrechtlichen Sachbegriff autonom, d.h. rein strafrechtlich bestimmt, orientiert sich die h.M. (Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 1; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 9) an dem zivilrechtlichen Sachbegriff. Demzufolge ist der strafrechtliche Sachbegriff akzessorisch zum Zivilrecht. Für die Minderheitsmeinung spricht, dass es grundsätzlich richtig ist, im Strafrecht Begriffe strafrechtlich zu bestimmen, jedoch müsste man diesen Gedanken dann auch durchgängig zugrunde legen. So ist kein Grund ersichtlich, den Sachbegriff rein strafrechtlich zu bestimmen, sich dann aber zur Bestimmung des Begriffs der Fremdheit der sachenrechtlichen Vorschriften des Bürgerlichen Rechts über Erwerb und Verlust von Eigentum zu bedienen. Richtigerweise sind sowohl der Sachbegriff als auch der Be­griff der Fremd­heit bei den Eigentumsdelikten streng akzessorisch zu den zivilrechtlichen Vorschriften des Sachenrechts. Sachen i.S.d. § 242 sind somit alle körperlichen Gegenstände i.S.d. § 90 BGB, und zwar unabhängig von deren wirtschaftlichem Wert und deren Aggregatzustand, solange sie von der Außenwelt (räumlich) abgrenzbar sind (Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 1; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn.. 9).

Fremd ist eine Sache, wenn sie nicht im Alleineigentum des Täters steht und nicht herrenlos ist (BGH NJW 2006, 72; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 4; Fischer, § 242 Rn. 5-7; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 12; LK-Vogel, § 242 Rn. 6 ff.; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 27). Bei der Beurteilung der Fremdheit ist mit der h.M. auf den Zeitpunkt der Wegnahmehandlung (d.h. auf den Versuchsbeginn) abzustellen (Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 12; LK-Vogel, § 242 Rn. 22; BeckOK-Wittig, § 242 Rn. 6). Danach ist die Sache für den Täter fremd i.S.d. § 242, wenn sie zum Zeitpunkt des Versuchsbeginns nicht in seinem Alleineigentum steht und auch nicht herrenlos ist. Das gilt sowohl beim rechtsgeschäftlichen als auch beim gesetzlichen Eigentumserwerb. Fallen also Wegnahme und Eigentumserwerb zeitlich zusammen (d.h. erwirbt der Empfänger mit der Entgegennahme Eigentum), ist das Merkmal der Fremdheit zu verneinen (davon geht auch der BGH in den Geldautomatenfällen aus, siehe BGH NStZ 2018, 604, 605; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426).

Beispiel (Nach BGHSt 35, 152): Hat sich der Täter widerrechtlich eine Bankkarte (Girocard) nebst PIN besorgt und hebt an einem Geldautomaten unbefugt Bargeld ab, könnte in dem Abheben ein Diebstahl gesehen werden. Zunächst müsste dazu zum Zeitpunkt der Entgegennahme des Geldes dieses für T fremd gewesen sein. An der Fremdheit fehlte es, wenn in dem Bereitstellen des Geldes ein Übereignungsangebot i.S.d. § 929 S. 1 BGB angenommen würde. Denn dann erwürbe der Empfänger mit der Entgegennahme Eigentum und das Merkmal der Fremdheit wäre zu verneinen. Geht man davon aus, dass das Geld unter der Bedingung einer ordnungsgemäßen Bedienung des Bankautomaten übereignet wird (§§ 929 S. 1, 158 I BGB) und T den Automaten funktionsgerecht bedient hat, war das Geld bei der Entnahme nicht mehr fremd und ein Diebstahl scheidet schon deswegen aus. Stellt man sich aber (mit dem BGH (siehe BGH NStZ 2018, 604, 605; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426) auf den Standpunkt, dass sich das Übereignungsangebot des Automatenbetreibers nur an zur Geldabhebung Berechtigte richtet, blieb vorliegend das Geld im Eigentum des Automatenbetreibers, da T nicht berechtigt war. Das Geld wäre dann für T fremd und es müsste dann die Wegnahme geprüft werden, siehe dazu sogleich.

Bei der Prüfung der Eigentumslage ist – da sich die Eigentumsdelikte auf die formal-juristische Eigentumsposition beziehen und diese im Bürgerlichen Recht geregelt ist – folgerichtig nicht nach (ungeschriebenen) eigenständigen strafrechtlichen Kriterien zu fragen, sondern auf die sachenrechtlichen Vorschriften des Bürgerlichen Rechts über Erwerb und Verlust von Eigentum, insbesondere auf §§ 903 ff., 873, 929 ff., 946 ff., 958 ff. und 1922 BGB abzustellen. Der Begriff der Fremd­heit bei den Eigentumsdelikten ist also streng akzessorisch zu den zivilrechtlichen Vorschriften über Erwerb und Verlust von Eigentum (st. Rspr. seit BGHSt 6, 377, 378; aus jüngerer Zeit vgl. etwa BGH NStZ 2006, 170, 171).

Tathandlung ist die Wegnahme. Der Begriff der Wegnahme ist gesetzlich nicht definiert. Allgemein hat sich aber folgende Definition durchgesetzt: Wegnahme bedeutet Bruch fremden und Begründung neuen, nicht notwendigerweise tätereigenen Gewahrsams (vgl. nur RGSt 48, 58, 59; BGHSt 16, 271, 272; 35, 152, 158; BGH NStZ 2018, 604, 605; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426; aus der Lit. etwa Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 22; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 48; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 8). Gewahrsam ist die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft eines Menschen über eine Sache (RGSt 50, 183, 184; BGHSt 8, 273, 274; 16, 271, 273; 23, 254, 255; BGH NStZ 2008, 624, 625; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426, wobei das Merkmal „natürlich“ in den wiederholten Definitionen des BGH gelegentlich fehlt). Freilich gelangen diese Definitionen an ihre Grenze, wenn der Berechtigte noch nicht einmal eine abstrakte Möglichkeit des Zugriffs hat. Denn dann wird man wohl kaum von tatsächlicher Sachherrschaft sprechen können. Um in Fällen der vorliegenden Art dem Schutzzweck des § 242 gerecht zu werden und einen Diebstahl annehmen zu können, bedient sich die h.M. eines (korrigierenden) Kunstgriffes, indem sie in Fällen, in denen der Berechtigte nicht tatsächlich auf die Sache zugreifen kann, auf die Verkehrsauffassung abstellt, um – bei entsprechendem Herrschaftswillen – auch noch bei einer gewissen räumlichen Lockerung den Gewahrsam bejahen zu können (sog. „gelockerter Gewahrsam“ (der Begriff der „Gewahrsamslockerung“ findet sich bspw. bei BGH NStZ 2019, 726, 727). Eines solchen Kunstgriffes bedarf es jedoch nicht, wenn man nicht von dem Erfordernis einer tatsächlichen Herrschaftsmacht über die Sache ausgeht, sondern auf die „Anschauungen des täglichen Lebens“ (BGH NStZ 2019, 726, 727 mit Verweis u.a. auf BGHSt 16, 271, 273 f.; 23, 254, 255) bzw. die „sozialen Anschauungen“ (So BGH NStZ 2021, 425, 426 mit Verweis auf MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 70) abstellt bzw. eine sozial-normative Zuordnung der Sache zur Herrschaftssphäre einer Person (siehe Hillenkamp, JuS 2003, 157, 158; Wessels/Hillenkamp/Schuhr, BT 2, Rn. 83; Kargl, JuS 1996, 971, 974; Rönnau, JuS 2009, 1088, 1089 f.; Kretschmer, Jura 2009, 590; NK-Kindhäuser, § 242 Rn. 31; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 55; Joecks/Jäger, § 242 Rn. 16; SK-Samson, 4. Aufl., § 242 Rn. 20, allesamt zurückgehend auf Welzel, GA 1960, 257 und Lb. (11. Aufl. 1969), S. 347, 348) vornimmt. Die sozial-normative Zuordnung des Gewahrsams erscheint aus rechtsdogmatischer Sicht vor­zugswürdig, weil sie – anders als die Konstruktion eines „gelockerten Gewahrsams“ – kein bloßes Korrektiv eines an Grenzen stoßenden Gewahrsamsbegriffs darstellt. Sie hat zudem zur Konsequenz, dass Gewahrsam ohne weiteres auch bei einer gewissen Bewusstseins­lockerung zu bejahen ist. Freilich führt sie aufgrund ihrer Konturlosigkeit zu einer Unsicherheit bei der Rechtsanwendung. Denn gerade bei der Bestimmung der „Anschauungen des täglichen Lebens“ bzw. der „sozialen Anschauungen“ be­stehen nicht unerhebliche richterliche Freiräume. Die Geldautomatenfälle offenbaren dies. Zum einen geht es um den Fall, dass der Täter unter unbefugter Benutzung einer Bankkarte (Girocard, früher: ec-Karte) mit der ihm bekannten Geheimnummer (PIN) Geld abhebt. Dieser Fall ist bei R. Schmidt, StrafR BT II, Rn. 680 f. behandelt. Zum anderen sind Fälle zu entscheiden, bei denen der Täter in einen bereits vom Berechtigten initiierten Geldabhebungsprozess eingreift. Diese Fälle sind Gegenstand u.a. der vorliegend zu besprechenden Entscheidung des 4. Strafsenats. Da der 4. Senat jedoch an die vorangegangenen Entscheidungen des 2. und 3. Senats anknüpft, sind diese zunächst aufzuzeigen.

Sachverhalte nach BGH NStZ 2018, 604 (2. Senat) und BGH NStZ 2019, 726 (3. Senat): O will Geld abheben. T verwickelt ihn in ein Gespräch. Nachdem O seine Bankkarte in den Automaten eingeschoben und seine Geheimnummer eingegeben hatte, stieß ihn T von dem Automaten weg, wählte einen Auszahlungsbetrag von 500 € und entnahm das vom Geldautomaten ausgegebene Geld, um sich zu Unrecht zu bereichern.

Lösungsgesichtspunkte: T könnte sich entweder wegen Diebstahls (§ 242) bzw. Raubs (§ 249) oder wegen räuberischer Erpressung (§§ 253, 255) strafbar gemacht haben. Hinsichtlich des Diebstahls bzw. Raubs müsste T zunächst eine fremde bewegliche Sache weggenommen haben.

Fremd ist eine Sache, wenn sie zum Zeitpunkt der Tathandlung nicht im Alleineigentum des Täters steht und nicht herrenlos ist (BGH NStZ 2006, 170, 171; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 4; Fischer, § 242 Rn. 5-7; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 12; LK-Vogel, § 242 Rn. 6 ff.; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 27). Wäre in dem Bereitstellen des Bargelds im Ausgabefach also ein Übereignungsangebot zu sehen, wäre zum maßgeblichen Zeitpunkt der Tathandlung (hier: Ansichnahme des Geldes) die Fremdheit zu verneinen. Der BGH verneint dies. Ein Geldinstitut habe keinen Anlass, das in seinem Automaten befindliche Geld an einen unberechtigten Benutzer der Bankkarte und der Geheimzahl des Kontoinhabers zu übereignen (BGH NStZ 2018, 604, 605 (2. Senat) mit Verweis auf BGHSt 35, 152, 161 f.; ebenso BGH NStZ 2019, 726 f. (3. Senat). Ein Übereignungsangebot richte sich erkennbar nur an den Kontoinhaber, vorliegend O. Dieser habe das Angebot nicht an­genommen (weil er von T von der Entgegennahme des Geldes abgehalten bzw. an ihr gehindert wurde). Das Eigentum an den Geldscheinen verbleibe demnach beim Kreditinstitut. Damit war das Geld für T also fremd.

T müsste das Geld weggenommen haben. Wegnahme bedeutet Bruch fremden und Begründung neuen, nicht notwendigerweise tätereigenen Gewahrsams (vgl. nur RGSt 48, 58, 59; BGHSt 16, 271, 272; 35, 152, 158; BGH NStZ 2018, 604, 605; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426; aus der Lit. etwa Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 22; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 48; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 8). Gewahrsam ist die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft eines Menschen über eine Sache (RGSt 50, 183, 184; BGHSt 8, 273, 274; 16, 271, 273; 23, 254, 255; BGH NStZ 2008, 624, 625; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426 (wobei das Merkmal „natürlich“ in den wiederholten Definitionen des BGH gelegentlich fehlt).

Zunächst befand sich das in dem Geldautomaten befindliche Geld im Gewahrsam des Geldinstituts (siehe BGH NStZ 2019, 726, 727). Fraglich ist aber, ob mit der Entgegennahme des Geldes fremder Gewahrsam gebrochen wurde.

Der 2. Strafsenat hat das verneint. Zwar habe T die Geldscheine aus dem Ausgabefach herausgenommen, dies sei jedoch nicht gegen den Willen des Kreditinstituts geschehen. Werde der Geldautomat technisch ordnungsgemäß bedient, erfolge die tatsächliche Ausgabe des Geldes mit dem Willen des Geldinstituts. Dessen Gewahrsam werde nicht gebrochen (BGH NStZ 2018, 604, 605 mit Verweis u.a. auf BGHSt 35, 152, 158 ff.; 38, 120, 122; Fischer, § 242 Rn. 26; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 104).

Der 3. Senat differenziert. Nach seiner Auffassung bestand der Gewahrsam des Automatenbetreibers – wenn auch in gelockerter Form – zunächst fort, als die Geldscheine vom Automaten zur Entgegennahme im Ausgabefach bereitgestellt wurden (siehe BGH NStZ 2019, 726, 727). Er führt aus: „Durch die Freigabe zur Entnahme hatte das Geldinstitut zwar eine Wegnahmesicherung aufgegeben, es hatte indes weiterhin die Möglichkeit, auf das Geld einzuwirken, solange sich die Scheine im Ausgabefach des Automaten befanden. Denn im Rahmen des vorprogrammierten Ausgabevorgangs werden die Geldscheine wieder eingezogen und das Ausgabefach geschlossen, wenn das Geld nicht innerhalb einer bestimmten Zeitspanne entnommen wird.“ (BGH NStZ 2019, 726, 727). Daran ändert nach dem BGH der Umstand, dass T Zugriff auf das Geld erhielt, nichts, da es auf die Verkehrsauffassung ankomme (BGH NStZ 2019, 726, 727).

Liegt also nach Auffassung des 3. Senats in der Bereitstellung des Geldes im Ausgabefach des Automaten noch keine Gewahrsamsaufgabe, könnte T durch die Entgegennahme des Geldes diesen Gewahrsam gebrochen haben. Der 3. Senat steht auf dem Standpunkt, dass es bei der auto­matisierten Geldausgabe dem Willen des Geldinstituts entspreche, den Gewahrsam an den Geldscheinen demjenigen zu übertragen, der den Geldautomaten technisch ordnungsgemäß bediene, indem er sich mittels Eingabe von Bankkarte und zugehöriger PIN legitimiere (BGH NStZ 2019, 726, 727 mit Verweis auf BGHSt 35, 152, 158 ff.; 38, 120, 122). Auf die materielle Berechtigung komme es nicht an. Daher finde Gewahrsamsübertragung auch statt, wenn ein Unbefugter unter Verwendung einer dem Berechtigten entwendeten Bankkarte nebst zugehöriger PIN Geld am Bankautomaten abhebe (BGH NStZ 2019, 726, 727 mit Verweis auf BGHSt 35, 152, 158 ff.). Gleiches gelte, wenn der Täter zuvor ausgespähte und auf Bankkarten-Blankette kopierte Daten unbefugt zur Geldabhebung verwende (BGH NStZ 2019, 726, 727 mit Verweis auf BGHSt 38, 120, 122 ff.). Maßgeblich für das Einverständnis des Geldinstituts mit der Gewahrsamsübertragung sei allein die funktionsgerechte Bedienung des Geldautomaten durch Eingabe von Bankkarte und PIN (BGH NStZ 2019, 726, 727).

Auf der Basis des 2. Senats bedeutet das also: Die Gewahrsamsübertragung steht unter der Bedingung der äußerlich ordnungsgemäßen Bedienung des Automaten (BGH NStZ 2019, 726, 727 mit Verweis u.a. auf MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 99 ff.; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 36a; SK-Hoyer, § 242 Rn. 54 ff.), auch, wenn der äußerlich ordnungsgemäß Bedienende materiell nicht berechtigt ist. Da T den Automaten technisch ordnungsgemäß bedient hat und nach der Annahme des 2. Senats der Automatenbetreiber in diesem Fall mit der Gewahrsamsübertragung einverstanden war, da die an die Gewahrsamsübertragung geknüpfte Bedingung „ordnungsgemäße Bedienung des Geldautomaten“ erfüllt war, sodass der Automaten­betreiber Gewahrsam aufgegeben habe (BGH NStZ 2018, 604, 605), liegt demnach in Bezug auf O keine Wegnahme vor, da dieser noch keinen Gewahrsam innehatte; vielmehr übte in diesem Zeitpunkt bereits T Gewahrsam aus.

Der 2. Senat nahm aber eine Strafbarkeit nach §§ 253, 255 an. Das konnte er, weil der BGH generell bei der Erpressung keine Vermögensverfügung fordert, sondern auch die Duldung der Wegnahme genügen lässt (siehe dazu R. Schmidt, StrafR BT II, Rn. 762/765). T habe durch Wegstoßen des O vom Geldautomaten Gewalt gegen diesen angewendet. Da­durch habe er diesen gezwungen, die Eingabe des Auszahlungsbetrags in den Geldautomaten und die Herausnahme der O zur Übereignung angebotenen Geldscheine zu dulden. O habe dabei einen Vermögensschaden erlitten, nämlich die Belastung seines Girokontos, ohne jedoch den entsprechenden Geldbetrag erhalten zu haben. T habe mit der Absicht rechtswidriger Bereicherung gehandelt (BGH NStZ 2018, 604, 605).

Anders sieht es auf der Basis der Entscheidung des 3. Senats aus: Das generalisierte Einverständnis der Bank zur Gewahrsamsübertragung sei persönlich auf diejenige Person begrenzt, die „durch Eingabe von Bankkarte und zugehöriger PIN legitimiert“ sei. Ergebe sich aber aus den Umständen, dass der bisherige Gewahrsamsinhaber (hier: Der Automatenbetreiber) die Wegnahme (besser müsste es heißen: „Entgegennahme“) nur bestimmten Personen gestatten wolle, liege ein Einverständnis bei anderen Personen nicht vor. Bei Geldautomatenfällen ergebe sich dann, dass das Einverständnis mit dem Gewahrsamsübergang in personeller Hinsicht erkennbar auf diejenigen Personen beschränkt sei, die den Geldausgabevorgang entsprechend initiierten, nicht aber auch auf einen erst später in den Vorgang eingreifenden Täter (BGH NStZ 2019, 726, 728).

Da O (und nicht T) den Geldausgabevorgang entsprechend initiierte, lag diesem Ansatz zufolge gegenüber T also kein Einverständnis zum Gewahrsamsübergang vor. T hat das Geld danach also weggenommen, weshalb in der Folge § 242 bzw. § 249 zu bejahen sind.

Bewertung: Beide Senate unterscheiden in ihrer rechtlichen Bewertung also zwischen der Frage nach der Übereignung und der Gewahrsamsübertragung. Das ist schon allein deswegen richtig, weil der Tatbestand des § 242 danach unterscheidet und nach allgemeiner Auffassung hinsichtlich der Fremdheit auf den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff geschaut wird, wohingegen sich die Wegnahme strafrechtlich bestimmt (und sich nicht an dem zivilrechtlichen Besitzbegriff orientiert).
  • Die zum Eigentumsübergang erforderliche dingliche Einigung i.S.d. § 929 S. 1 BGB ist nach beiden Senaten offenbar mit einer „personalen“ Bedingung versehen: Das Übereignungsangebot richtet sich nur an den Berechtigten, nicht generell an jeden, der den Zahlungsbetrag eingibt und das ausgegebene Geld entgegennimmt. Das lässt sich gut vertreten, zumal allgemein anerkannt ist, dass Einigungserklärungen aufgrund ihrer rechtsgeschäftlichen Natur auch Bedingungen hinsichtlich des Vertragspartners beinhalten können.
  • Alles andere als zwingend ist aber die Unterscheidung hinsichtlich der Gewahrsamsübertragung danach, ob (nach dem 2. Senat) der Automat äußerlich ordnungsgemäß bedient wird (gleichgültig, ob der äußerlich ordnungsgemäß Bedienende materiell berechtigt ist), oder danach, ob sich (nach dem 3. Senat) das Gewahrsamsübertragungsangebot in personeller Hinsicht allein auf diejenigen Personen bezieht, die den Geldausgabevorgang entsprechend initiierten, nicht aber auch auf einen erst später in den Vorgang eingreifenden Täter. Denn verneint man die Übereignung mit dem Argument, die Banken hätten kein Interesse daran, das Eigentum am Bargeld an deliktisch handelnde Personen zu übereignen, könnte man mit demselben Argument auch die Gewahrsamsübertragung verneinen: Der Geldauto­matenbetreiber habe kein Interesse daran, den Gewahrsam am Bargeld an deliktisch handelnde Personen zu übertragen. Dagegen ließe sich dann auch nicht einwenden, der Gewahrsam zeichne sich durch eine tatsächliche Sachherrschaft aus, denn dem Kriterium der „tatsächlichen Sachherrschaft“ hat der BGH durch seine Argumentation der „sozialen Anschauungen“ ja praktisch eine Absage erteilt.       

II. Prüfung des Falls des 4. Senats
Hier könnte sich T wegen Diebstahls (§ 242) strafbar gemacht haben. Dazu müsste T zunächst eine fremde bewegliche Sache weggenommen haben.

Hinsichtlich der Fremdheit ergibt sich keine Abweichung zu den Entscheidungen des 2. und 3. Senats. Der 4. Senat sieht daher von einer entsprechenden Prüfung ab. Das Eigentum an den Geldscheinen verbleibt beim Kreditinstitut. Damit war das Geld für T also fremd.

T müsste das Geld weggenommen haben. Wegnahme bedeutet Bruch fremden und Begründung neuen, nicht notwendigerweise tätereigenen Gewahrsams. Gewahrsam ist die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft eines Menschen über eine Sache.

Der 4. Senat zeigt die Entscheidungen des 2. und des 3. Senats auf, hat aber eine eigene Entscheidung offengelassen. Zunächst hat der 4. Senat bei der Frage nach dem Gewahrsamsbegriff auf die tatsächliche Sachherrschaft abgestellt, die sich nach den Umständen des Einzelfalls und den Anschauungen des täglichen Lebens bemesse. Danach könne eine Sache auch einer bestimmten, ihr nicht unbedingt körperlich am nächsten stehenden Person zugeordnet werden, solange diese nur einen Sachherrschaftswillen habe. Es genügten daher ein potentieller Beherrschungswille bzw. ein antizipierter Erlangungswille in Bezug auf Sachen, die erst noch in den eigenen Herrschaftsbereich gelangen werden.

Diese „Vorarbeit“ lässt den Leser ohne weiteres erahnen, was dies in Bezug auf den vorliegenden Fall bedeutet: Mit der Ausgabe des Geldes ist (Mit-)Gewahrsam auf O übergegangen, sodass T mit der Entnahme des Geldes bereits bestehenden (Mit-)Ge­wahrsam des O gebrochen hat.
 
Bewertung: Auch der 4. Senat unterscheidet in seiner rechtlichen Bewertung richtigerweise zwischen der Frage nach der Übereignung und der Gewahrsamsübertragung. Der Eigentumsübergang ist auch hiernach mit einer „personalen“ Bedingung versehen: Das Übereignungsangebot richtet sich nur an den Berechtigten, nicht generell an jeden, der den Zahlungsbetrag eingibt und das ausgegebene Geld entgegennimmt. Ob man aber auch bei der weitesten Auslegung des Gewahrsamsbegriffs bei O einen Gewahrsam annehmen kann, ist zu bezweifeln. Wie sich das bereits bei den Entscheidungen des 2. und 3. Senats andeutete, führt die Auffassung des 4. Senats in deutlicherer Weise dazu, dass der Gewahrsam gänzlich ohne Sachherrschaftsgesichtspunkte auskommt, sondern allein nach den „sozialen Anschauungen“ dem Berechtigten zugeordnet wird, auch, wenn dieser zu keinem Zeitpunkt auch nur eine ab­strakte Zugriffsmöglichkeit hat. Das geht meines Erachtens zu weit. Ein „potentieller“ Beherrschungswille bzw. ein antizipierter Erlangungswille in Bezug auf Sachen kann nicht genügen, um Gewahrsam anzunehmen. Dogmatisch hätte der BGH die Wegnahme also verneinen müssen. Wenn man aber allein auf die „sozialen Anschauungen“ bzw. den „potentiellen Beherrschungswillen“ abstellt, stellt sich die Frage nach der Maßgeblichkeit der auch vom 4. Senat verwendeten Definition, nach der Rspr. des BGH sei „Gewahrsam die von einem Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft“ (BGH NStZ 2021, 425, 426). Denn lässt man zur Bejahung des Gewahrsams die „sozialen Anschauungen“ bzw. den „potentiellen Beherrschungswillen“ genügen, sollte sich das auch in der Definition widerspiegeln. Alles andere ist dann nicht mehr glaubwürdig. Methodisch korrekt wäre es gewesen, bei der Definition des Gewahrsams sich sogleich von der „Sachherrschaft“ zu verabschieden, wenn Gewahrsam dann doch gänzlich ohne Vorliegen einer tatsächlichen Sachherrschaft auskommt.  

Unabhängig von der methodischen Schwäche wird der Grund für die Entscheidung des 4. Senats aber deutlich, wenn man bedenkt, dass mangels Nötigung (und erst recht mangels Personengewalt) §§ 253, 255 ausscheiden. Um eine eklatante Strafbarkeitslücke zu schließen, dehnte der 4. Senat einfach den Gewahrsamsbegriff aus. Noch virulenter wäre die Problematik ausgefallen, wenn T auf der Flucht Gewalt angewendet hätte. Dann wäre § 252 in Betracht gekommen, aber nur, wenn man mit dem 4. Senat bei dem Vorgeschehen einen Diebstahl angenommen hätte. Freilich hätte sich der 4. Senat auch schlicht an der Auffassung des 3. Senats orientieren können, nämlich an der Überlegung, dass allein durch die Freigabe des Gelds zur Entnahme noch keine Gewahrsamsaufgabe vorliege. Mit dem Argument, der Geldautomatenbetreiber habe weiterhin die Möglichkeit, auf das Geld einzuwirken, solange sich die Scheine im Ausgabefach des Automaten befinden, weil im Rahmen des vorprogrammierten Ausgabevorgangs die Geldscheine wieder eingezogen werden und das Ausgabefach geschlossen wird, wenn das Geld nicht innerhalb einer bestimmten Zeitspanne entnommen wird (BGH NStZ 2019, 726, 727), ließe sich diese Ansicht gut begründen. Dann hätte T den Gewahrsam des Geldautomatenbetreibers gebrochen.

Anm.: Fälle dieser Art dürften sich für die Praxis mittlerweile weitgehend erledigt haben, da die Geldautomatenbetreiber dazu übergegangen sind, den Geldabhebungsprozess zu modifizieren: Kunden müssen erst den Geldbetrag und dann die Geheimnummer eingeben. In der juristischen Ausbildung (und in Prüfungen) dürfte die Problematik jedoch auch künftig eine Rolle spielen.

Rolf Schmidt (15.07.2021)



06.07.2021: Novellierung des Tatbestands der  Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen (§ 201a StGB)

Die zuletzt mit Wirkung zum 1.1.2021 (BGBl I 2020, S. 2075) nicht unerheblich novellierte und durch Gesetz v. 26.6.2021 redaktionell angepasste Strafnorm des § 201a StGB (im Folgenden sind alle §§ solche des StGB, sofern nicht anders gekennzeichnet) schützt den höchstpersönlichen Lebensbereich und damit die Intimsphäre i.S.d. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG. Zum höchstpersönlichen Lebensbereich zählen insbesondere Sexualität, Krankheit und Tod (siehe BT-Drs. 15/2466, S. 5), die äußerlich (etwa durch Fotos) in Erscheinung treten. Teilweise wird die Verfassungskonformität der Norm in Frage gestellt mit dem Argument, die Abbildungsfreiheit werde in einer Weise einschränkt, welche für die Medien und die Kommunikation zu einem nicht beherrschbaren Strafbarkeitsrisiko führe. Insofern seien die Informations- und Meinungsfreiheit bedenklich eingeschränkt (BeckOK-Heuchemer, § 201a Rn. 1 mit Verweis auf „maßgebliche Stimmen“, die er jedoch nicht benennt). Dem ist zu widersprechen: Zum einen wird nicht dargelegt, worin die „bedenkliche“ Einschränkung liegen soll, und zum anderen sind auch die Informations- und Meinungsfreiheit nicht schrankenlos gewährleistet; sie finden gerade ihre Grenzen im höchstpersönlichen Lebensbereich anderer Menschen. Zudem wahrt die Vorschrift die Informations- und Meinungsfreiheit dadurch, dass sie lediglich das „unbefugte“ Herstellen oder Übertragen sanktioniert und damit Raum für eine Abwägung der widerstreitenden Interessen lässt. Handlungen, die in Wahrnehmung überwiegender berechtigter Interessen erfolgen, namentlich der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dienen, schließen von vornherein den Tatbestand des Abs. 1 Nr. 2-4 – auch i.V.m. Abs. 1 Nr. 5 oder 6, Abs. 2 und 3 – aus. Und für Eingriffe in Abs. 1 Nr. 3 dürfte es ohnehin keine rechtfertigend wirkenden Interessen geben. Die Verfassungskonformität der Norm ist daher im Ergebnis zu bejahen.
 
Während § 201a I das unbefugte Herstellen, Übertragen und Zugänglichmachen von Bildaufnahmen von Personen, die sich in bestimmten, besonders vulnerablen Situationen befinden, sanktioniert, erfasst § 201a II das Zugänglichmachen von Bildaufnahmen Dritten gegenüber, die geeignet sind, dem Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu schaden. Und nach § 201a III macht sich strafbar, wer eine Bildaufnahme, die die Nacktheit einer anderen Person unter achtzehn Jahren zum Gegenstand hat, (1) herstellt oder anbietet, um sie einer dritten Person gegen Entgelt zu verschaffen, oder (2) sich oder einer dritten Person gegen Entgelt verschafft. Bei allen drei Absätzen handelt es sich um Vergehen mit identischer Strafandrohung (Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe). § 201a I enthält fünf Nummern:
  • Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs einer Person, die sich in einer Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befindet, durch unbefugtes Herstellen oder Übertragen einer Bildaufnahme (Nr. 1).
Geschützt ist der höchstpersönliche Lebensbereich einer Person, die sich in einer Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befindet. Da auf die „Höchstpersönlichkeit“ abgestellt wird, kann hinsichtlich des Wohnungsbegriffs nicht ohne weiteres auf die zu § 244 I Nr. 3 entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden, wonach als Wohnungen solche Räumlichkeiten anzusehen sind, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Privat- und Intimsphäre stehen (siehe R. Schmidt, StrafR BT II, Rn. 246; weiter die Definition des BGH, der in ständiger Rechtsprechung Wohnungen lediglich als abgeschlossene und überdachte Räume versteht, die Menschen zumindest vorübergehend als Unterkunft dienen und nicht bloße Arbeits-, Geschäfts- oder Ladenräume sind (BGH NStZ 2020, 484; BGH NStZ-RR 2018, 14, 15), also überwiegend, aber nicht zwingend die Höchstpersönlichkeit betreffen). Erst recht kann nicht der Wohnungsbegriff des § 123 herangezogen werden, der noch weiter reicht und lediglich darauf abstellt, dass die Räumlichkeit Menschen (vorübergehend) als Unterkunft zu dienen bestimmt ist, und auch bloße Zubehörflächen erfasst. Geht es bei § 201a I Nr. 1 um den Schutz eines höchstpersönlichen Rückzugsraums, können nur solche Räume erfasst sein, die den Kern der Privat- und Intimsphäre schützen; dies können dann allerdings bspw. auch Hotelzimmer sind. Gegen Einblick besonders geschützte Räume sind ansonsten bspw. Umkleidekabinen, Toilettenkabinen, Solarienbänke, ärztliche Behandlungszimmer etc.

Tathandlung ist das unbefugte Herstellen oder Übertragen einer Bildaufnahme. Eine Bildaufnahme wird hergestellt etwa durch Fotografie („Handyfoto“) und umfasst selbstverständlich auch die Speicherung (auf Festplatte oder Wechselspeicher). „Übertragen“ meint die Echtzeitübermittlung von Bildaufnahmen etwa durch sog. Webcams oder Spycams, bei denen es zwar zu einer Zwischenspeicherung, nicht aber zu einer dauerhaften Fixierung des Bildes kommt (Lackner/Kühl-Kühl, § 201a Rn. 5; BeckOK-Heuchemer, § 201a Rn. 17 – jeweils mit Verweis auf BT-Drs. 15/2466, S. 5). Eine Begrenzung des Adressatenkreises der Übertragung ist der Vorschrift nicht zu entnehmen. In Abgrenzung zu § 201a I Nr. 4 und zu § 201a II (jeweils „einer dritten (bzw. anderen) Person zugänglich machen“) muss aber angenommen werden, dass mit „Übertragung“ nur die Übertragung an sich selbst gemeint ist. Vorstellbar ist der Fall, dass der Täter in der Wohnung des Opfers heimlich eine Kamera installiert hat, von der aus die Bildinformationen live auf den Computer des Täters übertragen und von ihm dort angeschaut werden. Gleiches gilt, wenn der Täter Bildaufnahmen fertigt und bspw. via E-Mail an sich selbst verschickt (etwa, um sie auf einen anderen Computer zu übertragen).

Unbefugt ist die Bildaufnahme hergestellt (oder übertragen), wenn der Täter gegen oder ohne den Willen des Opfers handelt. Ist die Zielperson also „einverstanden“, liegt (wie z.B. bei § 238) ein tatbestandsausschließendes Einverständnis vor. Daraus folgt zugleich, dass es sich bei dem Merkmal „unbefugt“ um ein objektives Tatbestandsmerkmal handelt, nicht um einen bloßen Verweis auf das mögliche Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes (davon geht auch der Gesetzgeber aus, vgl. BT-Drs. 19/17795, S. 9 f.).

Die Tathandlung (das unbefugte Herstellen oder Übertragen einer Bildaufnahme) muss zur Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs einer Person führen, was darauf hindeutet, dass die Tat ein Erfolgsdelikt ist („Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs als Taterfolg“). Jedoch ergibt sich aus dem Wortlaut („dadurch“), dass das unbefugte Herstellen oder Übertragen einer Bildaufnahme bereits den Taterfolg beschreiben, wenn es um Bildaufnahmen betreffend Sexualität, Krankheit und Tod geht. Darin liegt dann der Taterfolg. 
  • Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs einer Person durch unbefugtes Herstellen oder Übertragen einer Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit der Person zur Schau stellt (Nr. 2).
Mit dieser Tatvariante werden Verhaltensweisen sanktioniert, die Opfer von Gewalttaten, Verkehrsunfällen oder sonstigen Unglücksfällen zur Schau stellen bzw. bloßstellen. Man denke an Gaffer bei Verkehrsunfällen, die mit ihren Smartphones hilflose Unfallopfer fotografieren bzw. filmen und die Aufnahmen dann ins Internet stellen, was eine besonders erniedrigende Wirkung für die Opfer entfaltet. Der Begriff der Übertragung kann wie bei Nr. 1 verstanden werden, weil auch Nr. 4 („einer dritten Person zugänglich machen“) diesen Fall erfasst.
  • Unbefugtes Herstellen oder Übertragen einer Bildaufnahme, die in grob anstößiger Weise eine verstorbene Person zur Schau stellt (Nr. 3).
Nr. 3 dient dem postmortalen Persönlichkeitsschutz, indem sie nicht minder anstößige Verhaltensweisen wie bspw. das Fotografieren oder Videografieren von getöteten oder tödlich verunfallten Menschen sanktioniert. Der Gesetzgeber nennt als Beispiel für eine grob anstößige Bildaufnahme den Fall, in dem eine Person verunglückt und ihr lebloser Körper verletzt und blutend oder entblößt am Boden liegend mittels Bildaufnahme zur Schau gestellt wird, wodurch der sittliche Geltungswert der Person verletzt wird (BT-Drs. 19/17795, S. 13). Zum Begriff der Übertragung s.o.
  • Gebrauchen oder einer dritten Person Zugänglichmachen einer durch eine Tat nach den Nrn. 1-3 hergestellten Bildaufnahme (Nr. 4).
Die Nr. 4 betrifft „Verwertungshandlungen“ in Bezug auf nach Nr. 1-3 hergestellte oder übertragene Bildaufnahmen. „Gebrauchen“ meint jede Nutzung der Bildaufnahme etwa durch Archivieren, Speichern oder Kopieren (BT-Drs. 15/2466, S. 5). Wie bei § 184k I Nr. 2 (im Verhältnis zu § 184k I Nr. 1) braucht der Täter des § 201a I Nr. 4 nicht auch Täter der „Vortat“, also einer Tat nach § 201a I Nr. 1-3, zu sein, da der Tatbestand eine solche Verknüpfung nicht fordert. Ist aber der Täter des § 201a I Nr. 4 auch Täter des § 201a I Nr. 1-3, stellt sich schließlich die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis der beiden Tatbestände zueinander. Hierzu kann auf die Ausführungen zu § 184k verwiesen werden (Aktuelles-Beitrag v. 3.1.2021).

Einer dritten Person zugänglich machen bedeutet die Verschaffung einer Verfügungsgewalt der dritten Person über die unbefugt hergestellte oder übertragene Bildaufnahme. Das kann etwa dadurch geschehen, dass der Täter einer anderen Person die Bildaufnahme (via E-Mail) zusendet oder sie schlicht veröffentlicht, insbesondere ins Netz stellt. Denn ins Netz gestellte Bild- oder Videoaufnahmen lassen sich ohne weiteres herunterladen und speichern.
  • Nr. 5 ist kompliziert aufgebaut. Strafbar macht sich, wer eine befugt hergestellte Bildaufnahme der in den Nrn. 1-3 bezeichneten Art wissentlich unbefugt einer dritten Person zugänglich macht und in den Fällen der Nr. 1 und 2 dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt.
Wie aufgezeigt, geht es zunächst um eine befugt (also i.d.R. mit Einverständnis der betroffenen Person) hergestellte Bildaufnahme der in den Nrn. 1-3 bezeichneten Art. Das ist insoweit strafrechtlich irrelevant. Strafbar ist es aber, wenn diese dann wissentlich unbefugt einer dritten Person zugänglich gemacht wird und in den Fällen der Nrn. 1 und 2 dadurch der höchstpersönliche Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt wird.

Beispiel: Während einer außerehelichen intimen Liebesbeziehung mit T ließ O von diesem in ihrer Wohnung zahlreiche Bild- und Filmaufnahmen fertigen, auf denen sie unbekleidet und teilweise bekleidet sowie vor, während und nach dem Geschlechtsverkehr mit T zu sehen ist. Nachdem O die Beziehung beendet hatte, stellte T die Fotos und Videos ins Internet.

Die Bild- und Filmaufnahmen wurden zunächst befugt hergestellt, da O ihr Einverständnis erteilt hatte. Sodann aber war das Einstellen ins Internet (und damit Dritten Zugänglichmachen) unbefugt, weil man davon ausgehen darf, dass O die Einwilligung zur Fertigung von Nackt-, Intim- und/oder Aktfotos konkludent nur für die Dauer der Beziehung erteilt hatte. Das unbefugte Einstellen ins Internet verletzte den höchstpersönlichen Lebensbereich der O; T ist strafbar gem. § 201a I Nr. 5.

§ 201a II S. 1 stellt es ebenso unter Strafe, wenn der Täter unbefugt von einer anderen Person eine Bildaufnahme, die geeignet ist, dem Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu schaden, einer dritten Person zugänglich macht. Dies gilt gem. § 201a II S. 2 unter den gleichen Voraussetzungen auch für eine Bildaufnahme von einer verstorbenen Person.
  • Unbefugt eine Bildaufnahme von einer anderen Person, die geeignet ist, dem Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu schaden, einer dritten Person zugänglich machen.
Wie aus der Formulierung hervorgeht, muss die Bildaufnahme nicht unbefugt hergestellt worden sein. So können bspw. Partyfotos, die mit Einverständnis der anwesenden Personen gefertigt werden, Situationen zeigen, die nicht der Öffentlichkeit zugänglich sein sollen, weil sie etwa eine Peinlichkeit oder eine entwürdigende Situation erfassen. Werden diese Fotos dann gleichwohl (ohne Einverständnis der gezeigten Personen) z.B. ins Internet gestellt, können sie (aufgrund der bloßstellenden Wirkung) geeignet sein, dem Ansehen (d.h. dem sozialen Geltungswert) der abgebildeten Person(en) erheblich zu schaden.
  • Unbefugt eine Bildaufnahme von einer verstorbenen Person, die geeignet ist, dem Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu schaden, einer dritten Person zugänglich machen.
Im Fokus dieser Tatvariante steht das Ansehen Verstorbener bzw. die Pietät.       

Die gleiche Strafandrohung hat der Gesetzgeber vorgesehen für einen Täter, der eine Bildaufnahme, die die Nacktheit einer anderen Person unter achtzehn Jahren zum Gegenstand hat,
  • herstellt oder anbietet, um sie einer dritten Person gegen Entgelt zu verschaffen, oder
  • sich oder einer dritten Person gegen Entgelt verschafft (§ 201a III).
Die Intention des Gesetzgebers ist klar: Er möchte den Anreiz des Handels mit kinderpornographischen Inhalten unterbinden. Freilich darf trotz des mehr als berechtigten Anliegens nicht übersehen werden, dass ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 II GG) nicht von der Hand zu weisen ist.

Einen partiellen Tatbestandsausschluss formuliert § 201a IV. Die dort genannten Tatbestände gelten nicht für Handlungen, die in Wahrnehmung überwiegender berechtigter Interessen erfolgen. Als „überwiegende berechtigte Interessen“ nennt der Gesetzgeber Interessen der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnliche Zwecke. Mit dieser Regelungstechnik möchte der Gesetzgeber den genannten Interessen nicht erst im Rahmen des Merkmals „unbefugt“ oder gar der Rechtfertigungsebene Geltung verschaffen.

Rolf Schmidt (06.07.2021)



23.06.2021: Neuer Geldwäschetatbestand (§ 261 StGB)

Gesetz zur Verbesserung der strafrechtlichen Bekämpfung der Geldwäsche v. 9.3.2021 (BGBl I, S. 327) 

Mit dem o.g. Gesetz wurde der Geldwäschetatbestand des § 261 StGB (im Folgenden sind alle §§ solche des StGB, sofern nicht anders gekennzeichnet) grundlegend geändert. Hintergrund war die Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2018/1673 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2018 über die strafrechtliche Be­kämpfung der Geldwäsche. 

A. Notwendigkeit und (Schutz-)Zweck des Geldwäschetatbestands
Geldwäsche bezeichnet die Überführung von illegal erwirtschafteten Vermögenswerten in den legalen Finanz- und Wirtschaftskreislauf. Die illegal erwirtschafteten Vermögenswerte sind regelmäßig das Ergebnis – nicht zwingend organisierter – illegaler Tä­tigkeiten wie z.B. Drogenhandel, Waffenhandel, aber auch Steuerhinterziehung. Durch die Straftat der „Geldwäsche“ sollen die illegale Herkunft von Ver­mögenswerten verschleiert, diese dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden bzw. Steuerbehörden entzogen und Erlöse aus krimineller Tätigkeit durch möglichst unauffällige Geschäftstransaktionen, wie etwa Kauf und Verkauf von Immobilien oder Wertpapieren, in den legalen Wirtschaftskreislauf überführt werden. Damit wird zugleich die grenzüberschreitende Bedeutung dieses Delikts erkennbar, was die Anwendung moderner und wirksamer Verbrechensbekämpfungsmethoden auf internationaler Ebene erforderlich macht. Zu diesem Zweck hat die Europäische Union zahlreiche Verordnungen und Richtlinien erlassen. Zu nennen sind bspw. die Geldtransfer-Verordnung (Verordnung (EU) 2015/847 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2015 über die Übermittlung von Angaben bei Geldtransfers) und die Vierte Geldwäscherichtlinie (Richtlinie (EU) 2015/849 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung), die vom Bundestag mit Gesetz vom 23.6.2017 in nationales Recht überführt bzw. umgesetzt wurden und Änderungen zahlreicher Rechtsvorschriften nach sich zogen (BGBl I 2017, S. 1822; siehe auch anschließend das Gesetz zur Umsetzung der Änderungsrichtlinie zur Vierten EU-Geldwäscherichtlinie (EU) 2018/843, BGBl I 2019, S. 2602). Auch hat am 19.12.2016 der Bundestag ein Zustimmungsgesetz erlassen zu dem Übereinkommen des Europarates vom 16.5.2005 über Geldwäsche so­wie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten und über die Finanzierung des Terrorismus (BGBl II 2016, S. 1370). Danach verpflichten sich die Vertragsstaaten zu entsprechenden gesetzgeberischen und anderen Maßnahmen, um die im Übereinkommen ge­nannten Ziele zu erreichen. Insbesondere zählen dazu das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von illegal erworbenem Vermögen (Art. 5 des Zustimmungsgesetzes). Auch besteht die Pflicht der Vertragsstaaten, bestimmte vorsätzlich begangene Handlungen nach ihrem innerstaatlichen Recht als Straftaten der Geldwäsche zu umschreiben (Art. 9 des Zustimmungsgesetzes). Daneben musste die Richtlinie (EU) 2018/1673 (Richtlinie (EU) 2018/1673 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2018 über die strafrechtliche Bekämpfung der Geldwäsche) in nationales Recht umgesetzt werden. Der deutsche Gesetzgeber war daher veranlasst, (auch) den Geldwäschetatbestand zu ändern, was zuletzt mit dem Gesetz zur Verbesserung der strafrechtlichen Bekämpfung der Geldwäsche v. 9.3.2021 (BGBl I, S. 327) geschehen ist. Da die Richtlinie (EU) 2018/1673 lediglich Mindestvorschriften für die Definition von Straftatbeständen und Sanktionen zur Be­kämpfung der Geldwäsche enthält (siehe Art. 1 I der RL), war der Gesetzgeber frei, auch weitergehende Regelungen zu erlassen. Insgesamt wurde der Tatbestand des § 261 umfassend geändert.  

Aus diesen Vorgaben ergibt sich der Schutzzweck des Geldwäschetatbestands. Dieser besteht darin, die Geldwäsche, also die Überführung von illegal erwirtschafteten Vermögenswerten in den legalen Finanz- und Wirtschaftskreislauf, unter Strafe zu stellen, wenn die Tat vorsätzlich und mit dem Wissen begangen wird, dass die Vermögensgegenstände aus einer kriminellen Tätigkeit stammen (siehe Erwägungsgrund 13 zur Richtlinie (EU) 2018/1673 sowie BT-Drs. 19/24180, S. 12 f.).

In der universitären Ausbildung wurde der Strafnorm des § 261 dagegen lange Zeit kaum Beachtung geschenkt, obwohl die Geldwäsche und die damit verbundene Terrorismusfinanzierung und organisierte Kriminalität bedeutende Probleme nicht nur auf na­tionaler Ebene mit sich bringen, die der Integrität, der Stabilität und dem Ansehen des Finanzsektors schaden und sowohl den europäischen Binnenmarkt als auch die innere Sicherheit der Union gefährden (siehe Erwägungsgrund 1 zur Richtlinie (EU) 2018/1673). Aber auch für das systematische Verständnis und „Zusammenspiel“ der §§ 257, 258 und 259 ist die Geldwäsche von erheblicher Bedeutung. § 261 wurde – nicht zuletzt aufgrund seines selektiven Vortatenkatalogs in Bezug auf Vergehen bei den Vortaten – die Funktion einer Lückenschließung, eines Auffangtatbestands, beigemessen (BGHSt 48, 240, 247). Durch die am 18.3.2021 in Kraft getretene Neufassung wurde der Anwendungs­bereich des § 261 nunmehr aber erheblich erweitert. Als Vortaten einer Geldwäsche sind nach der novellierten Gesetzeslage – wie sich aus § 261 I S. 1 ergibt, wo von „rechts­widriger Tat“ gesprochen wird und womit gem. § 11 I Nr. 5 alle Taten gemeint sind, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen – alle Straftaten möglich. Schließlich ist zu beachten: Bei allen Straftatbeständen nach § 261 handelt es sich um Vergehen, sodass der Gesetzgeber die Strafbarkeit des Versuchs anordnen musste (§ 261 III), um diesen zu erfassen. 
  • Verhältnis zu § 257: § 257 setzt die rechtswidrige Tat eines anderen voraus und erfasst nur die Sicherung unmittelbarer Tatvorteile, nicht hingegen die Sicherung von Surrogaten. Probleme, v.a. bei Strafverteidigern, bereitet stets der Nachweis bezüglich einer Vorteilssicherungsabsicht. Dem Täter muss es darauf ankommen, im Interesse des Vortäters die Wiederherstellung des gesetzmäßigen Zustands zu verhindern oder zu erschweren. Der Tatbestand des § 261 kann demgegenüber auch vom Vortäter verwirklicht werden (zu beachten ist aber § 261 VII). Bei § 261 ist Tatobjekt ein Gegenstand, d.h. eine Sache oder ein Recht. Der Gegenstand muss nur aus einer rechtswidrigen Tat herrühren. Erfasst werden unter dem Merkmal des „Herrührens“ auch Ersatzgegenstände (Surrogate), die ohne wesentliche Wertveränderung an ihre Stelle getreten sind.
  • Verhältnis zu § 258: Die Strafvereitelung setzt wie § 257 einen „anderen“ Vortäter voraus. § 258 I Var. 1 stellt an den subjektiven Tatbestand hohe Anforderungen. Der Vereitelungstäter muss Kenntnisse in Bezug auf einen bestimmten Vortäter und eine konkrete Tat haben und insoweit absichtlich oder wissentlich handeln. Täter der Geldwäsche kann auch der Vortäter sein (beachte aber § 261 VII). § 261 stellt weitaus geringere Anforderungen an den Vorsatz und lässt bedingten Vorsatz, in Absatz 6 S. 1 sogar leichtfertiges Handeln genügen. Die Annahme verschiedener Herkunftsmöglichkeiten ist ausreichend. Der Täter muss nicht im Einzelnen konkretisierte Vorstellungen bezüglich der vorausgegangenen rechtswidrigen Tat haben.
  • Verhältnis zu § 259: Die Hehlerei setzt ebenfalls die Tat eines anderen voraus. Taugliches Tatobjekt des § 259 ist nur ein körperlicher Gegenstand (keine Forderungen, keine Rechte oder sonstige geistige Erzeugnisse), der unmittelbar aus der Vortat stammt. Wenn beispielsweise ein Kreditinstitut zwischengeschaltet wird, scheidet die Unmittelbarkeit aus. Die Ersatzhehlerei ist bzgl. § 259 straflos. Des Weiteren muss bei § 259 die Tat gegen fremdes Vermögen gerichtet sein, sodass etwa Erlöse aus Rauschgiftdelikten untauglich sind. Für Auslandstaten sind die §§ 257 ff. nur im Rahmen der Anwendbarkeit der §§ 5 ff. tauglich. § 261 IX Nr. 2 macht von diesem Grundsatz eine Ausnahme und kommt somit dem Globalisierungsgedanken der Bekämpfung (übernationaler) organisierter Kriminalität nach. Die Vortat eines anderen ist bei § 261 grds. nicht erforderlich (s.o.). Die Geldwäsche schließt damit aber nicht nur die Lücken des Hehlereitatbestands. § 261 spricht vielmehr von Gegenständen der Tat und meint alle vermögenswerten Sachen und Rechte, ohne sich auf Taten, die gegen fremdes Vermögen gerichtet sind, zu beziehen (vgl. § 261 I, der es genügen lässt, dass der Gegenstand aus einer beliebigen rechtswidrigen Tat herrührt). Erfasst wird im Rahmen des Merkmals „Herrühren“ zudem auch die „Verwertungskette“. So rührt der Gegenstand aus der Vortat, wenn er unter Beibehaltung seines Wertes durch einen anderen ersetzt wird (Ersatzgegenstände; Surrogate – BT-Drs. 19/24180, S. 28 f. mit Verweis auf BGH NStZ 2017, 28, 29). Vgl. im Übrigen zum Konkurrenzverhältnis zwischen Hehlerei und Geldwäsche am Ende dieses Beitrags.
B. Prüfung der Geldwäsche
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand nach § 261 I, II 
Täter der Geldwäsche kann – anders als bei §§ 257, 258 und 259 – jedermann, auch der Vortäter und ein anderer Beteiligter (zum Begriff des Beteiligten siehe § 28 II: Täter und Teilnehmer unterfallen dem Begriff des Beteiligten) sein. An der Geldwäsche Beteiligte sind jedoch gem. § 261 VII straflos, wenn sie wegen Beteiligung an der Vortat strafbar sind (Gedanke der mitbestraften Nachtat), außer, sie haben den Gegenstand in den Verkehr gebracht und dabei dessen rechtswidrige Herkunft verschleiert. Dann ist eine Strafbarkeit nach § 261 I-VI möglich.

Greift aber § 261 VII, handelt es sich um einen persönlichen Strafausschließungsgrund. Prü­fungsstandort ist nach der Schuld. Der Vorteil dieser Regelung ist, dass – auch bei Straffreiheit des Täters – Personen, die dem Täter bei der Geldwäsche Hilfe geleistet haben und nicht selbst wegen Beteiligung an der Vortat straflos sind, wegen Teilnahme an der Geldwäsche gem. § 261 I-VI zu bestrafen sind. 

Tatobjekt der Geldwäsche ist ein Gegenstand, der aus einer rechtswidrigen Tat herrührt (§ 261 I). Mit „Gegenstand“ ist jedes Rechtsobjekt gemeint, das einen Vermögens­wert hat (jedes „vermögenswerte Etwas“, das der Täter oder Teilnehmer aus der Vortat erlangt hat). Erfasst sind – wie sich aus Art. 9 der Richtlinie (EU) 2018/1673 ergibt –Tatprodukte (d.h. Taterträge), da diese der Einziehung (§ 74 I) unterliegen, worauf in Art. 9 der RL hingewiesen wird. Gemäß der Legaldefinition in § 74 I sind Tatprodukte Gegenstände, die durch eine vorsätzliche Tat hervorgebracht wurden. Hierunter sind Sachen wie auch Rechte (Forderungen) zu verstehen. In erster Linie werden jedoch das Bar- und Buchgeld erfasst, aber auch Wertpapiere, Immobilien, Kunstgegenstände, Edelmetalle und Edelsteine (siehe etwa Lackner/Kühl-Kühl, § 261 Rn. 3). Mit „rechtswidriger Tat“ ist jede Tat i.S.d. § 11 I Nr. 5 gemeint, also eine solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes ver­wirklicht.  

Der Gegenstand muss aus der Vortat herrühren. Der Schutzzweck der Norm gebietet es, den Begriff des „Herrührens“ weiter zu verstehen als das „Erlangen“ in § 259. Erfasst werden damit nicht nur Gegenstände, die unmittelbar durch die rechtswidrige Tat erlangt (etwa als Gewinn oder Entgelt) oder hervorgebracht (Herstellung von Falschgeld/Raubkopien/Telefonkarten­simulatoren/Designerdrogen) wurden, sondern auch sol­che, die ganz oder teilweise aus Austausch- oder Umwandlungshandlungen hervorgegangen sind, also auch Ersatzgegenstände (Surrogate – BT-Drs. 19/24180, S. 28 f. mit Verweis auf BGH NStZ 2017, 28, 29) Einschränkend gilt aber, dass diese nicht wesentlich auf der Leistung Dritter beruhen (BT-Drs. 19/24180, S. 29).

 Beispiele:
(1) Die Einzahlung von Drogengeldern auf ein Konto führt dazu, dass das Guthaben aus der Vortat herrührt. Werden mit dem Guthaben Überweisungen vorgenommen oder Sachen erworben, rühren diese ebenfalls aus der rechtswidrigen Vortat.

(2) Aber auch bei der Vermischung von unredlich erworbenem Geld und redlich erworbenem Vermögen liegt ein „Gegenstand“ i.S.d. § 261 I vor. Zahlt etwa der Täter aus einer rechtswidrigen Tat erlangte 5.000 € auf sein Konto ein und erhält zudem eine Überweisungsgutschrift von 2.000 € aus einem legalen Geschäft, stellt sich die Frage, ob der Betrag X, den der Täter anschließend auf das Konto einer anderen Person überweist, aus einer rechtswidrigen Tat stammt. Im Grundsatz gilt, dass das Erlangte dann Gegenstand der Geldwäsche ist, wenn etwa Überweisungen den redlich erlangten Anteil des Guthabens übersteigen (also hier über 2.000 €) (siehe Sch/Sch-Hecker, § 261 Rn. 9). 
 
(3) Da nunmehr auch Gegenstände aus Umwandlungshandlungen erfasst sind, liegt ein Fall des § 261 I auch vor, wenn z.B. gestohlener Goldschmuck eingeschmolzen und anschließend zu neuem Schmuck verarbeitet wird. Zwar erwirbt der Verarbeiter wegen § 950 BGB Eigentum am neuen Schmuck, jedoch stammt der neue Schmuck „mittelbar“ aus einer rechtwidrigen Vortat und unterfällt dem Tatbestand des § 261 I. Etwas anderes gilt nach Auffassung des Gesetzgebers nur dann, wenn das Surrogat wesentlich auf der Leistung Dritter beruhe (BT-Drs. 19/24180, S. 29).

(4) Werden Gegenstände durch gutgläubige Dritte rechtsfehlerfrei erworben (§§ 932, 935 II BGB), schied bislang eine Strafbarkeit wegen § 261 VI a.F. aus. Durch Aufgabe dieser Vorschrift greift also nunmehr auch hier der weite Geldwäschetatbestand. Das ist auch der Wille des Gesetzgebers, der zum Ausdruck bringt, dass eine wirtschaftliche Betrachtungsweise maßgeblich sei, wonach Gegenstände als bemakelt anzusehen seien, wenn sie sich im Sinne eines Kausalzusammenhangs auf die Vortat zurückführen ließen (BT-Drs. 19/24180, S. 29).

(5) Aber auch nach der Neufassung des § 261 ginge es zu weit, lediglich mittelbare Erträge und Ge­winne aus der Vortat ohne weiteres als Gegenstände der Geldwäsche anzusehen. Eine gegenteilige Annahme liefe Gefahr, gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 II GG zu verstoßen. So ist auch der Gesetzgeber der Auffassung, dass bspw. Einnahmen aus der Vermietung eines gestohlenen Autos zwar als Nutzungen gem. § 73 II einzuziehen, nicht aber von der Geldwäschestrafbarkeit erfasst seien, solange das Auto selbst noch abgrenzbar vorhanden sei (BT-Drs. 19/24180, S. 29). Mittelbare Erträge und Ge­winne sollen nach Auffassung des Gesetzgebers aber in den Geldwäschetatbestand einbezogen werden, wenn sie mit einem Surrogat vermischt sind. Dann erstrecke sich die „Kontamination“ des Tatertrags oder Tatprodukts auf das gesamte Surrogat (BT-Drs. 19/24180, S. 29). 

Die Tathandlungen des Grunddelikts sind nach § 261 I und II zu differenzieren. Während Abs. I das Verbergen, Vereiteln, Umtauschen, Übertragen, Verbringen, Verschaffen, Verwahren, Verwenden und Annehmen nennt, erfasst Abs. II das Verheimlichen und Verschleiern. Im Einzelnen gilt:

Täter verbirgt einen Gegenstand, der aus einer rechtswidrigen Tat herrührt (§ 261 I S. 1 Nr. 1) 
Mit „Verbergen“ ist jede Handlung gemeint, die den Zugang zu dem Vermögensgegenstand erschweren soll (BT-Drs. 19/24180, S. 30). Diese final formulierte Tathandlung setzt – wie bei der bisherigen Gesetzesfassung – also keinen „Verbergungserfolg“ voraus, sondern lässt das Verschleiern der Herkunft eines Gegenstands genügen und „umfasst alle irreführenden Machenschaften, die darauf abzielen, einem Tatobjekt den Anschein einer anderen (legalen) Herkunft zu verleihen oder zumindest die wahre Herkunft zu verbergen“ (BGH NStZ 2017, 28, 29). Aus der Finalität des Begriffs „Verbergen“ folgt nach dem BGH, dass das Täterverhalten zwar nicht kausal, allerdings konkret geeignet sein muss, den Herkunftsnachweis zu erschweren. Der Täter müsse zielgerichtet vorgehen, ohne dass diese Bemühungen aus der Sicht der Strafverfolgungsbehörden zum Erfolg geführt haben müssen (BGH NStZ 2017, 28, 29). Damit entspricht die Auslegung des Begriffs „Verbergen“ Art. 3 I b) der Richtlinie (EU) 2018/1673, wonach die Mitgliedstaaten gewährleisten müssen, dass unter Strafe gestellt wird: die Verheimlichung oder Verschleierung der wahren Natur, Herkunft, Lage, Verfügung oder Bewegung von Vermögensgegenständen oder von Rechten oder Eigentum an Vermögensgegenständen in Kenntnis der Tatsache, dass diese Gegenstände aus einer kriminellen Tätigkeit stammen.

Beispiel (nach BGH NStZ 2017, 28): Wenn illegal beschafftes Geld in die Renovierung einer Immobilie gesteckt und diese dann zu einem (erheblich) höheren Preis verkauft werden soll bzw. wird, hat der Täter einen Gegenstand aus einer rechtswidrigen Tat „verborgen“.  

Täter tauscht um, überträgt oder verbringt einen Gegenstand, der aus einer rechtswidrigen Tat herrührt, in der Absicht, dessen Auffinden, dessen Einziehung oder die Ermittlung von dessen Herkunft zu vereiteln (§ 261 I S. 1 Nr. 2)
Wie ohne weiteres erkennbar ist, stehen der Umtausch und der Transfer von Vermögens­gegenständen als Tathandlung im Zentrum dieser Tatvariante. „Umtausch“ meint die Weggabe des ursprünglichen Vermögensgegenstands und die Erlangung einer Gegenleistung (einer anderen Sache oder eines anderen Vermögensguts). Die „Übertragung“ soll sich nach der amtlichen Begründung schwerpunktmäßig auf Rechte beziehen (BT-Drs. 19/24180, S. 31). Aber auch die rechtsgeschäftliche Übertragung des Eigentums an einer Sache (nach § 929 BGB bzw. § 925 BGB) von einer Person auf eine andere ist eine Übertragung und damit hinsichtlich des Geldwäschetatbestands erfasst. Mit „Verbringung“ dürfte schlicht eine Ortsveränderung hinsichtlich des Geldwäschegegenstands gemeint sein. 

Der Täter muss zudem in der Absicht handeln, das Auffinden des Tatgegenstands, dessen Einziehung oder die Ermittlung von dessen Herkunft zu vereiteln. Da diese „Vereitelungsabsicht“ keine Entsprechung im objektiven Tatbestand hat, handelt es sich insoweit um ein Delikt mit „überschießender Innentendenz“ bzw. um ein „kupiertes Erfolgsdelikt“ (wie bei § 242, siehe dort Rn. 83 ff.). Das entspricht Art. 3 I a) der Richtlinie (EU) 2018/1673, wonach der Täter in Kenntnis der Tatsache handeln muss, dass diese Gegenstände aus einer kriminellen Tätigkeit stammen, und zum Zwecke der Verheimlichung oder Verschleierung des illegalen Ursprungs der Vermögensgegenstände oder der Unterstützung einer Person, die an einer solchen Tätigkeit beteiligt ist, damit diese den Rechtsfolgen ihrer Tat entgehen. Mit der Formulierung „zum Zwecke“ geht also auch der Unionsgesetzgeber offenbar von dolus directus 1. Grades aus. Die „Vereitelungsabsicht“ in § 261 I S. 1 Nr. 2 ist nicht anders zu verstehen („manipulative Tendenz“ des Täters, BT-Drs. 19/24180, S. 30). Zugleich wird damit deutlich, dass der staatliche Einziehungsakt nicht konkret, sondern lediglich abstrakt gefährdet sein muss. Daher handelt es sich bei Nr. 2 bzgl. der Vereitelung um ein abstraktes Gefährdungsdelikt (BT-Drs. 19/24180, S. 31 spricht von der gesamten Nr. 2 als abstraktes Gefährdungsdelikt. Das ist nicht ganz korrekt, müssen ja die Tathandlungen Umtauschen, Übertragen bzw. Verbringen objektiv als Erfolg vorliegen).

Täter verschafft sich oder einem Dritten einen Gegenstand, der aus einer rechtswidrigen Tat herrührt (§ 261 I S. 1 Nr. 3) 
Mit „Verschaffen“ ist jede Besitzerlangung bzw. Verfügungsgewalt zu verstehen. Dazu zählt etwa, wenn der Geldwäscher aus rechtswidrigen Taten stammendes Geld bei Kreditinstituten einzahlt (aufgrund der mittlerweile sehr strengen Authentifizierungs-, Aufzeichnungs- und Meldevorschriften nach dem Geldwäschegesetz dürfte diese Tathandlung nur noch im „Bagatellbereich“ vorzufinden sein) oder in ein eigenes Unternehmen investiert. Auch die Entgegennahme von Geld aus illegalen Geschäften durch Notare, Strafverteidiger etc. ist ein Fall des „Verschaffens“. 

Obwohl der Gegenstand lediglich aus einer rechtswidrigen Tat (d.h. aus der Vortat) stammen muss und nach dem Normtext des § 261 kein kollusives Zusammenwirken mit dem Vortäter erforderlich ist, liegt es in der Natur der Sache, dass der Geldwäscher die Verfügungs­gewalt über die Sache/das Vermögensgut im Einvernehmen mit dem Vor­täter übertragen bekommen hat bzw. im Einvernehmen mit dem Vortäter die Verfügungsgewalt eines Dritten herstellt („abgeleiteter Erwerb“) (so bereits zur bisherigen Rechtslage (§ 261 II a.F.) BGH NJW 2010, 3730, 3732 ff.; Müko-Neuheuser, § 261 Rn. 68; Fischer, § 261 Rn. 24; auch der Reformgesetzgeber hält daran ausdrücklich fest (BT-Drs. 19/24180, S. 30). Diebstahl oder Raub eines aus der Vortat stammenden Gegenstands erfüllen den Geldwäschetatbestand also keinesfalls (BGH NStZ-RR 2010, 53, 54). Fraglich ist aber, ob das Einvernehmen des Vortäters frei von Willensmängeln sein muss. Der BGH verneint diese Frage (BGH NJW 2010, 3730, 3732 ff. zu § 261 II Nr. 1 a.F. – jetzt § 261 I S. 1 Nr. 3). Das überzeugt nicht. Denn wenn der Vortäter infolge von Täuschung oder Nötigung in die Übertragung der Verfügungsgewalt „einwilligt“, kann nicht wirklich von „Einvernehmen“ gesprochen werden (wie hier Putzke, StV 2011, 176, 179 – zu § 261 II Nr. 1 a.F.). Die Auffassung des BGH hat zudem eine bedenkliche Ausweitung des § 261 I S. 1 Nr. 3 zur Folge und gerät somit mit dem Bestimmt­heitsgrundsatz aus Art. 103 II GG in Kollision. Schließlich ist sie auch kriminalpolitisch nicht geboten. Denn das getäuschte bzw. genötigte Opfer ist bereits hinlänglich durch andere Tatbestände (etwa durch den Betrug gem. § 263 oder die Erpressung gem. §§ 253, 255) geschützt. 

Täter verwahrt oder verwendet für sich oder einen Dritten einen Gegenstand, der aus einer rechtswidrigen Tat herrührt, wenn er dessen Herkunft zu dem Zeitpunkt gekannt hat, zu dem er ihn erlangt hat (§ 261 I S. 1 Nr. 4) 
Diese Variante entspricht § 261 II Nr. 2 a.F. „Verwahren“ bedeutet, dass eine Sache in Gewahrsam genommen oder behalten wird, um sie für einen Dritten oder für eine eigene spätere Verwendung zu erhalten (BGH NJW 2019, 1311, 1314). Unter „Verwenden“ versteht man den wirtschaftlichen Gebrauch, insbesondere das Tätigen von Geldgeschäften. Beiden Varianten ist gemeinsam, dass auch sie nur mit Einverständnis des Vortäters begangen werden können (BGH NStZ-RR 2010, 53, 54). Die gesetzliche Formulierung „gekannt“ lässt auf das Erfordernis eines „sicheren Wissens“ (dolus directus 2. Grades) bzgl. der Herkunft schließen, was aber dem Gesetzgeber zufolge als „bedingter Vorsatz“ (dolus eventualis) zu verstehen ist (BT-Drs. 19/24180, S. 31). Maßgeblicher Zeitpunkt für den Vorsatz ist aber der des Erlangens, was dazu führt, dass derjenige, der einen inkriminierten Vermögensgegenstand zunächst gutgläubig erlangt und erst später davon erfährt, dass dieser Vermögensgegenstand aus einer Geldwäschevortat stammt, nicht wegen Geldwäsche strafbar ist (BT-Drs. 19/24180, S. 31).

Täter verheimlicht oder verschleiert Tatsachen, die für das Auffinden, die Einziehung oder die Ermittlung der Herkunft eines Gegenstands nach § 261 I von Bedeutung sein können (§ 261 II) 
Bei dieser Tathandlung geht es um die Sanktionierung von Verdunkelungshandlungen, die darin bestehen, dass den Ermittlungsbehörden der Zugang zum Tatobjekt oder dessen Einziehung erschwert wird (BT-Drs. 19/24180, S. 33). Da ein Verheimlichen und ein Verschleiern denklogisch nicht ohne entsprechende Absicht stattfinden können, ist ein zielgerichtetes Handeln erforderlich, das geeignet ist, den Ermittlungserfolg zu gefährden. Ein Erfolgseintritt in Form der Verhinderung des Ermittlungserfolgs ist insoweit aufgrund der Finalität der Handlungsbegriffe nicht erforderlich (BT-Drs. 19/24180, S. 33 mit Verweis auf BGH NStZ 2017, 28, 29). 

Der Täter muss Tatsachen verheimlichen oder verschleiern. Der Gesetzgeber knüpft hinsichtlich des Tatsachenbegriffs an § 263 I an und weist ausdrücklich auf die Übertragbarkeit der dazu entwickelten Rechtsprechung hin (BT-Drs. 19/24180, S. 33).

2. Subjektiver Tatbestand nach § 261 I, II
Bei § 261 I handelt es sich um ein Vorsatzdelikt i.S.d. § 15. Der Täter muss bzgl. des Gegenstands, der rechtswidrigen Tat, aus der er stammt, und des Herrührens mit mindestens dolus eventualis handeln. Der Täter muss allerdings nichts Konkretes über die Vortat wissen. Ausreichend ist die Annahme verschiedener Herkunftsmöglichkeiten. So fehlt es am Vorsatz, wenn der Täter irrig annimmt, dass ein Dritter den Gegenstand rechtsfehlerfrei und „legal“ erworben habe. Denn in diesem Fall liegt ein Tatumstands­irrtum (§ 16 I S. 1) vor. Sollte der Täter lediglich davon ausgehen, sein Verhalten erfülle keinen Tatbestand, ist an einen Verbotsirrtum nach § 17 zu denken (siehe BGHSt 43, 158 ff.). 

Dolus eventualis genügt auch bzgl. der Tathandlung nach Nr. 1. Bei Nr. 2 muss dolus directus 1. Grades vorliegen. Nr. 3 und 4 lassen wiederum dolus eventualis genügen. Bei § 261 II ist an sich dolus eventualis ausreichend, jedoch sind ein Verheimlichen und Verschleiern nicht ohne Absicht denkbar.  

3. Tatbestandseinschränkungen nach § 261 I S. 2 und S. 3
§ 261 I S. 2 betrifft den straflosen Vorerwerb. So ist der Tatbestand des § 261 I S. 1 Nr. 3 und 4 nicht erfüllt in Bezug auf einen Gegenstand, den ein Dritter zuvor erlangt hat, ohne hierdurch eine rechtswidrige Tat zu begehen (Beispiel: Rechtswidrig erlangtes Geld wird bei Kreditinstitut oder sonst wo eingezahlt; der Empfänger ist gutgläubig i.S.d. §§ 932, 935 II BGB). Der straflose Erwerb des Gegenstands durch eine Person führt dazu, dass die „Kontaminationskette“ bezüglich des Gegenstands unterbrochen ist und dieser damit aus dem Kreis der Tatobjekte der Geldwäsche ausscheiden kann (BT-Drs. 19/24180, S. 32). Damit knüpft das Gesetz an die Regelung des § 935 II BGB an und verhindert somit eine Strafverfolgung, wenn der Gegenstand ohnehin nicht mehr der Einziehung unterliegt. Zu beachten ist aber: Die Strafbarkeit wegen § 261 I S. 1 Nr. 1 und 2 ist von der Regelung des § 261 I S. 2 nicht betroffen. Ebenso wenig greift der Tatbestandsausschluss für die Tathandlungen des § 261 II, schon allein wegen seiner systematischen Stellung innerhalb des Tatbestands. 

§ 261 I S. 3 enthält eine Einschränkung zugunsten von Strafverteidigern. Nehmen diese ein Honorar für ihre Tätigkeit an, handeln sie in den Fällen des § 261 I S. 1 Nr. 3 und 4 nur dann vorsätzlich, wenn sie zum Zeitpunkt der Annahme des Honorars sichere Kenntnis von dessen Herkunft hatten. Es genügt also nicht, dass der Strafverteidiger eine Ahnung oder bloße Vermutung bzgl. der Herkunft des Honorars hat. Damit reagiert der Gesetzgeber auf ein Urteil des BVerfG (BVerfGE 110, 226, 256 ff.), in dem es um die Frage ging, ob sich Strafverteidiger und Rechtsanwälte wegen Geldwäsche strafbar machen, wenn sie von ihren Mandanten Vergütungen für Rechtsberatungen oder Prozessvertretungen annehmen und es dabei für möglich halten (oder gar sicher wissen), dass diese Gelder aus Straftaten i.S.d. § 261 I stammen (dem Urteil lag der Sachverhalt zugrunde, dass zwei Anwälte jeweils 200.000 DM als Honorar annahmen und von der betrügerischen Herkunft des Gelds Kenntnis hatten). Die Tatvarianten des § 261 I S. 1 Nr. 1 und 2 bleiben von der Straffreiheit aber ausgenommen. Wenn also ein Strafverteidiger einen Vermögensgegenstand, dessen kriminelle Herkunft er für möglich hält und billigt, verbirgt, in Vereitelungsabsicht umtauscht, überträgt oder verbringt oder diesbezügliche relevante Tat­sachen verheimlicht oder verschleiert, macht er sich strafbar (BT-Drs. 19/24180, S. 32). Ebenso wenig gilt die Straffreiheit für die Tathandlungen des § 261 II, schon allein wegen seiner systematischen Stellung innerhalb des Tatbestands.
 
II. Qualifikation nach § 261 IV
Eine Qualifikation zu § 261 I und II enthält § 261 IV, der eine erhöhte Strafe für nach § 2 GWG Verpflichtete vorsieht. Darunter fallen Mitarbeiter bestimmter Kreditinstitute, Finanzdienstleistungsinstitute, Finanzunternehmen, Kapitalverwaltungsgesellschaften, Rechtsanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer, Steuerberater, Immobilienmakler, Veranstalter und Vermittler von Glücksspielen. Zugleich wird deutlich, dass Täter nach § 261 IV nur jemand aus dem in § 2 GWG genannten Personenkreis sein kann, was die Tat auch zum Sonderdelikt macht. Andere Personen können daher lediglich Anstifter (§ 26) oder Teilnehmer (§ 27) sein, nicht aber Mittäter (§ 25 II). 
 
III. Rechtswidrigkeit und Schuld
Es gelten die allgemeinen Grundsätze.

IV. Strafzumessungsvorschrift nach § 261 V
Bei § 261 V handelt es sich nicht um eine Tatbestandsqualifikation, sondern um eine Strafzumessungsvorschrift mit Regelbeispielen. Favorisierter Prüfungsstandort ist somit nach der Schuld (zur Rechtsnatur von Strafzumessungsregeln (mit Regelbeispielen) vgl. R. Schmidt, StrafR BT II, 21. Aufl. 2019, Rn. 128 ff.). Nach § 261 V S. 2 liegt ein besonders schwerer Fall in der Regel vor, wenn der Täter gewerbsmäßig handelt oder als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Geldwäsche verbunden hat.
  • Wie bei den Regelbeispielen der §§ 243 I S. 2 Nr. 3 und 263 III S. 2 Nr. 1 liegt Gewerbsmäßigkeit vor, wenn der Täter in der Absicht handelt, sich durch wiederholte Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu verschaffen (vgl. auch Jannusch, NStZ 2012, 679). Liegt ein derartiges Gewinnstreben vor, ist schon die erste der ins Auge gefassten Tathandlungen als gewerbsmäßig anzusehen (BGH NStZ 2004, 265, 266; später auch Zieschang, JA 2008, 192, 194; zur Feststellung der Gewerbsmäßigkeit vgl. auch BGH wistra 2008, 342 f.). 
  • Eine Bande i.S.d. Strafrechts (und damit auch i.S.d. § 261 V) sind mindestens drei Personen, die sich mit dem Willen zusammengeschlossen haben, in Zukunft und ebenso für eine bestimmte Dauer mehrere eigenständige Taten zu verüben, die im Einzelnen noch ungewiss sind (BGHSt 46, 321, 338; vgl. auch BGH NJW 2002, 1662; BGH NJW 2004, 2840, 2842). Die Verbindung zur „fortgesetzten“ Begehung meint den Zusammenschluss zur wiederholten Tatbegehung. 
V. Leichtfertigkeit und Besonderheit für Strafverteidiger, § 261 VI
Während es sich bei § 261 I und II um Vorsatzdelikte i.S.d. § 15 handelt, für die der Gesetzgeber eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vorgesehen hat, sanktioniert er gem. § 261 VI S. 1 die Tatbegehung in den Fällen des § 261 I und II mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe, wenn der Täter leichtfertig nicht erkennt, dass es sich um einen Gegenstand nach § 261 I handelt. Leichtfertigkeit i.S.v. § 261 VI S. 1 liegt vor, wenn sich dem Täter die Herkunft des Vermögensgegenstands aus einer Straftat (Tatertrag oder Tatprodukt) oder das Vorliegen eines entsprechenden Surrogats geradezu aufdrängt und er dennoch handelt, weil er dies aus grober Unachtsamkeit oder Gleichgültigkeit außer Acht lässt (BGHSt 43, 158, 168; BGH NJW 1997, 3323, 3325; BGH NStZ-RR 2015, 13, 14; BGH NStZ-RR 2019, 145, 146 zu § 261 V a.F.). Gemäß § 261 VI S. 2 gilt die Vorschrift des § 261 VI S. 1 in den Fällen des § 261 I S. 1 Nr. 3 und 4 nicht für einen Strafverteidiger, der ein Honorar für seine Tätigkeit annimmt. Diese durch die doppelte Verneinung auf den ersten Blick nicht ganz einfach zu verstehende Regelung besagt, dass sich Strafverteidiger durch die Annahme eines Honorars in den Fällen des § 261 I S. 1 Nr. 3 und 4 nicht wegen leichtfertiger Geldwäsche strafbar machen können; erforderlich ist hier also Vorsatz auch in Bezug auf die Herkunft des Gegenstands. Damit reagiert der Gesetzgeber auf ein Urteil des BVerfG (BVerfGE 110, 226, 245 ff.), dem zufolge Strafverteidiger nur dann wegen Geldwäsche strafbar sein sollen, wenn sie im Zeitpunkt der Annahme ihres Honorars sichere Kenntnis von dessen Herkunft hatten. Freilich bleibt die Strafbarkeit des Strafverteidigers in den Fällen des § 261 I S. 1 Nr. 1 und 2 sowie des § 261 II hiervon unberührt und ist somit auch dann gegeben, wenn der Täter leichtfertig verkennt, dass es sich um einen Gegenstand nach § 261 I handelt. 

VI. Straflose Selbstgeldwäsche, § 261 VII
Wer bereits wegen Beteiligung an der Vortat strafbar ist, soll im Grundsatz nicht noch zusätzlich wegen Geldwäsche strafbar sein, wenn er den Gegenstand (d.h. den Tatertrag, das Tatprodukt oder ein Surrogat) in den Verkehr bringt. Denn ein solches Verhalten ist vom Vortäter typischerweise zu erwarten und verwirklicht daher – ähnlich wie bei der Hehlerei (§ 259) im Vergleich zur Vortat (etwa § 242) – kein gegenüber der Vortat eigenständiges Unrecht (BT-Drs. 19/24180, S. 34; siehe auch BGH NJW 2019, 533, 534 zu § 261 IX S. 2 a.F.). § 261 VII stellt dies klar und ist auch notwendig, weil § 261 I-VI die Selbstgeldwäsche nicht ausschließt. Denn nach diesen Vorschriften genügt ein Gegenstand, der aus einer (beliebigen) rechtswidrigen Tat herrührt und daher auch aus einer solchen, die Täter begangen hat (insofern unterscheidet sich § 261 von § 259, der bereits beim Tatobjekt darauf abstellt, dass dieses von einem anderen gestohlen oder sonst durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt wurde). Hat aber der Täter den Gegenstand (d.h. den Tatertrag, das Tatprodukt oder ein Surrogat) anschließend in den Verkehr gebracht und dabei dessen rechtswidrige Herkunft verschleiert, begeht er gerade durch die Verschleierung weiteres, nicht bereits durch das Unrecht der Vortat abgegoltenes Unrecht und wird nach § 261 I-VI bestraft, sofern auch die übrigen Voraussetzungen dieser Vorschriften vorliegen. 

VII. Strafbefreiende Selbstanzeige, § 261 VIII
§ 261 VIII regelt unter den in der Vorschrift genannten Voraussetzungen eine Strafbefreiung bei freiwilliger Abgabe oder Veranlassung einer Selbstanzeige in Bezug auf eine (vollendete!) Tat nach § 261 I-VI („Rücktritt vom vollendeten Delikt“). Kommt lediglich eine Strafbarkeit wegen Versuchs in Frage, ist auf § 24 zurückzugreifen. Zu beachten ist, dass ein ernsthaftes Bemühen nicht ausreicht. Der Täter muss den Anzeigeerfolg tatsächlich (mit-)verursachen, insoweit sind die Voraussetzungen des § 261 VIII enger als die des § 24 (Sch/Sch-Hecker, § 261 Rn. 25; Lackner/Kühl-Kühl, § 261 Rn. 17a).

Hinweis für die Fallbearbeitung: Die Formulierung „wird nicht bestraft“ führt nach zutreffender herrschender Auffassung (LK-Lilie/Albrecht, § 24 Rn. 46; Fischer, § 24 Rn. 2; Sch/Sch-Eser/Bosch, § 24 Rn. 5; Lackner/Kühl-Kühl, § 24 Rn. 1; vgl. auch Neubacher, NStZ 2003, 576 ff.) nicht dazu, dass der Täter lediglich ohne Schuld handelt (sonst hätte der Gesetzgeber etwa wie bei § 35 I S. 1 formuliert: „handelt ohne Schuld“). Vielmehr lässt die Formulierung auf einen persönlichen Strafaufhebungsgrund schließen. Systematischer Prüfungsstandort im Gutachten ist also nach der Schuld.
  
VIII. Geldwäsche mit Auslandsbezug, § 261 IX
Dass im Inland Geldwäschestraftaten auch an Vermögensgegenständen begangen werden (können), die aus im Ausland begangenen Straftaten stammen, stellt keine Seltenheit dar. Folgerichtig ordnet § 261 IX eine Strafbarkeit an, wenn die Tat nach deutschem Strafrecht eine rechtswidrige Tat wäre und entweder am Tatort mit Strafe bedroht ist oder nach einer der in § 261 IX genannten Vorschriften und Übereinkommen der Europäischen Union mit Strafe zu bedrohen ist.

IX. Einziehung von Vermögensgegenständen, § 261 X
Gemäß § 261 X S. 1 können Gegenstände, auf die sich die Straftat bezieht, eingezogen werden. § 74a ist gem. § 261 X S. 2 anzuwenden. §§ 73 bis 73e bleiben gem. § 261 X S. 3 unberührt und gehen einer Einziehung nach § 74 II, auch i.V.m. §§ 74a und 74c, vor.

X. Konkurrenzverhältnis zur Hehlerei
Das Konkurrenzverhältnis zwischen Hehlerei und Geldwäsche wurde bereits oben angesprochen. Dennoch sind Fallkonstellationen anzutreffen, in denen sowohl Hehlerei als auch Geldwäsche erfüllt sind. 

Beispiel (nach BGH NJW 2006, 1297 ff.): H betreibt einen weltweiten Handel mit gebrauchten Flugzeugteilen. Der bei dem Flugzeugwerk O angestellte D verkaufte ihm in 55 Fällen Flugzeugteile im Neuwert von rund 3,5 Mio. €, die von O zur Verschrottung ausgesondert worden waren. Da die Verschrottung der Teile nach deren Aussonderung nur nachlässig überwacht wurde, gelang es D, die Teile entgegen einer Anweisung der Unternehmensleitung vom Firmengelände zu entfernen und dem H zum Kauf anzubieten, der ihm dafür insgesamt rund 450.000 € zahlte. Obwohl D ihm versicherte, O wolle „den Schrott loswerden“ und habe seinen Mitarbeitern die Mitnahme und Veräußerung erlaubt, hielt H es für möglich, dass D die Flugzeugteile ohne Einverständnis des O mitgenommen habe. Dennoch übernahm er die Teile. Strafbarkeit von D und H?

D ist wegen Diebstahls strafbar, weil er die Flugzeugteile dem O weggenommen hat, um sie sich rechtswidrig zuzueignen. Auch liegt ein besonders schwerer Fall des Diebstahls gem. § 243 I S. 2 Nr. 3 vor, da es D darauf ankam, sich aus wiederholter Begehung eine Haupt- oder wenigstens Nebeneinnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu schaffen. 

H könnte sich durch den Ankauf der Flugzeugteile wegen gewerbsmäßiger Hehlerei (§§ 259, 260 I Nr. 1) strafbar gemacht haben.

Die Flugzeugteile waren „Sachen, die ein anderer gestohlen hat“. Auch hat H die Sachen angekauft und von D übergeben bekommen.

H handelte vorsätzlich, da er es billigend in Kauf genommen hat, dass D die Teile gestohlen hatte. Und dadurch, dass er die Teile gewinnbringend weiterveräußern wollte, handelte er in der Absicht, sich zu bereichern. Geht man aufgrund der Tatsache, dass H bereits 55 Mal von D Flugzeugteile angekauft hat, schließlich davon aus, dass H sich aus den wiederholten Ankäufen eine fortlaufende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer ver­schafft hat bzw. weiterhin verschaffen wollte, hat er die Hehlerei „gewerbsmäßig“ gem. § 260 I Nr. 1 begangen. 

Zur Frage nach der (zusätzlichen) Strafbarkeit wegen Geldwäsche gilt: H hat zusätzlich zur Hehlerei den Tatbestand der Geldwäsche erfüllt, und zwar gem. § 261 I S. 1 Nr. 3: Die Flugzeugteile stammten aus einer rechtswidrigen Tat (hier: gewerbsmäßiger Diebstahl gem. § 242 I i.V.m. § 243 I S. 2 Nr. 3). H hat sich auch die Teile durch ihren Ankauf i.S.v. § 261 I S. 1 Nr. 3 verschafft. Schließlich handelte H auch vorsätzlich, da er beim Erwerb der Flugzeugteile in Kauf genommen hatte, dass D sie gewerbsmäßig gestohlen hatte. Aufgrund des gewerbsmäßigen Vorgehens hat H auch einen besonders schweren Fall der Geldwäsche begangen (§ 261 V S. 1, S. 2 Var. 1).

Da die Handlungsformen des Verschaffens in § 259 I einerseits und in § 261 I S. 1 Nr. 3 andererseits übereinstimmen, sind beide Tatbestände erfüllt, weil die Vortat der Hehlerei – wie im obigen Beispiel – zugleich eine rechtswidrige Tat i.S.v. § 261 I darstellt. Das wirft die Frage nach dem Verhältnis der beiden Tatbestände zueinander auf.

Da die gewerbsmäßige Hehlerei bereits das Unrecht abzugelten scheint, erscheint ein zusätzlicher Schuldspruch aus der Geldwäsche nicht geboten (Gedanke der „mitbestraften Nachtat“). So tritt nach Auffassung des BGH (in Bezug auf die Vorgängerversion des § 261) die Geldwäsche hinter die gewerbsmäßige Hehlerei zurück, während sie neben der einfachen Hehlerei anwendbar bleibt: Sei das Ankaufen der Flugzeugteile durch H als gewerbsmäßige Hehlerei zu bewerten, trete der Straftatbestand der Geldwäsche dahinter zurück. Für die tateinheitliche Verurteilung wegen Geldwäsche fehle es in diesem Fall an einem kriminalpolitischen Bedürfnis, da die gewerbsmäßige Hehlerei bereits eine Katalogtat nach § 261 I S. 2 a.F. (ergänze: eine rechtswidrige Tat nach § 261 I n.F.) darstelle. Daher mache es in dem Fall, dass eine Verurteilung schon wegen einer Katalogtat (ergänze: wegen einer rechtswidrigen Tat) erfolgt, wenig Sinn, die Tat als Geldwäschehandlung einem weiteren Straftatbestand zu unterwerfen (BGH NJW 2006, 1297, 1298 ff. unter Berufung auf BGH wistra 2000, 464, 465).

Stellungnahme: Da das jeweilige Strafmaß identisch ist (sechs Monate bis zehn Jahre), erscheint es auf den ersten Blick tatsächlich nicht angebracht, H wegen gewerbsmäßiger Geldwäsche zu bestrafen, da sein Unrecht bereits durch die gewerbsmäßige Hehlerei abgegolten erscheint. Bei der Frage, ob das Zurücktreten der gewerbsmäßigen Geldwäsche hinter die gewerbsmäßige Hehlerei überzeugt, könnte aber auch die Regelung des § 261 VII heranzuziehen sein. Denn danach wäre H hinsichtlich der Geldwäsche straflos, wenn er wegen Beteiligung an der Hehlerei strafbar wäre, außer, er hätte den Gegenstand in den Verkehr gebracht und dabei dessen rechtswidrige Herkunft verschleiert. Von Letzterem ist aber gerade auszugehen, da H die Flugzeugteile (mit Gewinn) weiterveräußert und dabei offensichtlich die rechtswidrige Herkunft verschleiert hat. Greift daher der Gedanke der „mitbestraften Nachtat“ nicht, erscheint es angemessen, H auch (oder nur) wegen gewerbsmäßiger Geldwäsche zu bestrafen.

Im Fall des Zusammentreffens von einfacher Hehlerei und Geldwäsche greift aber nach Auffassung des BGH das kriminalpolitische Argument für ein Zurücktreten der Geldwäsche im Wege der Gesetzeskonkurrenz nicht, da die einfache Hehlerei nicht dem (ergänze: früheren) Katalog der als besonders gefährlich eingestuften Kriminalitätsformen unterfalle. In diesem Fall werde wegen der unterschiedlichen Schutzrichtungen des § 259 einerseits und § 261 andererseits vielmehr Tateinheit anzunehmen sein. Das von § 259 geschützte Rechtsgut sei das Vermögen; Hehlerei sei Aufrechterhaltung des durch die Vortat geschaffenen rechtswidrigen Vermögenszustands durch einverständliches Zusammenwirken mit dem Vortäter. Der Straftatbestand der Geldwäsche ziele auf die Gewährleistung des staatlichen Zugriffs auf Vermögensgegenstände aus besonders gefährlichen Straftaten und mithin auf die Abwendung besonderer Gefahren für die Volkswirtschaft und damit den Staat. Gegen ein Zurücktreten der Geldwäsche hinter die einfache Hehlerei sprächen auch die für die Geldwäsche vorgesehene erhöhte Mindeststrafe und der Umstand, dass der Verdacht auf Geldwäsche – anders als der Verdacht auf einfache Hehlerei – als Ermittlungsmaßnahme nach § 100a I, II Nr. 1m StPO die Anordnung der Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zulässt (BGH NJW 2006, 1297, 1298 ff.).

Stellungnahme: Da nach der novellierten Fassung des § 261 die einfache Geldwäsche der gleichen Strafandrohung unterfällt wie die einfache Hehlerei (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe) und zudem § 261 nunmehr jede rechtswidrige (Vor-)Tat genügen lässt, muss man jedenfalls dann, wenn der Täter den Gegenstand in den Verkehr bringt und dabei dessen rechtswidrige Herkunft verschleiert, die Geldwäsche als vorrangig ansehen. 


Rolf Schmidt (23.06.2021)



27.03.2021: Tötung eines Kindes während der Geburt verwirklicht Tötungsdelikt (und keinen Schwangerschaftsabbruch)

BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 5 StR 256/20 (NJW 2021, 645)

Mit dem genannten Beschluss hat der BGH die Entscheidung des Landgerichts Berlin (Urt. v. 19.11.2019 – 234 Js 87/14 [532 Ks] [7/16] [GesR 2020, 672]) bestätigt, wonach bei einer operativen Entbindung (Kaiserschnitt, sectio caesarea) die Geburt und damit der Anwendungsbereich der Tötungsdelikte (§§ 211 ff. StGB) regelmäßig mit der Eröffnung des Uterus zum Zweck der dauerhaften Trennung des Kindes vom Mutterleib beginne, was auch bei einer Mehrlingsgeburt gelte. Unabhängig von der Frage, ob die Verwendung des Adjektivs  „regelmäßig“ zufällig oder bewusst erfolgte und welche Bedeutung es bei bewusster Verwendung haben könnte, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden, ob die Entscheidungen überzeugen.

Den Entscheidungen lag folgender Sachverhalt zugrunde (abgewandelt, um die Probleme des Falls zu fokussieren): Bei F lag eine diamniot-monochoriale Zwillingsschwangerschaft vor, d.h. eine Schwangerschaft, bei der jeder (eineiige) Fetus über eine eigene innere Eihülle verfügt, sich beide aber eine Plazenta teilen. Eine solche Schwangerschaft ist aufgrund der Verbindung der Blutkreisläufe der Zwillinge über Gefäßverbindungen in der Plazenta risikobehaftet, weil es dadurch zu einem Ungleichgewicht des Blutaustauschs und der Fruchtwasserbildung kommen kann. Bei einem Fetus wurde denn auch eine schwere Hirnschädigung festgestellt, sodass sich F entschloss, einen selektiven Fetozid vornehmen zu lassen. Eine Injektion mit Kaliumchlorid zur Herbeiführung eines Herzstillstands mit der Folge einer Totgeburt ist in diesen Fällen nicht möglich, weil der andere Fetus dadurch in Gefahr gerät. Dementsprechend wurde F von der behandelnden Ärztin (T) darüber aufgeklärt, dass eine Injektion mit Kaliumchlorid zur Tötung des schwer geschädigten Zwillings die Gefahr berge, dass das Mittel auch in den Blutkreislauf des gesunden Zwillings gelange. Daher müsse der selektive Fetozid unmittelbar mit der Geburt des gesunden Kindes im Zusammenhang mit der Sectio (Kaiserschnitt) durchgeführt werden. F zeigte sich einverstanden. In Umsetzung dieses Plans öffnete T, die sich über den strafrechtlichen Beginn des menschlichen Lebens bewusst war, operativ Bauchdecke und Gebärmutter der F. Der gesunde Zwilling wurde entnommen, seine Nabelschnur durchtrennt und er wurde versorgt. Anschließend klemmte T bei dem noch in der Gebärmutter liegenden Zwilling die Nabelschnur ab und tötete ihn durch Injektion mit Kaliumchlorid. Der getötete Zwilling war lebensfähig, es wären bei ihm aber schwere Behinderungen (motorische Störungen, Lähmungen, Spastiken, deutliche kognitive Einschränkungen) zu erwarten gewesen. Andere Verfahren zur Durchführung eines selektiven Fetozids wären mit höheren Risiken für den gesunden Zwilling verbunden gewesen.

I. Problemaufriss
Da die §§ 211, 212, 216 und 222 StGB die Tötung eines (anderen) Menschen sanktionieren, stellt sich die Frage nach Beginn und Ende des menschlichen Lebens. Hinsichtlich des Beginns des menschlichen Lebens könnte man sich auf den Standpunkt stellen, den Zeitpunkt der Befruchtung der Eizelle (d.h. derjenige der Imprägnation bzw. der Kernverschmelzung/Konjugation) als maßgeblich anzusehen. Auch wäre vorstellbar, auf den Abschluss der Einnistung der befruchteten Eizelle (der Zygote) in der Gebärmutter, also auf die Nidation abzustellen. Dann läge ein Mensch (auch) im strafrechtlichen Sinne 6 bis 10 Tage nach der Konjugation (d.h. dem Eindringen der Samenzelle in den Zellkern der Eizelle) vor.

Folge wäre, dass der Embryo (im Mutterleib) – der Nasciturus – als Mensch im Rechtssinne (und damit auch im strafrechtlichen Sinne) gölte, mit der Konsequenz, dass dann bei einem Abort (Schwangerschaftsabbruch) ein Tötungsdelikt (§§ 211 ff. StGB) vorläge. Zwar kann auch die Tötung eines Menschen gerechtfertigt sein, aber die Voraussetzungen sind sehr hoch. So verlangt § 32 StGB (Notwehr) einen rechtswidrigen Angriff des (später getöteten Menschen) auf ein notwehrfähiges Rechtsgut, was beim Nasciturus schon allein naturwissenschaftlich nicht angenommen werden kann. Und auch § 34 StGB greift nur, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Nähme man beim Nasciturus also die Menschqualität an, müsste man die Gefahr für die Schwangere (sofern sie denn besteht) gegen das Leben des Getöteten abwägen und die Gefahr für die Schwangere als ein das Leben des Getöteten überwiegendes Rechtsgut ansehen, was der ganz herrschenden Strafrechtsdogmatik widerspräche. Damit rückt dann der entschuldigende Notstand des § 35 StGB in den Fokus, der aber daran scheitert, dass der oder die den Abort vornehmende Arzt oder Ärztin regelmäßig nicht in der erforderlichen Nähebeziehung zur Schwangeren steht. Und auch für die Bejahung des sog. übergesetzlichen entschuldigenden Notstands fehlt die Legitimation.

All diese Probleme stellen sich freilich nicht, wenn man (mit dem Gesetzgeber) dem Nasciturus die Menschqualität abspricht. So stellt der Strafgesetzgeber bei der Bestimmung des Zeitpunkts des Beginns des Menschseins auf die Geburt ab. Das ergibt sich schon allein daraus, dass er die Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 f. StGB) sonst nicht erlassen hätte. Daraus folgt: Der noch ungeborene Mensch kann – unabhängig von der Frage, ob er schon Träger des Grundrechts auf Leben ist (siehe dazu R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 50) – nicht Opfer eines Tötungsdelikts i.S.d. §§ 211 ff. StGB sein; zu seinem Schutz greifen ausschließlich die §§ 218 f. StGB.

Entscheidend ist daher, den Begriff der Geburt zu bestimmen und damit die Festlegung zu treffen, zu welchem Zeitpunkt des Geburtsvorgangs das „Menschsein“ i.S.d. §§ 211 ff. StGB beginnt. Das StGB definiert den exakten Zeitpunkt nicht. Wie dem Wortlaut des (im Zuge des 6. Strafrechtsreformgesetzes 1998 aufgehobenen) § 217 StGB zu entnehmen war, kann eine Mutter ihr Kind bereits während der Geburt töten. Daraus folgert die h.M., dass – in Abweichung zum Zivilrecht (vgl. § 1 BGB) – für das Gebiet der §§ 211 ff. StGB das menschliche Leben mit dem Anfang der Geburt, d.h. bei der vaginalen Geburt im Zeitpunkt des Einsetzens der Eröffnungswehen beginnt. Bei operativer Entbindung (Kaiserschnitt; Sectio) ist der Zeitpunkt des ärztlichen Eingriffs, also die chirurgische Öffnung des Uterus (nicht etwa die Einleitung der Narkose) maßgeblich (siehe nur BGH NJW 2021, 645, 647; BGH NStZ 2008, 393, 394 f.; BGHSt 32, 194, 195 f.; 31, 348, 351; SK-Rogall, Vor §§ 218 ff. Rn. 64; Lackner/Kühl-Heger, Vor § 211 Rn. 3; Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, Vorbem §§ 211 ff. Rn. 13; Wessels/Hettinger/Engländer, StrafR BT 1, Rn. 9-11; Kühl, JA 2009, 321; a.A. NK-Merkel, § 218 Rn .33 f. (Anknüpfung an § 1 BGB: Vollendung der Geburt).

Anmerkung: Der exakte Zeitpunkt des Beginns des „Menschseins“ i.S.d. Strafrechts ist nicht nur für die Frage der Anwendung entweder der §§ 211 ff. StGB oder der §§ 218 f. StGB relevant, sondern auch für den Fall, dass der Täter lediglich fahrlässig handelt. Denn der Gesetzgeber hat nur die fahrlässige Tötung eines geborenen Menschen unter Strafe gestellt (vgl. § 222 StGB), nicht auch den fahrlässigen Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 f. StGB setzen Vorsatz voraus). Tötet der Täter also den noch ungeborenen Menschen (den Nasciturus) fahrlässig (etwa, indem er in den Bauch der Schwangeren schlägt oder tritt und dabei unvorsätzlich das Absterben des Nasciturus verursacht), ist er in Bezug auf die Leibesfrucht nicht strafbar. Das Gleiche gilt, wenn die Schwangere fahrlässig eine Fehlgeburt verursacht.

Da nach der Strafrechtsordnung das „Menschsein“ i.S.d. §§ 211 ff. StGB also mit dem Einsetzen der Eröffnungswehen (bzw. bei operativer Entbindung mit der Öffnung des Uterus) beginnt, stellt sich die Frage nach der Strafbarkeit auch für den Fall, dass das Kind während der Geburt mit Einwilligung der Mutter getötet wird, etwa, weil es (wie das in den vorliegend zu besprechenden Entscheidungen der Fall ist) einen schweren Hirnschaden hat.

II. Prüfung des Falls
1. Strafbarkeit der T wegen Schwangerschaftsabbruchs?

Die von T vorgenommene Injektion mit Kaliumchlorid und der damit verbundene Herzstillstand bei dem Opfer könnten den Tatbestand des § 218 I S. 1 StGB (Schwangerschaftsabbruch) verwirklicht haben. Abbrechen der Schwangerschaft bedeutet jegliche Art der Einwirkung auf die Leibesfrucht, wodurch deren Absterben im Mutterleib oder deren Abgang in nicht lebensfähigem Zustand herbeigeführt wird (vgl. BGHSt 31, 348, 351 f.; Fischer, § 218 Rn. 5; Sch/Sch-Eser/Weißer, § 218 Rn. 19/23). Das kann vorliegend angenommen werden. Die Injektion mit Kaliumchlorid führte den Tod des Kindes herbei, als sich dieses noch im Mutterleib befand. § 218a I StGB, der den Tatbestand des § 218 I StGB ausschließt, greift mangels Vorliegens der Voraussetzungen nicht. Möglicherweise ist die Tat der T aber gerechtfertigt unter den Voraussetzungen des § 218a II StGB. Allerdings kann dies dahinstehen, wenn schon kein Schwangerschaftsabbruch vorliegt. Denn bei dem getöteten Kind könnte es sich bereits um einen Menschen im strafrechtlichen Sinne gehandelt haben mit der Folge, dass nicht § 218 I StGB einschlägig ist, sondern die §§ 211 ff. StGB Anwendung finden. Wie oben aufgezeigt, beginnt das menschliche Leben (für das Gebiet des Strafrechts) mit dem Anfang der Geburt, also ab dem Zeitpunkt des Beginns der Eröffnungswehen. Bei chirurgischer operativer Entbindung (Kaiserschnitt – sectio caesarea) ist auf den Zeitpunkt des die Eröffnungsperiode ersetzenden ärztlichen Eingriffs, also die chirurgische Öffnung des Uterus (nicht etwa die Einleitung der Narkose) abzustellen.

Danach lag im vorliegenden Fall also kein Schwangerschaftsabbruch vor. Das Kind wurde von T getötet, nachdem der Uterus von ihr geöffnet worden war.

2. Strafbarkeit der T wegen eines Tötungsdelikts?
a. Tatbestandsmäßigkeit

Die von T vorgenommene Injektion mit Kaliumchlorid und der damit verbundene Herzstillstand bei dem Kind könnten aber den Tatbestand des § 212 I StGB (Totschlag) verwirklicht haben. Geschütztes Rechtsgut ist das Leben eines anderen Menschen. Bei dem getöteten Kind ist das – wie aufgezeigt – zu bejahen. Die Tathandlung kann auf beliebige Art und Weise begangen werden, auch wenn die Deliktsbezeichnung Tot„schlag“ nahelegt, dass der Täter zuschlagen muss, um den Tatbestand zu verwirklichen. In Betracht kommen insbesondere das Verletzen, Vergiften und Aussetzen, solange nur der Tod eines anderen Menschen herbeigeführt wird. Durch das Injizieren von Kaliumchlorid hat T das Kind vergiftet und dadurch seinen Tod herbeigeführt.

Eine Verwirklichung des § 211 StGB (Mord) unter dem Aspekt der Heimtücke scheidet aus, da der getötete Mensch – wie jeder Mensch vor Vollendung der Geburt – konstitutionell arglos war und daher keinen Argwohn hätte hegen können, der von T hätte ausgenutzt werden können.

b. Rechtswidrigkeit
Eine Rechtfertigung der Tat liegt nicht vor. § 32 StGB (Notwehr, vorliegend in der Form der Nothilfe) scheidet schon deshalb aus, weil es an einem Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut fehlt (Leben und Gesundheit bzw. körperliche Unversehrtheit der F sind zwar notwehrfähige Rechtsgüter, allerdings kann von einem ungeborenen Menschen schon rein naturwissenschaftlich kein Angriff hierauf ausgehen). § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) liegt ebenfalls nicht vor. Zwar lässt die Vorschrift die Abwehr einer Gefahr zu. Jedoch bestand nach der Entnahme des gesunden Zwillings keine Gefahr mehr – weder für F noch für das Geschwisterkind. Zudem wäre nach der hier vertretenen Auffassung § 34 StGB ohnehin nicht einschlägig, weil eine Güterabwägung nicht zum Nachteil eines menschlichen Lebens vorgenommen werden darf. § 218a II StGB (Rechtfertigungsgrund bei Schwangerschaftsabbruch) greift ebenfalls nicht, da bereits ein Statuswechsel (Nasciturus/Mensch im strafrechtlichen Sinne) stattgefunden hatte; eine vom BGH (auf Veranlassung der Revision) geprüfte (und abgelehnte) analoge Anwendung des § 218a II StGB verbietet sich schon allein aufgrund des Fehlens einer unbeabsichtigten Regelungslücke – unabhängig davon, dass sie zugunsten der T erfolgte und daher nicht gegen Art. 103 II GG verstieße.

c. Schuld
T war schuldfähig und sie handelte auch mit Unrechtsbewusstsein. Mangels Gefahr scheidet auch der Entschuldigungsgrund nach § 35 StGB (entschuldigender Notstand) aus; zudem ist das erforderliche Näheverhältnis auch nicht ersichtlich. Ein Verbotsirrtum (§ 17 S. 1 StGB) kann ebenfalls nicht angenommen werden, weil T sich der Rechtslage zum Statuswechsel (Nasciturus/Mensch im strafrechtlichen Sinne) bewusst war und sie damit das gesetzliche Verbot ihres Handelns kannte. Auch ein übergesetzlicher entschuldigender Notstand (dazu R. Schmidt, StrafR AT, 21. Aufl. 2019, Rn. 605 ff.) kann vorliegend (erst recht) nicht angenommen werden.   

d. Minder schwerer Fall?
Da der Totschlag mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist und der BGH das von der Vorinstanz (LG Berlin) festgesetzte Strafmaß (Bewährungsstrafe) nicht beanstandet hat, ist davon auszugehen, dass die Gerichte von einem minder schweren Fall des Totschlags ausgegangen sind. Zu prüfen ist daher, ob T die privilegierend wirkende Strafzumessungsregel des § 213 StGB (minder schwerer Fall des Totschlags) zugutekommt. Ohne den Verbrechenscharakter der Tat zu ändern (ein Versuch ist somit auch ohne spezielle Strafandrohung möglich), ist nach dieser Vorschrift eine Strafmilderung obligatorisch, wenn das Opfer seine Tötung in be­stimmter Weise provoziert hat (Var. 1) oder wenn die Gesamtbewertung der Tat einen „sonst minder schweren Fall“ (Var. 2) ergibt. Ein „provozierter“ Totschlag (§ 213 Var. 1 StGB) scheidet von vornherein aus, weshalb – wenn überhaupt – lediglich ein unbenannter „sonst minder schwerer Fall“ (§ 213 Var. 2 StGB) in Betracht kommt. Ein sonst minder schwerer Fall i.S.v. § 213 Var. 2 StGB kommt i.d.R. in Betracht, wenn die schuldmindernden Umstände die Anwendung des Strafrahmens des § 212 StGB unangemessen erscheinen lassen bzw. in ihrem Gewicht bei einer Gesamtbetrachtung mit denen vergleichbar sind, die § 213 Var. 1 StGB benennt. Bei der Gesamtbetrachtung sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Wertung von Tat und Täter bedeutsam sein können, wobei alle wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände gegeneinander abzuwägen sind (vgl. dazu BGH NStZ 2019, 409, 410).

Die vom BGH nicht beanstandete Annahme eines minder schweren Falls des Totschlags ist zwar angesichts des Tatmotivs verständlich, widerspricht aber der Tatsache, dass die Tat geplant war. Zudem lagen auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 213 StGB nicht vor. Und auch nach systematischer Auslegung spricht bei § 213 Var. 2 StGB (wie erst recht bei § 213 Var. 1 StGB) die Planung der Tat gegen die Annahme eines minder schweren Falls. T führte die Situation geplant herbei, setzte sich ihr bewusst aus und tötete einen Menschen ohne Notlage. Das Motiv, der F (oder gar dem getöteten Kind) „einen Gefallen zu tun“, kann sich nicht über die fehlenden Voraussetzungen des § 213 StGB hinwegsetzen. Die Auffassung des BGH, man dürfe die Planung der Tat nicht schuld- und damit straferschwerend berücksichtigen, da dieser Gesichtspunkt bei einer medizinischen Operation kein zulässiger Erschwerungsgrund sei, lässt sich auf keinen Sachgrund stützen. Denn auch nachdem T erkannt hatte, dass der von ihr später getötete Mensch lebensfähig war, setzte sie ihren Plan um, obwohl keinerlei Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe vorlagen, was ihr auch bewusst war. T entschied eigenmächtig (freilich auf Veranlassung der F), über die Lebens(un)würdigkeit eines Menschen zu urteilen. Für die Annahme eines minder schweren Falls lassen weder Wortlaut noch Systematik des § 213 StGB Raum.   

3. Ergebnis
Entgegen dem vom BGH gebilligten Urteil des LG Berlin hat T sich gem. § 212 I StGB strafbar gemacht. Sie hat vorsätzlich einen Menschen getötet und war sich dessen auch bewusst. Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe lagen nicht vor. Aufgrund der planvollen Vorgehensweise ist auch kein Raum für die Annahme eines minder schweren Falls des Totschlags; es fehlt an der auch sonst vom BGH geforderten Vergleichbarkeit mit § 213 Var. 1 StGB. Eine „Inkonsistenz“ der Tötungsdelikte, wie dies vereinzelt in der Literatur behauptet wird, kann in der vorliegenden Konstellation gerade nicht angenommen werden, da die gesetzlichen Regelungen insoweit eindeutig und sehr wohl konsistent sind (anders Grünewald, NJW 2021, 649, 650 mit Verweis auf Grünewald, ZfL 2020, 419, 422 ff.). Allenfalls kann eine Inkonsistenz in der Rechtsprechung (und in der Literatur) angenommen werden, wenn man in ständiger Rechtsanwendung bei § 213 Var. 2 StGB eine Vergleichbarkeit mit § 213 Var. 1 StGB fordert, dann aber, wo das Ergebnis nicht gefällt, § 213 Var. 2 StGB auch ohne gegebene Vergleichbarkeit mit § 213 Var. 1 StGB annimmt, weil es auf Strafzumessungsebene sonst keine Möglichkeit gibt, den besonderen Tatumständen Rechnung zu tragen.

Rolf Schmidt (27.03.2021)


25.02.2021: Unfall mit Fahrrad: Schmerzensgeld und Mitverschulden wegen Nichttragens eines Helms?

OLG Nürnberg, Urteil v. 20.08.2020 – 13 U 1187/20 (NJW 2020, 3603)

Mit dem genannten Urteil hat das OLG entschieden, dass das Nichttragen eines Fahrradhelms – zumindest im Alltagsradverkehr – nach wie vor kein Mitverschulden des verletzten Radfahrers begründet. Eine allgemeine Verkehrsauffassung des Inhalts, dass Radfahren eine Tätigkeit darstellt, die generell derart gefährlich ist, dass sich nur derjenige verkehrsgerecht verhält, der einen Helm trägt, bestehe weiterhin nicht. Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden.

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die 27-jährige O fuhr mit ihrem Fahrrad – ohne einen Fahrradhelm zu tragen – an einer Kreuzung geradeaus. Autofahrer T (Halter des Fahrzeugs) wollte nach rechts abbiegen und kollidierte mit O, die erhebliche Verletzungen davontrug. Sie erlitt u.a. eine Kalottenfraktur links okzipital, eine Subarachnoidalblutung frontobasal beidseits, eine Kopfplatzwunde okzipital und eine Prellung der Lendenwirbelsäule. O machte Schmerzensgeldansprüche geltend. Das OLG sprach O ein Schmerzensgeld i.H.v. 20.000 € zu und verneinte gleichzeitig ein anspruchsminderndes Mitverschulden.

I. Halterhaftung als Unterform der Gefährdungshaftung
Erleidet jemand aufgrund eines Verkehrsunfalls einen Schaden, greift die verschuldensunabhängige Halterhaftung (§ 7 I StVG). Diese ist eine Variante der Gefährdungshaftung: Wenn schon jemand eine übermäßige Gefahr für einen anderen schaffen, unterhalten oder ausnutzen darf, muss er wenigstens dem anderen den aus der Gefahrverwirklichung resultierenden Schaden abnehmen, und zwar unabhängig von Unrecht und Verschulden. Anderenfalls wäre das gefährliche Handeln mit dem Schutzbedürfnis der Mitmenschen nicht zu rechtfertigen. Insbesondere der Halter eines Kfz kann bei einem Unfall aber sehr schnell an die Grenze seiner (finanziellen) Leistungsfähigkeit geraten. Ein entsprechender Schadensersatzanspruch der Geschädigten wäre u.U. nicht realisierbar und die Gefährdungshaftung verlöre weitgehend ihre Effektivität. Um diese Folge zu verhindern, hat der Gesetzgeber den obligatorischen Abschluss einer Kfz-Haftpflichtversicherung vorgesehen (vgl. § 1 PflVG, dazu BGH NJW 2016, 1162, 1164 f. – Autorennen-Fall). Der Verletzte hat einen Direktanspruch gegen den Versicherer, § 115 I S. 1 Nr. 1 VVG, was die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis zu § 7 I StVG aufwirft: Während die Versicherungspflicht das Risiko der Zahlungsunfähigkeit des Halters im Schadensfall vermeiden soll, dient der Direktanspruch einer effizienten und raschen Regulierung von Schadensfällen und der weitestmöglichen Vermeidung kostenaufwändiger Rechtsverfahren (siehe Erwägungsgrund 30 der Richtlinie 2009/103/EG). Halter und Versicherer haften als Gesamt­schuldner, § 115 I S. 4 VVG, wobei in der Praxis allein der Direktanspruch zählt.

Der mögliche Prüfungsaufbau (Anspruchsprüfung) könnte sich folgendermaßen gestalten (R. Schmidt, SchuldR BT II, 13. Aufl. 2019, Rn. 978):


1. Verwendung eines Kraftfahrzeugs
Der Unfall muss unter Verwendung eines Kraftfahrzeugs verursacht worden sein. Der Be­griff des Kraftfahrzeugs ist in § 1 II StVG legaldefiniert. Danach sind Kraftfahrzeuge alle Landfahrzeuge, die mit Maschinenkraft bewegt werden und nicht an Bahngleise gebunden sind.

2. Anspruchsverpflichteter: Fahrzeughalter
Anspruchsverpflichteter ist der Fahrzeughalter. Nach Auffassung des BGH ist Halter derjenige, der die tatsächliche Verfügungsgewalt über das Fahrzeug besitzt und es für eigene Rechnung gebraucht. Die Eintragung in der Zulassungsbescheinigung II (früher: Fahrzeugbrief) ist nur ein Indiz.

3. Vorliegen eines Personen- oder Sachschadens
Des Weiteren muss ein Personen- oder Sachschaden verursacht worden sein. Ein reiner Vermögensschaden begründet somit keine Ersatzpflicht des Halters. Aber auch Personen- und Sachschäden sind nicht stets zu ersetzen. Vgl. dazu die Ausschlusstatbestände (Punkt 5.).

4. Schadensverursachung „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“
Der Personen- oder Sachschaden muss „bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs“ verursacht worden sein. Dieses Kriterium beschreibt die besondere Betriebsgefahr, die die verschul­densunabhängige Haftung legitimiert, und ist zum Schutz der Verkehrsteilnehmer weit auszulegen. Als Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs sind zunächst die Entfaltung von Geschwindigkeit und der Bremsweg anzusehen. Angesichts der Zunahme des Kraftfahrzeugverkehrs ist die Rechtsprechung jedoch dazu übergegangen, nicht nur das bewegte Fahrzeug, sondern auch das ruhende Fahrzeug als gefährlich anzusehen, jedenfalls solange ein Zusammenhang mit einer Betriebseinrichtung besteht. Entgegen der Rspr. ist eine Kfz-Halterhaftung sogar dann anzunehmen, wenn eine Sonderfunktion dominiert (Beispiel: Hauptmotor eines stehenden Traktors treibt lediglich eine Güllepumpe an).

5. Nichtvorliegen eines Ausschlusstatbestands
Die grundsätzliche Haftung gem. § 7 I StVG besteht nicht, wenn ein Ausschlusstatbe­stand vorliegt. Ausschlusstatbestände sind in § 7 II und III, § 17 III und § 8 StVG enthalten. Liegt einer dieser Tatbestände vor, ist die verschuldensunabhängige Halterhaftung nach § 7 I StVG ausgeschlossen. Möglich ist dann nur noch eine Haftung aus Vertrag (sofern nicht durch Vereinbarung ausgeschlossen) oder aus deliktischer Verschuldensverantwortlichkeit. Aus dem Schutzzweck der Halterhaftung folgt auch: Wird der Betroffene durch das eigene bzw. das von ihm selbst geführte Kfz geschädigt, stehen ihm die Ansprüche gem. §§ 7, 18 StVG nicht zu. Damit können zwischen Fahrer und Halter nur Ersatzansprüche aus Vertrags- oder Deliktshaftung bestehen. Der Halter, der als Mitfahrer durch sein eigenes Kfz verletzt wird, hat gegen den Fahrer daher nur vertragliche oder deliktische An­sprüche (aus § 823 BGB), nicht jedoch solche aus §§ 7, 18 StVG.

6. (Kein) Mitverschulden
Ist der Geschädigte jemand, der sich keine Betriebsgefahr zurechnen lassen muss (Fußgänger, Radfahrer), bestimmt sich sein Mitverschulden bei den Ansprüchen aus §§ 7, 18 StVG nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB. Ist der Geschädigte aber selbst Fahrzeughalter oder Fahrer, richtet sich sein Mitverschulden nach der Spezialvorschrift des § 17 StVG, wonach die beteiligten Halter gesamtschuldnerisch haften. § 17 I StVG regelt den Ausgleich zwischen mehreren beteiligten Kfz-Haltern, wenn durch den Betrieb ihrer Pkws eine dritte Person (Radfahrer, Fußgänger oder Mitfahrer) geschädigt wurde. § 17 II StVG betrifft die praktisch bedeutsamere Ausgleichspflicht zwischen mehreren beteiligten Kfz-Haltern für selbst erlittene Schäden.


II. Prüfung des Falls
1. Voraussetzungen: Verletzung und Schaden durch den Betrieb eines Kfz

Der von O geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch könnte sich gegen T aus § 7 I StVG bzw. gegen den Versicherer aus § 115 I S. 1 Nr. 1 VVG ergeben. T ist Halter (und Fahrer) des Verursacherfahrzeugs. Ein Personenschaden liegt vor: O erlitt diverse Verletzungen. Der Personenschaden ist auch „bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs“ ver­ursacht worden (zu den verschiedenen Begründungsmodellen wie die „verkehrstechnische Auffassung“ und die „maschinentechnische Auffassung“ siehe R. Schmidt, SchuldR BT II, 13. Aufl. 2019, Rn. 986 ff.). Ein Ausschlusstatbe­stand (wie in § 7 II und III, § 17 III und § 8 StVG enthalten) greift nicht.


2. Rechtsfolge: Gewährung auch von Schmerzensgeld; (kein) Mitverschulden
Ist danach ein Schadensersatzanspruch gegeben, der bei Personenschäden insbesondere die Heilbehandlungskosten umfasst, ist auch der Weg zum Schmerzensgeldanspruch eröffnet. Denn ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann gem. § 253 II BGB auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden. Mit „Entschädigung“ ist Schmerzensgeld gemeint. Es dient dem Ausgleich für er­littene Schmerzen und Leiden sowie der Genugtuung (BGHZ 18, 149, 154 ff.; BGH NZV 2017, 179, 181; OLG Frankfurt MDR 2018, 1492; OLG Oldenburg MDR 2019, 32; OLG Nürnberg NJW 2020, 3603).


Beispiele:
So ist etwa für den Fall, dass aufgrund einer unterbliebenen Zählkontrolle nach einer urologischen Operation eine 1,9 cm lange Nadel im Bauchraum der Patientin zurückgeblieben ist, ein (erhöhtes) Schmerzensgeld unter dem Aspekt der Genugtuung angezeigt (OLG Stuttgart GesR 2019, 337). Das OLG hielt ein Schmerzensgeld i.H.v. 10.000 € für angemessen. Sollten sich weitere materielle und nicht vorhersehbare immaterielle Schäden zeigen, seien auch diese zu ersetzen.

Das Gleiche gilt, wenn bei einem Patienten, der sich einer Kniegelenksoperation unterzogen hatte, die Metallspitze des Operationsinstrumentes im Knie verblieb. Das hier zu bemessende Schmerzensgeld erhöht sich sogar noch, wenn der Arzt am Abend der Operation das Fehlen der Metallspitze bemerkt und sich zunächst einmal damit abfindet, dass einer seiner Patienten hierdurch erheblich verletzt werden könne. Wenn er dann weder beim späteren Verbands­wechsel noch beim Fädenziehen es für nötig befindet, abzuklären, ob die Metallspitze im Knie des Patienten verblieben war, sondern erst tätig wird, nachdem die Spitze bereits Schäden verursacht hat und der Patient mit erheblichen Schmerzen erneut vorstellig geworden ist (OLG Oldenburg MDR 2019, 32), ist das grobe Fehlverhalten besonders virulent.

Auch, wenn eine Frau in einer Reproduktionsklinik aufgrund einer Verwechselung mit „falschem“ Spendersamen befruchtet wird, kann dies Schmerzensgeldansprüche auslösen, etwa, wenn dies zu einer behandlungsbedürftigen psychischen Fehlverarbeitung mit wiederkehrenden depressiven Episoden führt (OLG Hamm NJW 2019, 523, 524).

Aus der genannten Ausgleichsfunktion und dem Kriterium der „Billigkeit“ (i.S.v. „angemess
en“) in § 253 II BGB wird deutlich, dass die Höhe des Schmerzensgelds nur unter umfassender Berück­sichtigung aller Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden kann und in einem angemessenen Verhältnis zur Art und Dauer der Verletzungen stehen muss, wobei die Rechtsprechung in erster Linie auf die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung einschließlich vorhersehbarer Spätfolgen abstellt (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603 mit Verweis u.a. auf BGH NZV 2017, 179, 181; BGH NJW-RR 2006, 712), jedoch auch Umstände be­rücksichtigt, die dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, wie der Grad des Verschuldens des Schädigers, im Einzelfall aber auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten und des Schädigers (BGHZ 18, 149, 157 ff.; BGH NZV 2017, 179, 181). Wenn jemand also verletzt wird, ohne dass den Schädiger ein Verschulden trifft (bspw. weil im Straßenverkehr unvorhersehbar ein Reifen platzt), wird der Verletzte mit Erhalt eines Schmerzensgeldes zwar einen Ausgleich für erlittenes Leid erhalten, kaum aber Anlass für Genugtuung finden. Das muss bei der Schmerzensgeldbemessung ebenso Berücksichtigung finden wie ein Mitverschulden des Geschädigten.

Obwohl jeder Schmerzensgeldanspruch individuellen Umständen folgt, orientieren sich die Gerichte bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgelds an den in Schmerzensgeld­tabellen erfassten „Vergleichsfällen“. Diese Tabellen stellen Sammlungen von Ur­teilen dar, in denen Schmerzensgeld gewährt wurde („Urteilssammlungen“). So gibt es Schmerzensgeldtabellen für Verkehrsunfälle, Sport- und Arbeitsunfälle, Behandlungsfehler, Körperverletzungen und Vergewaltigungen, Verletzungen des Persönlichkeitsrechts, Verletzungen durch Tiere usw. Jedoch können sie – wie sich allein schon aus Art. 97 I GG ergibt, wonach die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind – keinesfalls bindend sein (insoweit lediglich klarstellend OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3604; OLG München NJW-Spezial 2018, 11). Allerdings fordern die Instanzgerichte von den Tatgerichten eine besondere Begründung, wenn sie von den Beträgen der Tabellen signifikant abweichen (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3604 mit Verweis auf OLG Celle NJWE-VHR 1997, 138).

Auch im vorliegenden Fall hat das OLG Nürnberg klargestellt, dass die in Schmerzensgeldtabellen erfassten „Vergleichsfälle“ im Rahmen des zu beachtenden Gleichheitsgrundsatzes als Orientierungsrahmen zu berücksichtigen sind, ohne dabei verbindliche Präjudizien zu sein (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3604 mit Verweis auf OLG München ZfSch 2018, 203). Bei der Ausübung des Ermessens habe das Gericht unabhängig von den stets zu beachtenden Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen, dass vergleichbare Verletzungen annähernd gleiche Entschädigungen zur Folge haben (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3604 mit Verweis auf Oetker, in: MüKo, § 253 Rn. 37). Die in den in Schmerzensgeldtabellen zusammengetragenen „Vergleichsfälle“ hinderten das zur Entscheidung berufene Gericht zwar nicht, die Entschädigung im konkreten Einzelfall abweichend festzulegen. Allerdings bedürfe es einer besonderen Begründung, wenn von der Größenordnung, in der sich die Schmerzensgelder der Gerichte in vergleichbaren Fällen bewegen, signifikant abgewichen werde (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3604 mit Verweis auf OLG Celle NJWE-VHR 1997, 138). Die Anwendung dieser Grundsätze führe zu dem Ergebnis, dass im Streitfall ein Gesamtschmerzensgeld i.H.v. 20.000 € in einem angemessenen Verhältnis zu Art und Dauer der erlittenen Verletzungen und der entstandenen Lebensbeeinträchtigungen der O stehe: So sei O aufgrund des Unfalls erheblich verletzt worden und habe sich für neun Tage in stationärer Behandlung befunden. Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass ein Dauerschaden in Form des Verlustes des Geruchssinns verblieben sei, was vor dem Hintergrund, dass O im Unfallzeitpunkt erst 27 Jahre alt war, erhebliches Gewicht habe. Schließlich sei bei der Bemessung des Schmerzensgelds einzubeziehen, dass die Verletzungen der O durch ein erhebliches Maß an Fahrlässigkeit des T verursacht wurden, der am helllichten Tag beim Rechtsabbiegen im Kreuzungsbereich die geradeaus fahrende O übersehen habe.

Zwischenfazit: Das OLG Nürnberg hat also im Ausgangspunkt abstrakt die Schmerzensgeldtabelle Verkehrsunfälle zur ersten Orientierung herangezogen und dann die Umstände des zu entscheidenden Falls betrachtet, um zu entscheiden, ob abweichende Beträge zu gewähren sind, wobei es aber deutlich macht, dass eine Abweichung von den Tabellengrößen besonders begründet werden muss (und es damit die grundsätzliche Maßgeblichkeit der Tabelle betont). Das ist methodisch nicht einwandfrei. Denn die Schmerzensgeldtabellen geben keinen Aufschluss darüber, welche konkreten Umstände den in den Tabellen aufgelisteten Urtei-len, und damit der Festlegung der Schmerzensgeldgrößen, zugrunde gelegen haben. So-lange man die den Größenangaben zugrunde liegenden konkreten Umstände nicht kennt, verbietet sich zum einen bereits eine Orientierung an den Größenangaben und zum anderen auch die Überlegung, ob im vorliegenden Fall eine abweichende Schmerzensgeldhöhe angezeigt ist. Methodengerecht wäre allein die Hinzuziehung einer Tabelle, die von „Mittelwerten“ ausgeht, d.h. die lediglich auf „durchschnittliche“ Verletzungsfolgen und Beeinträchtigungen abstellt. Denn erst dann kann man auf dieser Grundlage der Frage nachgehen, ob im zu entscheidenden Fall aufgrund der Spezifika (Langzeitfolgen; Maß des Verschuldens des Schädigers etc.) eine Abweichung von den Größen der Tabellen angezeigt ist.

Davon unbeschadet ist stets zu beachten: § 253 II BGB stellt, wie sich aus dessen Wortlaut („ist ... Schadensersatz zu leisten“) ergibt, keine eigenständige An­spruchsgrundlage dar, sondern ist stets im Zusammenhang mit der haftungsbegründenden Norm zu sehen, die einen Schadensersatzanspruch gewährt. Haftungsbegründende Normen können nicht nur solche aus Verschuldenshaftung sein (etwa § 823 BGB, § 826 BGB, § 831 BGB, § 832 BGB, § 833 S. 2 BGB), sondern auch solche aus Gefährdungshaftung (etwa § 833 S. 1 BGB, § 7 I StVG) und Vertragsverletzungen (etwa § 280 I BGB). Das ist deshalb besonders relevant, wenn dem Schädiger z.B. der deliktische Entlastungsbeweis gem. § 831 I S. 2 BGB gelingt. Besteht in diesem Fall noch ein vertragliches oder quasi-vertragliches Schuldverhältnis, greift die Schadensersatzpflicht aus § 280 I BGB. Schädigende Handlungen von Erfüllungsgehilfen werden dem Anspruchsgegner zugerechnet (§ 278 BGB), ohne dass ein Entlastungsbeweis möglich wäre. Daher muss der Geschäftsherr gem. §§ 280, 278, 249 ff., 253 II BGB Schmerzensgeld gewähren, sofern die Voraussetzungen vorliegen. Schließlich folgt aus dem Wortlaut des § 253 II BGB, dass ein Schmerzensgeldanspruch immer das Bestehen eines Schadensersatzanspruchs voraussetzt, er dann aber auch neben einem Schadensersatzanspruch bestehen kann.

Ist nach diesen Grundsätzen Schmerzensgeld zu gewähren, muss schließlich der Frage nachgegangen werden, inwieweit ein Mitverschulden angenommen werden kann. Gemäß § 254 I BGB (der vorliegend über § 9 StVG Anwendung findet) kann ein Schadensersatzanspruch gemindert oder ausgeschlossen sein, wenn auch den Geschädigten ein Verschulden am Eintritt des Verletzungserfolgs trifft. Dies gilt nach § 254 II BGB auch, wenn er seiner Schadensabwendungs- und -minderungspflicht schuldhaft nicht nachkommt. Als Verschulden i.S.d. § 254 BGB ist ein vorwerfbarer Verstoß gegen Gebote des eigenen Interesses (Obliegenheiten), also ein „Verschulden gegen sich selbst“ zu verstehen (allg. Auffassung). Anwendungsbereich des § 9 StVG ist die Frage nach einem anspruchsmindernden Mitverschulden des Geschädigten, wenn es um eine Schadensverursachung geht im Verhältnis zwischen einem Inhaber einer Betriebsgefahr und einer Person, die keine Betriebsgefahr zu verantworten hat. Typisch sind Kollisionen zwischen Pkw und Fußgänger bzw. Pkw und Radfahrer. Der nach § 7 I StVG anspruchsberechtigte Fußgänger bzw. Radfahrer muss wegen § 9 StVG bei Mitverschulden eine Minderung der Höhe seines Schadensersatzanspruchs hinnehmen. Virulent wird § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB, wenn ein Fahrradfahrer bei Dun­kelheit ohne Licht fährt (Verstoß gegen das auch für Radfahrer geltende Sichtfahr­gebot) und daher von einem Autofahrer übersehen wird. Hier ist von einem Mitverschul­den sogar dann auszugehen, wenn der Fahrradfahrer eine Vorfahrtstraße befuhr (Siehe etwa OLG Naumburg VersR 2013, 776).

Ob auch das Nichttragen eines Fahrradhelms anspruchsmindernd i.S.v. § 254 BGB wirkt, ist hin­gegen äußerst problematisch, weil das Tragen eines Fahrradhelms nicht gesetzlich vor­geschrieben ist. So hat der BGH vor etlichen Jahren entschieden, dass sich ein Radfahrer, der ohne Helm fährt, bei einem unver­schuldeten Unfall grundsätzlich kein anspruchsmin­derndes Mitverschulden bzgl. erlittener Kopf­ver­letzungen anrechnen lassen muss. Sei das Tragen eines Schutzhelms keine gesetzliche Pflicht, könne in dem Nichttragen eines Fahr­radhelms auch keine Obliegenheitsverletzung angenommen werden (BGH NJW 2014, 2493, 2494 f.). Auch nach dem OLG Nürnberg trägt ein Fahrradfahrer, der keinen Schutzhelm trägt, bei einem Unfall mit Kopfverletzung keine Mitschuld. Es sei nach wie vor allgemeine Verkehrs­auf­fassung, beim Radfahren keinen Helm zu tragen (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3605).

Der BGH macht aber auch deutlich, dass bei gefahr­erhöhendem Verhalten (sportlicher Betätigung) etwas anderes gelten kann (BGH NJW 2014, 2493, 2494 f.). Mit diesem Argument hat denn auch das LG Bonn (LG Bonn NJW-Spezial 2015, 234) ein zu einer 50%igen Anspruchsminderung führendes Mit­ver­schulden bejaht bei dem Fahrer eines Speed-Pedelecs, der bei einer Geschwindigkeit von ca. 35-40 km/h mit einem Pkw kollidiert war und dabei Kopf­verletzungen erlitt, die er beim Tragen eines Helms nicht er­litten hätte.

Stellungnahme: Nach der hier vertretenen Auffassung stellt das Nichttragen eines Fahrradhelms auch außerhalb einer sportlichen Betätigung durch­aus eine anspruchsmindernde Obliegen­heitsverletzung dar. Allein aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber das Tragen eines Fahrradhelms nicht angeordnet hat, folgen nicht die Ungefährlichkeit des Fahrens ohne Schutzhelm und das Freisein einer Eigenverantwortung. Der Gesetzgeber hat ja auch bspw. nicht verboten, mit Flip-Flops Auto zu fahren. Dass hier bei einem Unfall mit Per­sonen­schaden, der auf ein Abrutschen des Fußes vom Bremspedal und/oder von der Kupp­lung zurückzuführen ist, (trotzdem) strafrechtlich ein Fahr­lässigkeitsdelikt (§§ 229 oder 222 StGB) und zivilrechtlich eine Haftungsverantwortlichkeit (nach § 7 I StVG bzw. § 18 I StVG) vorliegt, wird nicht ernsthaft bezweifelt. Auch ist es z.B. nicht verboten, als Fußgänger selbst dann eine Straße zu überqueren, wenn sich in der Nähe ein Fußgängerüberweg befindet. Überquert ein Fußgänger eine Straße, obwohl sich in der Nähe ein Fußgängerweg befindet, und wird von einem Fahrzeug erfasst, ist ihm - trotz Nichtbestehens eines gesetzlichen Verbots - ein Mitverschulden anzulasten (BGH NJW 2000, 3069, 3070).

Aus alledem folgt, dass allein aus dem Nichtbestehen einer Verbotsregelung kein „Freifahrtschein“ für unvernünftiges und mitunter gefährliches Verhalten ausgestellt werden kann. Es ist gerade Aufgabe des § 254 BGB, ein Verschulden gegen Obliegenheiten anspruchsmindernd zu berücksichtigen. Richtig daher OLG Schleswig, OLG Celle und OLG München, die bei einem Fahrradunfall ein zivilrechtliches Mit­verschulden annehmen, wenn nach­gewie­sen wurde, dass die Ver­letzungsfolgen bei Tra­gen eines Fahr­radhelms geringer ausge­fallen wären (OLG Schleswig DAR 2013, 470; OLG Celle DAR 2014, 199; OLG München NJW 2017, 3664, 3665). Und auch das OLG München bestätigte ein zu einer Anspruchsminderung i.H.v. 30% führendes Mitverschulden einer Fahr­radfahrerin, die sich zwei frei laufenden Hunden näherte, wobei einer der Hunde einen Haken schlug und auf den Radweg lief, mit der Folge, dass die Radfahrerin, die keinen Helm trug, bremste, stürzte, mit dem Hinterkopf auf den Asphalt schlug und u.a. eine Schädelfraktur erlitt (OLG München NJW 2017, 3664, 3665).

Wirkt sich richtigerweise also das Nicht­tragen von Schutzhelmen (ob­wohl das Tragen gesetzlich nicht vorgesehen ist) anspruchsmin­dernd aus, stellt sich die Frage auch beim Nichttragen von Protek­torenschutzkleidung bei Mofas etc. (siehe dazu LG Heidelberg NZS 2014, 383, 384) oder beim Tragen von ein­fachen Sportschuhen an­stelle von Motorrad­stiefeln beim Motorradfahren (OLG Nürnberg NJW 2013, 2908; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415; OLG Brandenburg NJW-RR 2010, 538; Heß/Bur­mann, NJW 2014, 1154, 1156). Gleiches gilt, wenn ein Motorrad­fahrer keine Schutzkleidung an den Beinen trägt (sondern lediglich eine Jeans). Auch dies wird man als Verschul­den gegen sich selbst und damit als anspruchsmindernde Ob­liegenheitsverletzung werten müssen, auch wenn das LG Frankfurt meint, das Nicht­tragen von Motorradschutzkleidung sei dann nicht anspruchs­mindernd, wenn dies den Gepflogenheiten entspreche (hier: Fahren mit Harley-David­son ohne Beinschutzklei­dung – LG Frankfurt/M NJW 2019, 531 f.). Die Auffassung des LG Frankfurt/M kann schon deshalb nicht überzeugen, weil sie ja dazu führte, dass einen Motorradfahrer, der eine Sportmaschine fährt, aber mit gleicher Geschwindigkeit (wie der Harley-Davison-Fahrer im Fall des LG Frankfurt/M) verunfallt, ein Mitverschul­den träfe, wenn er keine Schutzausrüstung trüge. Das leuchtet nicht ein. Gleichwohl ist der Gesetzgeber aufgefordert, entsprechende Regelungen zu treffen. Solange er nicht tätig wird, sind die Gerichte befugt, im Rahmen des § 254 BGB Anspruchs­minderungen unter dem Aspekt des „Verschuldens gegen sich selbst“ vorzunehmen. Darin liegt kein Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Zum einen lässt § 254 BGB (= ein Parlamentsgesetz) ausdrücklich zu, dass die Gerichte das Mitverschulden bei Schadensentstehung durch Auslegung ermitteln, und zum anderen ist das Richterrecht – jedenfalls das gesetzeskonkretisierende Richterrecht, das auslegungsbedürftige Gesetze präzisiert – verfassungsrechtlich nicht nur unproblematisch, sondern systemimmanent und gewünscht: Dadurch, dass die Gesetze abstrakt-generellen Charakter haben und eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen und teilweise auch Generalklauseln beinhalten, gehört es gerade zu den Aufgaben der Gerichte, unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln zu konkretisieren (d.h. auszulegen) und auf den zu entscheidenden Fall anzuwenden.

Gelangt man daher zu der Auffassung, dass Fahrradfahrer, die am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen, der von zunehmender Verkehrsdichte und damit zunehmenden Gefahren einer Kollision geprägt ist, eine Eigenverantwortung haben, sich durch Tragen eines Helms vor schweren Kopfverletzungen zu schützen, stellt das Nichttragen eines Helms eine Obliegenheitsverletzung i.S.d. § 254 BGB dar. Auch, wenn man dies unter Bezugnahme auf BGH NJW 2014, 2493, 2494 f. anders sieht, darf man dennoch aktuelle OLG-Entscheidungen (OLG Schleswig DAR 2013, 470; OLG Celle DAR 2014, 199; OLG München NJW 2017, 3664, 3665), die bei einem Fahrradunfall ein zivilrechtliches Mit­verschulden annehmen, wenn nach­gewie­sen wurde, dass die Ver­letzungsfolgen bei Tra­gen eines Fahr­radhelms geringer ausge­fallen wären, nicht ignorieren. Auch darf die immer noch herrschende Verkehrsauffassung unter Radfahrern, aus Bequemlichkeit keinen Helm zu tragen, kein Argument sein, eine Obliegenheitsverletzung und damit ein Mitverschulden zu verneinen.

3. Ergebnis
Nach der hier vertretenen Auffassung trägt O dadurch, dass sie ohne Schutzhelm fuhr, ein Mitverschulden an der Schadensverursachung, welches bei 1/4 bis 1/3 anzusiedeln ist. Um diesen Mitverschuldensanteil reduziert sich ihr Schmerzensgeldanspruch.

Rolf Schmidt (25.02.2021)


20.02.2021: Unzulässige Verwendung eines Prominentenbildes als Blickfang für ein Gewinnspiel („Urlaubslotto“)

BGH, Urteil v. 21.01.2021 – I ZR 207/19

Mit dem genannten Urteil hat der I. Zivilsenat des BGH entschieden, dass die Nutzung des Bildnisses und des Namens eines prominenten Schauspielers zur Bebilderung des „Urlaubslottos“ einer Sonntagszeitung einen rechtswidrigen Eingriff in den vermögensrechtlichen Bestandteil seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts dargestellt hat.

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: B verlegt u.a. eine Sonntagszeitschrift. In einer Ausgabe erschien unter der Überschrift „Gewinnen Sie Bares und eine Traumreise“ ein Artikel zur Aktion „Urlaubslotto“. Hierfür wurde ein Großteil einer Zeitungsseite genutzt. Unterhalb der Überschrift befand sich ein Foto, auf dem S, ein Schauspieler, der über einen Zeitraum von fünf Jahren in der ZDF-Serie „Das Traumschiff“ den Kapitän spielte, als Kapitän mit zwei anderen Schauspielern der Serie in ihren jeweiligen Rollen abgebildet war. Das Foto nahm etwa ein Drittel des Artikels ein und wurde durch eine Bildunterschrift ergänzt, in der auch der bürgerliche Name des S genannt war. Unterhalb des Fotos wurde das „Urlaubslotto“ erläutert. Als Hauptgewinn wurde eine 13-tägige Kreuzfahrt genannt, die im unteren Teil des Artikels unter der Überschrift „So können Sie auf dem Luxusschiff in See stechen“ näher ausgeführt wurde.

Wegen der Nutzung seines Bildnisses und seines Namens nahm S die B u.a. auf Unterlassung in Anspruch.

I. Problemstellung
Der BGH prüft den geltend gemachten Unterlassungsanspruch auf der Grundlage des § 1004 I S. 2, II BGB analog i.V.m. §§ 22, 23 KUG. Da jedoch das Recht am Bild als Teilbereich des Persönlichkeitsrechts auch der Verordnung (EU) 2016/679 (Datenschutz-Grundverordnung, DSGVO) unterfällt, ist fraglich, ob der Sachverhalt nicht am Maßstab der Art. 5-7 DSGVO i.V.m. Art. 7 und 8 der EU-Grundrechtecharta (GRC) hätte geprüft werden müssen. Denn das Unionsrecht genießt Anwendungsvorrang (EuGH Slg. 1964, 1251 ff.; vgl. auch EuGH Slg. 1970, 1125 ff. – Internationale Handelsgesellschaft, aufgegriffen in EuGH NJW 2013, 1215 ff. – Melloni; zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts und dessen Begründung siehe R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 9).

Daher muss (zunächst) der Prüfungsmaßstab geklärt werden. Denn sollte der Sachverhalt europarechtlich determiniert sein, könnte wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts der Sachverhalt am Maßstab des Unionsrechts (d.h. der Art. 5-7 DSGVO i.V.m. Art. 7 und 8 GRC) zu prüfen sein. Da der vorliegende Sachverhalt gerade Datenschutzaspekte beinhaltet, ist ein Unionsrechtsbezug evident, was die Notwendigkeit der Feststellung des Prüfungsmaßstabs erklärt.
  • Unionsrechtlich vollständig determinierte Regelungen des deutschen Rechts werden am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden. Zu den unionsrechtlich vollständig determinierenden Regelungen wird man etwa die betreffenden Regelungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zählen müssen (dann wären Prüfungsmaßstab von nationalen Maßnahmen die betreffenden Bestimmungen der DSGVO und letztlich Art. 7 und 8 GRC), aber auch das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 mit Verweis auf BVerfGE 140, 317, 343; 147, 364, 382). Auf Richtlinienebene sind vollharmonisierende Regelungen des zivilistischen Verbraucherschutzrechts zu nennen, etwa die Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU, die – im Übrigen nicht auf den Verbrauchsgüterkauf beschränkt – eine Vollharmonisierung auf EU-Ebene insbesondere im Fernabsatzrecht erreichen möchte (siehe Erwägungsgründe 2, 4, 5, 7 und 9 sowie Art. 4 der RL). Eine weitgehende Vollharmonisierung besteht auch hinsichtlich der Warenkaufrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/771), deren Zweck es ist, zum ordnungsgemäßen Funktionieren des (digitalen) Binnen¬markts beizutragen und gleichzeitig für ein hohes Verbraucherschutzniveau zu sorgen (siehe Art. 1 der RL i.V.m. ihren Erwägungsgründen 1 und 3), und hinsichtlich der Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen (Richtlinie (EU) 2019/770), die gemeinsame Vorschriften für bestimmte Anforderungen an Verträge zwischen Unternehmern und Verbrauchern über die Bereitstellung digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen festlegt und in ihren Kernbereichen (wie die Warenkaufrichtlinie) eine weit reichende Vollharmonisierung vorsieht; abweichende nationale Be¬stimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 4 der RL i.V.m. Erwägungsgrund 11; lediglich einzelne Materien wie die Verjährungsregelung sind einer abweichenden Regelung zugänglich, siehe Erwägungsgrund 58). Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit nationaler Regelungen werden danach also grundsätzlich am Maßstab der Unionsgrundrechte zu entscheiden sein.
  • Geht es um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht, ist dieses am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu prüfen, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Als Anwendungsfelder seien diejenigen Vorschriften der DSGVO genannt, die den Mitgliedstaaten Spielräume lassen, wie z.B. Art. 85 II DSGVO („Medienprivileg“) oder Art. 88 DSGVO in Bezug auf den Beschäftigtendatenschutz. Auch die „Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz“ (Richtlinie (EU) 2016/680) determiniert nicht vollständig das nationale Recht, da sie lediglich Mindeststandards setzt, den Mitgliedstaaten Spielräume lässt und Abweichungsbefug¬nisse enthält. Des Weiteren ist § 6a ATDG zu nennen, der ebenfalls kein (zwingendes) Unionsrecht umsetzt, da die Richtlinie 2002/58/EG („ePrivacy“-Richtlinie), die Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres) und die Richtlinie (EU) 2017/541 (Terrorismusbekämpfungs-Richtlinie) nur Grundsätze und Mindeststandards festlegen (BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 65 ff. – Antiterrordateigesetz II). In diesen Fällen sind die Grundrechte des Grund¬gesetzes nicht in ihrer Anwendung gesperrt und das BVerfG prüft innerstaatliches Recht, das der Durchführung von Unionsrecht dient, am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes (BVerfG NVwZ 2020, 53 ff. – „Recht auf Vergessenwerden I“; BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 65 – Antiterrordateigesetz II; siehe auch BVerfG NJW 2020, 2699, 2703 – Bestandsdatenauskunft II) und BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung, wobei das BVerfG nicht die Richtlinie (EU) 2016/680 erwähnt), freilich in richtlinienkonformer Auslegung, was bedeutet, dass die Unionsgrundrechte zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten sind.
  • Rein nationale Akte (die man gemäß dem zuvor Gesagten als „unionsrechtlich nicht determiniertes innerstaatliches Recht“ bezeichnen muss) sind von der vorstehenden Problematik nicht berührt. Für diese gelten von vornherein ausschließlich die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab (klarstellend BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 66 – Antiterrordateigesetz II).
Anwendungsgebiete werden nicht nur Umweltschutzbestimmungen bieten, sondern auch Datenschutz- und Verbraucherschutzbestimmungen, ist die EU bekanntermaßen ja sehr aktiv auf diesen Gebieten. Virulent wird dies bei den bereits erwähnten Richtlinien (EU) 2019/771 (Warenkaufrichtlinie – WKRL) und (EU) 2019/770 (Digitale-Inhalte-Richt¬linie – DIRL). Beide sehen eine weit reichende Vollharmonisierung vor; abweichende nationale Bestimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 1 WKRL i.V.m. ihren Erwägungsgründen 1 und 3 und Art. 4 DIRL i.V.m. deren Erwägungsgrund 11). Auch das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ist vollständig unionsrechtlich determiniert (BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 mit Verweis auf BVerfGE 140, 317, 343; 147, 364, 382).  Nationale Umsetzungsakte werden also unionsrechtlich vollständig determiniertes Recht darstellen mit der Folge, dass Streitigkeiten über deren Rechtmäßigkeit am Maßstab der Unionsgrundrechte zu entscheiden sein werden.

Die vorstehende Problematik kann auch in das (vorliegend relevante) Zivilrecht ausstrahlen. Denn wie bei R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 105 ff. ausführlich dargelegt, gelten die Grundrechte als Impulsgeber einer objektiven Wertordnung auch mittelbar zwischen Privaten (sog. mittelbare Drittwirkung bzw. horizontale Wirkung der Grundrechte): Der Gewährleistungsgehalt der Grundrechte wirkt über das Medium der Vorschriften, die das einzelne Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen. Das gilt insbesondere für die Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Begriffe wie z.B. das „berechtigte Interesse“ in § 23 II KUG. Diese Vorschrift dient dem Ausgleich zwischen dem Bildnisschutz als spezielles Persönlichkeitsrecht und widerstreitenden Verbreitungsinteressen bspw. der Presse. Der Kon­flikt ist dann über die Figur der praktischen Konkordanz (Begriff nach Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 317 ff. – dazu R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 193/384 f.) zu lösen: Die widerstreitenden Grundrechte sind bei der Auslegung bzw. Bestimmung der „berechtigten Interessen“ miteinander und gegeneinander abzuwägen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob es sich bei den miteinander und gegeneinander abzuwägenden Grundrechten um solche des Grundgesetzes oder der EU-Grundrechtecharta handelt. Denn wie aufgezeigt, unterfällt der Bildnisschutz (auch) dem Datenschutz und damit (auch) der DSGVO, die im Grundsatz vollvereinheitlichtes Unionsrecht darstellt und den Prüfungsmaßstab der Unionsgrundrechte eröffnet; die Grundrechte des Grundgesetzes träten zurück. Lediglich, wenn es um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht geht, ist dieses am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu prüfen, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Rein nationale Akte sind von der vorstehenden Problematik nicht berührt. Für diese gelten von vornherein ausschließlich die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab. Im Rahmen der den Zivilrechtsstreit entscheidenden Norm (wie etwa § 1004 II BGB, § 23 II KUG), bei deren Auslegung und Bestimmung die Grundrechte heranzuziehen sind, ist also (vorab) zu prüfen, ob die Unionsgrundrechte oder die Grundrechte des Grundgesetzes den Prüfungsmaßstab bilden. Sollten die Regelungen der DSGVO und damit die Unionsgrundrechte den Prüfungsmaßstab bilden, wären §§ 22, 23 KUG und die Grundrechte des Grundgesetzes nicht anwendbar.

II. Prüfung des Falls
Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch könnte sich aus § 1004 I S. 2 BGB ergeben. Jedoch regelt § 1004 BGB den Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch unmittelbar nur bei Beeinträchtigungen des Eigentums. Beeinträchtigungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (etwa durch unerlaubte Veröffentlichung von Bildnissen oder Benutzung des Namens) sind vom Wortlaut der Vorschrift nicht erfasst. Andererseits besteht ein Bedürfnis, auch dem in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Beeinträchtigten einen Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch gegen den Verletzer zuzubilligen. Die Gesetzeslücke ist zudem planwidrig, da bei Inkrafttreten des § 1004 BGB im Jahre 1900 der Gesetzgeber den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht vor Augen hatte. Daher ist § 1004 BGB analog auch auf Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche bei Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht anzuwenden.

Wesentlicher – vermögensrechtlicher – Bestandteil des Persönlichkeitsrechts ist das Recht, selbst zu entscheiden, ob und in welcher Weise das eigene Bildnis für kommerzielle Zwecke zur Verfügung gestellt werden soll. Dadurch, dass B ohne Erlaubnis das Bildnis des S und dessen Namen für eigene Werbezwecke verwendet hat, was zu einem gewissen Imagetransfer von S in seiner beliebten Serienrolle auf den Hauptgewinn des Preisausschreibens der B geführt hat, ist ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des S (hier: in das Recht am eigenen Bild und das Namensrecht) anzunehmen (BGH 21.01.2021 – I ZR 207/19 Rn. 19).

Da eine weitere Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts nicht ausgeschlossen werden kann, ist auch die für einen Unterlassungsanspruch gem. § 1004 I S. 2 BGB erforderliche drohende Beeinträchtigung gegeben.

Schließlich darf der Unterlassungsanspruch nicht aufgrund einer Duldungspflicht i.S.d. § 1004 II BGB ausgeschlossen sein. Duldungspflichten können etwa aus einem Vertrag, einer Einwilligung oder aus dem Gesetz (hier: §§ 22, 23 KUG) resultieren. Läge also eine vertragliche Vereinbarung, eine Einwilligung oder eine Duldungspflicht vor, stünde S der geltend gemachte Anspruch nicht zu.

Außer bei vertraglicher Vereinbarung dürfen Bildnisse grundsätzlich nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden, § 22 S. 1 KUG. Daran fehlte es vorliegend. Jedoch ist eine Verbreitung oder Schaustellung unter den Voraussetzungen des § 23 KUG auch ohne Einwilligung zulässig. S kann als Person der Zeitgeschichte (§ 23 I Nr. 1 KUG) angesehen werden. Die Verbreitung oder Schaustellung darf aber kein berechtigtes Interesse des S verletzen (§ 23 II KUG). Mit dieser Systematik (Regel-Ausnahme-Gegenausnahme) ordnet das Gesetz zwar eine Abwägung (vorliegend zwischen dem Interesse des S am Schutz seiner Persönlichkeit und dem von B wahrgenommenen Informationsinteresse der Öffentlichkeit) im Einzelfall an, bei Personen der Zeitgeschichte geht es jedoch von einem grundsätzlichen Vorrang des Rechts auf Bild- und Berichterstattung vor dem Persönlichkeitsrecht aus.

Fraglich ist aber, ob der Streitgegenstand überhaupt auf der Grundlage des § 23 II KUG i.V.m. den Grundrechten des Grundgesetzes entschieden werden darf. Denn das Persönlichkeitsrecht umfasst auch das Recht am Bild und damit einen Aspekt des Datenschutzes, der wiederum Gegenstand der DSGVO ist.

Grundsätzlich stellt die DSGVO vollvereinheitlichtes Unionsrecht dar und eröffnet den Prüfungsmaßstab der Unionsgrundrechte; die Grundrechte des Grundgesetzes treten zurück. Lediglich, wenn die DSGVO Aspekte des Datenschutzes nicht vollständig determiniert, ist der Sachverhalt am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu prüfen. Vorschriften der DSGVO, die den Mitgliedstaaten Spielräume lassen, sind Art. 85 II DSGVO („Medienprivileg“) und Art. 88 DSGVO (Beschäftigtendatenschutz).

Vorliegend scheint eine Subsumtion unter Art. 85 II DSGVO mit der Folge der Lösung des Falles über § 23 II KUG ohne weiteres möglich. Gemäß Art. 85 II DSGVO sehen die Mitgliedstaaten für die Verarbeitung personenbezogener Daten, die zu journalistischen Zwecken erfolgt, Abweichungen oder Ausnahmen u.a. von den Art. 5-11 DSGVO vor, wenn dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen.

Mit dieser Regelung scheint dem Anwendungsbereich des § 23 II KUG also nichts im Wege zu stehen. Jedoch muss die Verarbeitung der Daten „zu journalistischen“ Zwecken erfolgen. Erfolgt die Datenverarbeitung zu anderen Zwecken (etwa aus geschäftlichen bzw. kommerziellen Zwecken), ist die Öffnungsklausel des Art. 85 II DSGVO nicht einschlägig und der Sachverhalt ist unionsrechtlich zu prüfen.

Im vorliegenden Fall ist der BGH der Auffassung, zugunsten der B sei zu berücksichtigen, dass sie ein Foto genutzt hat, das auch als Symbolbild für eine Kreuzfahrt im Sinne einer „Traumreise“ steht und sich dadurch teilweise von der Person des S gelöst habe. Dies führe jedoch nicht dazu, dass das Foto – selbst in einem redaktionellen Kontext – schrankenlos für die Bebilderung einer Kreuzfahrt genutzt werden dürfe. Der Symbolcharakter des Fotos sei vielmehr in die Interessenabwägung einzustellen. Diese falle zugunsten des S aus. Das Berufungsgericht habe zutreffend angenommen, die Veröffentlichung des Bildnisses sei nicht geeignet, einen nennenswerten Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten. Es habe der überwiegend kommerziellen Nutzung des Bildnisses des S daher mit Recht entscheidende Bedeutung beigemessen. Die Informationen, die der Beitrag mit Blick auf die Person des S und seine Rolle als Kapitän in der Fernsehserie „Das Traumschiff“ enthalte, seien der Bewerbung des „Urlaubslottos“ der B funktional untergeordnet. B habe ihr Gewinnspiel dadurch aufgewertet, dass sie eine gedankliche Verbindung zwischen dem ausgelobten Hauptpreis einer Kreuzfahrt und der Fernsehserie „Das Traumschiff“ hergestellt habe (BGH 21.1.2021 – I ZR 207/19 Rn. 61).

Mit der Formulierung: „in einem redaktionellen Kontext“ möchte der BGH den Artikel, der offenbar allein kommerziellen Zwecken dient, noch den „journalistischen Zwecken“ zuordnen, damit der Sachverhalt noch vom „Medienprivileg“ des Art. 85 II DSGVO gedeckt ist und somit der Prüfungsmaßstab der §§ 22, 23 KUG i.V.m. den Grundrechten des GG – und nicht derjenige der Art. 5-7 DSGVO i.V.m. Art. 7 und 8 EU-GRC – eröffnet ist. Der BGH legt den Begriff „zu journalistischen Zwecken“ also sehr weit aus, was mit Art. 85 II DSGVO nicht mehr vereinbar sein könnte. Denn Art. 85 II DSGVO sieht Abweichungen und Ausnahmen nur vor, wenn dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen. Bei den „journalistischen Zwecken“ geht es also um die Verbreitung von Informationen und Meinungen, nicht um Gewinnerzielung. Andererseits scheiden auch nach dem EuGH „journalistische Zwecke“ nicht bereits deshalb aus, weil das Medienunternehmen auch eine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt (EuGH EuZW 2009, 108, 110 zur Vorgängerregelung des Art. 9 Datenschutzrichtlinie 95/46/EG). So heißt es nach dem EuGH:

„Zweitens schließt die Tatsache, dass eine Veröffentlichung öffentlicher Daten mit der Absicht verbunden ist, Gewinn zu erzielen, nicht von vorneherein aus, dass sie als eine Tätigkeit angesehen werden kann, die ‚allein zu journalistischen Zwecken erfolgt'. Denn, wie (...) ausführen, möchte jedes Unternehmen mit seiner Tätigkeit einen Gewinn erzielen. Ein gewisser kommerzieller Erfolg kann sogar die unverzichtbare Voraussetzung für den Fortbestand eines professionellen Journalismus sein.“ (EuGH EuZW 2009, 108, 110).

Die Formulierung „allein zu journalistischen Zwecken erfolgt“ ist Wortlaut der Vorgängerregelung des Art. 9 Datenschutzrichtlinie 95/46/EG. Spricht also Art. 85 II DSGVO nur noch von „zu journalistischen Zwecken“ (hat also die Einschränkung „allein“ aufgegeben), kann das nicht ohne Effekt bleiben und wird ein großzügigeres Verständnis erfordern. Gleichwohl muss nach wie vor im Einzelfall die journalistische Tätigkeit im Vordergrund stehen.

Im vorliegenden Fall verwendet B das Bildnis des S für ein „Urlaubslotto“, bei dem als Hauptgewinn eine 13-tägige Kreuzfahrt genannt wurde. Das Foto des S, auf dem dieser als „Kapitän des Traumschiffs“ abgebildet war, diente also offenbar lediglich als „Köder“ für die Teilnahme am „Urlaubslotto“. Ein Bezug zu einer journalistischen Tätigkeit ist selbst nach großzügiger Auslegung des Begriffs „zu journalistischen Zwecken“ nicht gegeben. In diese Richtung argumentiert letztlich auch der BGH, indem er formuliert, dass die Veröffentlichung des Bildnisses nicht geeignet sei, einen nennenswerten Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten. Die Informationen, die der Beitrag mit Blick auf die Person des S und seine Rolle als Kapitän in der Fernsehserie „Das Traumschiff“ enthalte, seien der Bewerbung des „Urlaubslottos“ der B funktional untergeordnet (BGH 21.01.2021 – I ZR 207/19 Rn. 61). Dann aber hätte der BGH von seinem Standpunkt aus die „journalistischen Zwecke“ i.S.d. Art. 85 II DSGVO verneinen und den Sachverhalt am Maßstab der Art. 5-7 DSGVO i.V.m. Art. 7 und 8 EU-GRC prüfen müssen. Zwar schließt – wie der EuGH formuliert – eine Gewinnerzielungsabsicht die „journalistischen Zwecke“ nicht von vornherein aus. Wenn aber das kommerzielle Interesse eindeutig überwiegt, dann darf und muss man die journalistischen Zwecke (und damit den Anwendungsbereich von Art. 85 II DSGVO i.V.m. §§ 22, 23 KUG) verneinen. Gerade im Bereich der Rufausbeutung ist der journalistische Informationsgehalt so gering (quasi nicht mehr als eine notwendige Begleiterscheinung), dass er vollständig zu vernachlässigen ist.

Mithin wird man sagen müssen: Eine Gewinnerzielungsabsicht steht den „journalisti-schen Zwecken“ grundsätzlich nicht entgegen. Gerade privatrechtlich organisierte Medi-enunternehmen sind auf Einnahmen angewiesen. Steht aber die Verwendung fremder Bildnisse nicht im Zusammenhang mit „journalistischer Tätigkeit“, was gerade im Bereich der kommerziell orientierten Rufausbeutung anzunehmen ist, ist die Ratio des Art. 85 II DSGVO nicht gegeben und der Sachverhalt ist daher am Maßstab des Unionsrechts (hier: Art. 5-7 DSGVO i.V.m. Art. 7 und 8 EU-GRC) zu prüfen. Freilich dürften sich im Ergebnis keine Unterschiede zur Prüfung am Maßstab des § 23 II KUG i.V.m. Art. 2 I GG/Art. 1 I GG und Art. 5 I GG/Art. 12 I GG ergeben: Die Persönlichkeitsrechte des S (hier: das Recht am eigenen Bild und das Namensrecht) überwiegen die Meinungs- und Pressefreiheit und die Berufsfreiheit der B. Das wäre auf der Basis Art. 5-7 DSGVO i.V.m. Art. 7 und 8 EU-GRC sogar noch deutlicher.

III. Ergebnis
Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch des S ist begründet.


Rolf Schmidt (20.02.2021)



09.02.2021: Verfassungskonformität der elektronischen Aufenthaltsüberwachung („elektronische Fußfessel“)

BVerfG, Beschluss v. 01.12.2020 – 2 BvR 916/11, 2 BvR 636/12

Mit dem genannten Beschluss hat der Zweite Senat des BVerfG entschieden, dass die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nach § 68b I S. 1 Nr. 12, S. 3 StGB i.V.m. § 463a IV StPO und deren Ausführung mit den Bestimmungen des Grundgesetzes vereinbar seien. Der Gesetzgeber sei jedoch verpflichtet, die spezialpräventiven Wirkungen und technischen Rahmenbedingungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung empirisch zu beobachten und das gesetzliche Regelungskonzept gegebenenfalls den dabei gewonnenen Erkenntnissen anzupassen. Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden, wobei besondere Aufmerksamkeit der unscheinbaren Formulierung: „Die materielle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung (...) ist am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen, da es an unionsrechtlichen Determinierungen fehlt“ gelten soll. Denn durch diese Formulierung scheint sich die vom Verfasser in seinem Beitrag v. 01.12.2019 vorgeschlagene vorangestellte „Anwendbarkeitsprüfung“ zu etablieren.

Dem Beschluss lagen folgende Sachverhalte zugrunde: Der Beschwerdeführer (BF) zu I. (Az. 2 BvR 916/11) („eine einfach strukturierte, sehr schnell erregbare, reizbare und leicht frustrierbare Persönlichkeit“) wurde wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren und sechs Monaten verurteilt. Er hatte das Opfer zunächst körperlich schwer misshandelt und zu sexuellen Handlungen (Geschlechtsverkehr und Oralverkehr) genötigt. Anschließend fügte er ihr Stichverletzungen mit einem Bajonett zu und ertränkte sie in einem See. Während der Strafhaft beging er Gefangenenmeutereien sowie eine Geiselnahme. Das vom Gericht eingeholte forensisch-psychiatrische Gutachten bescheinigte dem Beschwerdeführer eine schizoide autistisch-psychopathische Persönlichkeit. Es wurde eine schizoide autistisch-psychopathische Persönlichkeit diagnostiziert. Auffallend seien seine Gemütsarmut, Gefühlskälte, Unberechenbarkeit und Gnadenlosigkeit. Diese Eigenschaften würden ihn als schizoiden Psychopathen charakterisieren. Nach Verbüßung der Strafhaft wurde eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung geprüft, jedoch mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR für unzulässig erachtet. Stattdessen wurde Führungsaufsicht nach § 68f I S. 1 StGB für die Dauer von fünf Jahren angeordnet. Das zuständige Gericht unterstellte den Beschwerdeführer für diese Zeit der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers und erteilte ihm verschiedene Weisungen nach § 68b I S. 1 StGB. Dabei wurde der Beschwerdeführer u.a. angewiesen, einen festen Wohnsitz zu nehmen und den Kontakt zu drei namentlich benannten Personen zu meiden, und wurde zunächst polizeilich beobachtet. Dann aber wurde als weitere Weisung die elektronische Aufenthaltsüberwachung angeordnet. Er wurde angewiesen, für die Dauer der seitens der forensischen Ambulanz für notwendig erachteten Behandlungs- beziehungsweise Gesprächstermine, längstens jedoch für die Dauer der Führungsaufsicht, die für eine elektronische Überwachung seines Aufenthaltsortes erforderlichen technischen Mittel („elektronische Fußfessel“) ständig in betriebsbereitem Zustand bei sich zu führen und deren Funktionsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen. Der BF zu I. macht verschiedene Grundrechtsverletzungen geltend. Er rügt einen Verstoß gegen Art. 1 I GG, Art. 2 II S. 2 GG, Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG sowohl in seiner Ausprägung als informationelles Selbstbestimmungsrecht als auch in seiner Ausprägung als Resozialisierungsgebot, Art. 12 GG, Art. 103 II GG bzw. das allgemeine Vertrauensschutzgebot und Art. 19 I S. 2 GG (siehe Rn. 79 des Beschlusses).

Der BF zu II. (Az. 2 BvR 636/12) hatte zunächst seine frühere Freundin unter einem Vorwand in sein Auto gelockt, dort mit Handschellen gefesselt und dann mit ihr gegen ihren Willen den Geschlechtsverkehr ausgeübt, weshalb er zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Nach Entlassung aus der Haft lockte er eine schwangere Arbeitskollegin, die er am Tattag noch zu einem Vorsorgetermin gefahren hatte, in seine Wohnung, zwang sie auf ein Sofa und fesselte ihre Hände an eine Lampenhalterung. Anschließend übte er den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss aus, obwohl die Geschädigte ihn mehrfach gebeten hatte, mit Rücksicht auf die ihm bekannte Risikoschwangerschaft und wegen einer ärztlichen Weisung, zum Schutz des Kindes keinen Sexualverkehr zu haben, von ihr abzulassen. In einem anderen Fall fesselte er eine ihm bekannte, 15-jährige Jugendliche mit Handschellen und einer Wäscheleine an ein Couchgestell und führte gegen ihren Willen den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss durch. Über die folgenden vier Tage hielt er sie in einer Wohnung fest und zwang sie in weiteren vier Fällen zum ungeschützten Geschlechtsverkehr. Wegen dieser Taten wurde er zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Nach Haftentlassung wurden ihm u.a. die Weisungen erteilt, seinen Wohn- und Aufenthaltsort nicht länger als drei Tage ohne vorherige Abmeldung bei seinem Bewährungshelfer zu verlassen und sich nicht ohne vorherige Anmeldung bei seinem Bewährungshelfer in zwei bestimmte Gemeinden zu begeben oder dort aufzuhalten. Weiterhin wurde ihm die Weisung erteilt, keinen Kontakt zu vier namentlich benannten Frauen aufzunehmen. Er wurde angewiesen, für die Dauer der Führungsaufsicht die für eine elektronische Überwachung seines Aufenthaltsortes erforderlichen technischen Mittel ständig in betriebsbereitem Zustand bei sich zu führen und deren Funktionsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen. Auch der BF zu II. macht verschiedene Grundrechtsverletzungen geltend. Er rügt einen Verstoß gegen Art. 1 I GG und Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG sowohl in seiner Ausprägung als informationelles Selbstbestimmungsrecht als auch in seiner Ausprägung als Resozialisierungsgebot, Art. 12 GG, Art. 11 GG und Art. 2 II S. 2 GG sowie Art. 103 II GG bzw. das allgemeine Vertrauensschutzgebot und schließlich gegen Art. 19 I S. 2 GG durch die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung. Des Weiteren macht er das Fehlen der Gesetzgebungskompetenz des Bundes und eine unzulässige Privatisierung des Maßnahmenvollzugs geltend (siehe Rn. 99 des Beschlusses).

Im Folgenden gilt es, die geltend gemachten Verfassungsverstöße zu prüfen. Allerdings müsste zunächst der Prüfungsmaßstab geklärt werden. Denn sollte der Sachverhalt europarechtlich determiniert sein, könnte wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts der Sachverhalt am Maßstab des Unionsrechts (d.h. der EU-Grundrechtecharta) zu prüfen sein. Anlass zu dieser Annahme bietet die Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres). Diese Richtlinie regelt den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung und verfolgt eine Mindestharmonisierung innerhalb der Mitgliedstaaten beim Datenschutz auf den genannten Gebieten. Da die vorliegenden Sachverhalte ebendiese Gebiete betreffen, ist ein Unionsrechtsbezug evident, was die Notwendigkeit der Feststellung des Prüfungsmaßstabs erklärt.  
 
I. Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes
1. Anwendungsvorrang der Unionsgrundrechte
Dadurch, dass die Grundrechte der Grundrechtecharta der EU (GRC) integraler Bestandteil des primären Unionsrechts sind (siehe Art. 6 I EUV), sind sie im Rahmen des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta (siehe Art. 51 I GRC, wobei der EuGH den Anwendungsbereich der GRC über den Wortlaut des Art. 51 I GRC hinaus auf den Anwendungsbereich des Unionsrechts erstreckt, EuGH NJW 2013, 1415, 1416 – Åkerberg Fransson; danach reicht also der Anwendungsbereich der GRC so weit wie der des Unionsrechts) verbindliche und mit einem Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht (einschließlich der Grundrechte) versehene Rechtsquelle für Unionsbürger (EuGH Slg. 1964, 1251 ff.; vgl. auch EuGH Slg. 1970, 1125 ff. – Internationale Handelsgesellschaft, aufgegriffen in EuGH NJW 2013, 1215 ff. – Melloni; zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts und dessen Begründung siehe R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 9).

Das BVerfG geht ebenfalls von einem Anwendungsvorrang des Unionsrechts aus (BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht; bestätigt in BVerfGE 102, 147 ff. – Bananenmarktordnung, BVerfGE 126, 286, 302 – Honeywell bzw. Mangold und BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 – Identitätskontrolle) und misst Sachverhalte, die unionsrechtlich vollständig determiniert sind, ausschließlich am Maßstab der Unionsgrundrechte (BVerfG NVwZ 2020, 63, 66 – „Recht auf Vergessenwerden II“; jüngst BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung; siehe zur Problematik R. Schmidt, Grundrechte, 15. Aufl. 2020, Rn. 9f).

Anwendungsvorrang bedeutet nicht Geltungsvorrang. Die Grundrechtecharta lässt also die Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes unberührt. Bei Überlappung der Gewährleistungsbereiche gilt sogar die Schutzniveauklausel (Meistbegünstigungsklausel) des Art. 53 GRC, was nach der Rechtsprechung des EuGH aber nicht dazu führen darf, dass der Anwendungsvorrang der Grundrechtecharta unterlaufen wird (Siehe EuGH NJW 2013, 1215, 1216 f. – Melloni). Greift danach der Anwendungsvorrang der Unionsgrundrechte, bleiben die Grundrechte des Grundgesetzes nach der Rechtsprechung des BVerfG hinter den Unionsgrundrechten „ruhend in Kraft“ (BVerfG NVwZ 2020, 63, 66 – „Recht auf Vergessenwerden II“; bestätigt in BVerfG NJW 2020, 2699, 2703 – Bestandsdatenauskunft II und in BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 64 – Antiterrordateigesetz II). Den Grundrechten des Grundgesetzes komme insoweit eine Reservefunktion zu (BVerfG NVwZ 2020, 63, 66 – „Recht auf Vergessenwerden II“). Das führt zur Notwendigkeit einer Abgrenzung der Anwendungsbereiche und der Bestimmung des Prüfungsmaßstabs.

2. Bestimmung des Prüfungsmaßstabs anhand des Determinationsgrads
Weist also der Sachverhalt (d.h. der Prüfungsgegenstand) Unionsrechtsbezug auf, ist zu empfehlen, vor der eigentlichen Grundrechtsprüfung zu klären, ob Unionsgrundrechte oder Grundrechte des Grundgesetzes den Prüfungsmaßstab bilden (siehe R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 222 ff.). Eine vorausgehende „Anwendbarkeitsprüfung“ scheint nunmehr auch beim BVerfG etabliert zu sein, siehe etwa BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung, wo es heißt: „Die materielle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung (...) ist am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen, da es an unionsrechtlichen Determinierungen fehlt“, was insbesondere am Determinationsgrad des Prüfungsgegenstands festzumachen ist (siehe zur Differenzierung auch Hoffmann, NVwZ 2020, 33, 34 f.):


  • Unionsrechtlich vollständig determinierte Regelungen des deutschen Rechts werden am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden. Zu den unionsrechtlich vollständig determinierenden Regelungen wird man etwa die betreffenden Regelungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zählen müssen (dann wären Prüfungsmaßstab von nationalen Maßnahmen die betreffenden Bestimmungen der DSGVO und letztlich Art. 7 und 8 GRC), aber auch das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 mit Verweis auf BVerfGE 140, 317, 343; 147, 364, 382). Auf Richtlinienebene sind vollharmonisierende Regelungen des zivilistischen Verbraucherschutzrechts zu nennen, etwa die Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU, die – im Übrigen nicht auf den Verbrauchsgüterkauf beschränkt – eine Vollharmonisierung auf EU-Ebene insbesondere im Fernabsatzrecht erreichen möchte (siehe Erwägungsgründe 2, 4, 5, 7 und 9 sowie Art. 4 der RL). Eine weitgehende Vollharmonisierung besteht auch hinsichtlich der Warenkaufrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/771), deren Zweck es ist, zum ordnungsgemäßen Funktionieren des (digitalen) Binnen­markts beizutragen und gleichzeitig für ein hohes Verbraucherschutzniveau zu sorgen (siehe Art. 1 der RL i.V.m. ihren Erwägungsgründen 1 und 3), und hinsichtlich der Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen (Richtlinie (EU) 2019/770), die gemeinsame Vorschriften für bestimmte Anforderungen an Verträge zwischen Unternehmern und Verbrauchern über die Bereitstellung digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen festlegt und in ihren Kernbereichen (wie die Warenkaufrichtlinie) eine weit reichende Vollharmonisierung vorsieht; abweichende nationale Be­stimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 4 der RL i.V.m. Erwägungsgrund 11; lediglich einzelne Materien wie die Verjährungsregelung sind einer abweichenden Regelung zugänglich, siehe Erwägungsgrund 58). Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit nationaler Regelungen werden danach also grundsätzlich am Maßstab der Unionsgrundrechte zu entscheiden sein.
  • Geht es um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht, ist dieses am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu prüfen, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Als Anwendungsfelder seien diejenigen Vorschriften der DSGVO genannt, die den Mitgliedstaaten Spielräume lassen, wie z.B. Art. 85 II DSGVO („Medienprivileg“) oder Art. 88 DSGVO in Bezug auf den Beschäftigtendatenschutz. Auch die „Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz“ (Richtlinie (EU) 2016/680) determiniert nicht vollständig das nationale Recht, da sie lediglich Mindeststandards setzt, den Mitgliedstaaten Spielräume lässt und Abweichungsbefug­nisse enthält. Des Weiteren ist § 6a ATDG zu nennen, der ebenfalls kein (zwingendes) Unionsrecht umsetzt, da die Richtlinie 2002/58/EG („ePrivacy“-Richtlinie), die Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres) und die Richtlinie (EU) 2017/541 (Terrorismusbekämpfungs-Richtlinie) nur Grundsätze und Mindeststandards festlegen (BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 65 ff. – Antiterrordateigesetz II). In diesen Fällen sind die Grundrechte des Grund­gesetzes nicht in ihrer Anwendung gesperrt und das BVerfG prüft innerstaatliches Recht, das der Durchführung von Unionsrecht dient, am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes (BVerfG NVwZ 2020, 53 ff. – „Recht auf Vergessenwerden I“; BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 65 – Antiterrordateigesetz II; siehe auch BVerfG NJW 2020, 2699, 2703 – Bestandsdatenauskunft II) und BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung, wobei das BVerfG nicht die Richtlinie (EU) 2016/680 erwähnt), freilich in richtlinienkonformer Auslegung, was bedeutet, dass die Unionsgrundrechte zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten sind.
  • Rein nationale Akte (die man gemäß dem zuvor Gesagten als „unionsrechtlich nicht determiniertes innerstaatliches Recht“ bezeichnen muss) sind von der vorstehenden Problematik nicht berührt. Für diese gelten von vornherein ausschließlich die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab (klarstellend BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 66 – Antiterrordateigesetz II).
Vordergründig scheint die Sache also unproblematisch zu sein: Unionsrechtlich vollständig determiniertes nationales Recht ist am Maßstab der Unionsgrundrechte zu prüfen; die Prüfung von nicht oder nicht vollständig unionsrechtlich determiniertem nationalem Recht erfolgt am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Ob aber das betreffende Unionsrecht das nationale Recht vollständig determiniert oder diesem Spielräume bzw. Abweichungsbefugnisse lässt, ist – bei unklarem Wortlaut – letztlich durch Auslegung (in der Praxis freilich durch den EuGH) am Maßstab des EU-Primärrechts zu ermitteln. Im Extremfall kann es sogar sein, dass ein Teil einer Vorschrift des Sekundärrechts das nationale Recht vollständig determiniert und ein anderer Teil derselben Vorschrift dem Mitgliedstaat Spielräume bzw. Abweichungsbefugnisse lässt. Die daraus resultierende Folge ist so vorhersehbar wie ambivalent: Der eine Teil der Vorschrift muss sich an Unionsgrundrechten messen lassen, der andere Teil an den nationalen Grundrechten. Wenn sich wenigstens noch sagen ließe, in den meisten Fällen sei das jeweilige Schutzniveau (Grundrecht des Grundgesetzes, Grundrecht der EU-Grundrechtecharta) vergleichbar, sodass sich die gespaltene Prüfung materiell-rechtlich im Ergebnis nicht auswirke. Dem ist aber nicht so, da sich die Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen von Grundrechten der GRC im Hinblick auf die Gewichtung öffentlicher Interessen oder auf die Verarbeitung von Wertungskonflikten bei Grundrechtskollisionen sowie auf die Prüfungsdichte (d.h. die Dichte gerichtlicher Kontrolle von staatlichen Maßnahmen am Maßstab der Grundrechte) von den Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen von Grundrechten des Grundgesetzes unterscheiden (BVerfG NVwZ 2020, 63, 64 ff. – „Recht auf Vergessenwerden II“; siehe auch BVerfG NVwZ 2020, 857, 862 f. – Anleihenkauf der EZB, wo das BVerfG formuliert, dass zwar auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein allgemeiner, in Art. 5 I S. 2 und IV EUV kodifizierter Rechtsgrundsatz des Unionsrechts sei, der seine Wurzeln im Common Law und v.a. im deutschen Recht habe, und dass auch in der Rechtsprechung des EuGH die Begriffe „geeignet“, „erforderlich“ oder „notwendig“ oftmals den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kennzeichneten; jedoch sei damit keine vollständige Übereinstimmung mit deutscher Terminologie und Dogmatik verbunden). Daher wird man in der Rechtsanwendung nicht umhinkommen, in der Grundrechtsprüfung zunächst eine (umfangreiche) Anwendbarkeitsprüfung voranzustellen, denn es muss ja der Prüfungsmaßstab feststehen. Ist demnach ein Grundrecht der EU-Grundrechtecharta anwendbar, muss man folgerichtig auch die hier hierzu ergangene Rechtsprechung des EuGH beachten. Und da das BVerfG den Anwendungsvorrang des Unionsrechts davon abhängig macht, dass die Union die ihr übertragenen Kompetenzen nicht überschritten hat (das BVerfG betont, dass Rechtsakte von Organen der EU, die ersichtlich die ihnen eingeräumten Handlungsbefugnisse überschritten, für deutsche Stellen nicht verbindlich seien und daher auch keinen Anwendungsvorrang gegenüber nationalem (Verfassungs-)Recht begründen könnten, vgl. BVerfGE 126, 286, 302 – Honeywell bzw. Mangold; BVerfG NJW 2019, 3204, 3206 ff. – Europäische Bankenunion; BVerfG NVwZ 2020, 857, 860 – Anleihenkaufprogramm der EZB), wird man darüber hinaus prüfen müssen, ob ein solcher „ausbrechender“ Akt („Ultra-vires-Akt“) vorliegt (siehe dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 21. Aufl. 2020, Rn. 357e ff.). Freilich wird man Kompetenzgemäßheit und Determinationsgrad nur durch eine mehr oder weniger umfangreiche materielle Prüfung des Unionsrechts feststellen können, was zu einer extremen „Kopflastigkeit“ der Prüfung führen kann/muss. Sie ist aber notwendig, um den Prüfungsmaßstab feststellen zu können.

Anwendungsgebiete werden nicht nur Umweltschutzbestimmungen bieten, sondern auch Datenschutz- und Verbraucherschutzbestimmungen, ist die EU bekanntermaßen ja sehr aktiv auf diesen Gebieten. Virulent wird dies bei den bereits erwähnten Richtlinien (EU) 2019/771 (Warenkaufrichtlinie – WKRL) und (EU) 2019/770 (Digitale-Inhalte-Richt­linie – DIRL). Beide sehen eine weit reichende Vollharmonisierung vor; abweichende nationale Bestimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 1 WKRL i.V.m. ihren Erwägungsgründen 1 und 3 und Art. 4 DIRL i.V.m. deren Erwägungsgrund 11). Auch das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ist vollständig unionsrechtlich determiniert (BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 mit Verweis auf BVerfGE 140, 317, 343; 147, 364, 382). Nationale Umsetzungsakte werden also unionsrechtlich vollständig determiniertes Recht darstellen mit der Folge, dass Streitigkeiten über deren Rechtmäßigkeit am Maßstab der Unionsgrundrechte zu entscheiden sein werden.

Im vorliegenden Fall hat das BVerfG festgestellt, dass die materielle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen sei, da es an unionsrechtlichen Determinierungen fehle. Das ist insofern zumindest ungenau, da der Sachverhalt sehr wohl unionsrechtlich determiniert ist. Denn es greift die Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres). Diese Richtlinie regelt den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung und verfolgt eine Mindestharmonisierung innerhalb der Mitgliedstaaten beim Datenschutz auf den genannten Gebieten. Damit besteht sehr wohl ein unionsrechtlicher Determinationsgrad, der allerdings nicht vollständig und abschließend wirkt, weshalb aus diesem Grund die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab zur Verfügung stehen.       


In der Fallbearbeitung kann man u.a. auf die Konstellation treffen, in der sich der Kläger durch einen unionsrechtlich nicht vollständig determinierten innerstaatlichen Rechtsakt in seinen Grundrechten des Grundgesetzes verletzt sieht und hiergegen vor dem zuständigen deutschen Verwaltungsgericht klagt. Dann prüft das Verwaltungsgericht den angegriffenen Akt am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, freilich in europarechtskonformer Auslegung. Es kann aber auch vorkommen, dass sich ein Bürger gegen einen Akt einer deutschen staatlichen Stelle wendet, die vollvereinheitlichtes Unionsrecht (wie z.B. Aspekte des Datenschutzrechts) anwendet. Da ihm in diesem Fall nicht die Direktklage vor dem EuGH offensteht (siehe Art. 263 IV AEUV, der von Handlungen und Rechtsakten der Union ausgeht), kommen nur der nationale Rechtsweg und – nach dessen Erschöpfung – Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG in Betracht. Hierbei ist dann das bei R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 9f erläuterte Problem zu lösen, dass dem BVerfG an sich nur das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab offensteht, vorliegend es sich jedoch um vollvereinheitlichtes Unionsrecht handelt (das lediglich von nationalen Stellen angewendet wird). Während das BVerfG in diesem Fall eine Überprüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte vornimmt (weil die Grundrechte des Grundgesetzes nicht anwendbar seien) (BVerfG NVwZ 2020, 63, 64 ff. – „Recht auf Vergessenwerden II“), sind nach der hier vertretenen Auffassung die Grundrechte des Grundgesetzes sehr wohl anwendbar. Nach dem hier vertretenen Standpunkt stehen die Unionsgrundrechte – wie sich aus Art. 23 und 93 GG ergibt – dem BVerfG in keinem Fall als Prüfungsmaßstab zur Verfügung. Da aber die Individualverfassungsbeschwerde zu den in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätzen (hier: Demokratie und Rechtsstaat) und damit zur „Verfassungsidentität“ gehört, kann das BVerfG staatliche Maßnahmen – auch wenn sie vollvereinheitlichtes Unionsrecht anwenden – am Maßstab des Grundgesetzes prüfen. Man wird sogar sagen müssen: Lässt das Unionsrecht Rechtsschutzlücken, kann es insoweit auch keinen Anwendungsvorrang für sich beanspruchen. Kann also ein Verstoß gegen Unionsgrundrechte nicht vom EuGH geprüft werden, bleibt es bei der Anwendung der nationalen Gerichtsbarkeit, freilich mit den nationalen Grundrechten als Prüfungsmaßstab. Auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen, heißt das: Das BVerfG prüft unionsrechtlich determinierte Akte deutscher öffentlicher Gewalt am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Die vom BVerfG mit Blick auf Art. 23 I GG postulierte „Integrationsverantwortung“ vermag sich nicht über Art. 93 GG hinwegzusetzen, der das Grundgesetz als dem BVerfG zur Verfügung stehenden Prüfungsmaßstab vorgibt (siehe bereits den Beitrag des Verfassers vom 1.12.2019).

Auf der Basis der soeben gemachten Ausführungen ergibt sich hinsichtlich der Feststellung des Prüfungsmaßstabs (Grundrechte des Grundgesetzes oder der Grundrechtecharta) folgendes Prüfungsschema:

1. Feststellung, ob Maßnahme des nationalen Rechts Unionsrechtsbezug hat
Zunächst ist festzustellen, ob der Prüfungsgegenstand Unionsrechtsbezug hat. Ist das nicht der Fall, sind von vornherein die Grundrechte des Grundgesetzes Prüfungsmaßstab.
 
2. Bei Unionsrechtsbezug: Prüfung des Determinationsgrads
Weist die Maßnahme des nationalen Rechts aber Unionsrechtsbezug auf, ist zu prüfen, ob der fragliche Akt deutscher öffentlicher Gewalt
  •  eine unionsrechtlich vollständig determinierte Regelung umsetzt
  •  oder lediglich unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht darstellt.
Ausschließlich unionsrechtlich vollständig vereinheitlichte Akte deutscher Stellen werden am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden (so in den Fällen BVerfG NVwZ 2020, 63 – „Recht auf Vergessenwerden II“; BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 – Europäischer Haftbefehl; BGH NJW 2020, 3436 – Löschungsanspruch ggü Google). Im Übrigen greifen die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab, freilich in europarechtskonformer Auslegung, sofern unionsrechtlich beeinflusst (so in den Fällen BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 – Antiterrordateigesetz II; BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung). Welche der genannten Konstellationen vorliegt, ist mitunter anhand einer um­fangreichen Prüfung des Unionsrechts zu ermitteln und (in der Praxis) ggf. durch Vorabentscheidung des EuGH (Art. 267 AEUV) zu klären.

3. Prüfung der Maßnahme am Maßstab des anwendbaren Grundrechts
Steht demnach der Prüfungsmaßstab fest, ist die staatliche Maßnahme am Maßstab des auf den Sachverhalt anwendbaren Grundrechts zu prüfen.
  •  So gelten für die Prüfung der fraglichen staatlichen Maßnahme am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes die allgemeinen Grundrechtslehren, die spezifischen grundrechtlichen Anforderungen und auch die übrigen vom BVerfG entwickelten Grundsätze. Ggf. sind eine unionsrechtskonforme und konventionskonforme Auslegung erforderlich.
  •  Für die Prüfung der fraglichen staatlichen Maßnahme am Maßstab der Unionsgrundrechte gelten die allgemeinen Grundrechtslehren, die spezifischen grundrechtlichen Anforderungen und auch die übrigen vom EuGH entwickelten Grundsätze. Diese können, müssen aber nicht identisch sein mit denen einer Grundrechtsprüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Ggf. ist (wegen der Kongruenz- bzw. Konvergenzklausel des Art. 52 III S. 1 GRC, wonach Rechte der GRC, die den in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden) eine konventionskonforme Auslegung erforderlich.  
Die Folgen des genannten Anwendungsvorrangs der Grundrechtecharta und der Rechtsprechung des BVerfG zeigen sich bereits jetzt überaus deutlich: Unionsrechtlich vollständig vereinheitlichte Regelungen und damit auch vollharmonisierende Regelungen des sekundären Unionsrechts führen dazu, als alleinigen Prüfungsmaßstab für Akte nationaler Stellen das Unionsrecht anzunehmen.

Das sieht auch der BGH so (BGH NJW 2020, 3436, 3437 ff.), der im Rahmen geltend gemachter Löschungsansprüche ggü Google Einzelfallprüfungen ausschließlich am Maßstab der widerstreitenden Grundrechte der GRC vornimmt. Um im Fall BVerfG NVwZ 2020, 63 („Recht auf Vergessenwerden II“) heißt es: „Der von der Bf. im Ausgangsverfahren verfolgte Anspruch auf Auslistung betrifft Fragen des unionsweit abschließend vereinheitlichten Datenschutzrechts. (...). Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich; das Unionsrecht hat hier gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes Anwendungsvorrang“. Ebenso im Fall BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 (Europäischer Haftbefehl): „Das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ist vollständig unionsrechtlich determiniert (...). Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern die Unionsgrundrechte maßgeblich (vgl. BVerfGE 152, 216, 233 ff.). Die Nichtanwendung der deutschen Grundrechte als unmittelbarer Kontrollmaßstab beruht auf der Anerkennung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts.“

Die Grundrechte des Grundgesetzes werden insoweit an Bedeutung verlieren und als Prüfungsmaßstab nur in Fällen zur Verfügung stehen, in denen es um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht bzw. um rein innerstaatliches Recht geht.

So heißt es in BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 63 (Antiterrordateigesetz II), dass die Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes eröffnet sei, da § 6a ATDG kein zwingendes Unionsrecht in deutsches Recht umsetze. Ähnlich BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 (elektronische Aufenthaltsüberwachung), wo das BVerfG erneut deutlich macht, dass der Beschwerdegegenstand am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen sei, da es an unionsrechtlichen Determinierungen fehle. Daraus folgt im Umkehrschluss: Setzt eine Norm des nationalen Rechts zwingendes Unionsrecht um, stehen die Grundrechte des Grundgesetzes nicht als Prüfungsmaßstab zur Verfügung.

Um den Prüfungsmaßstab festzustellen, ist in Fällen mit Unionsrechtsbezug eine der Grundrechtsprüfung vorgelagerte „Anwendbarkeitsprüfung“ (Feststellung des Determinationsgrads) vorzunehmen, wie dies oben aufgezeigt wurde. Auch in der Rechtsprechung des BVerfG ist die Tendenz erkennbar, im Rahmen einer „Vorabprüfung“ („Anwendbarkeitsprüfung“) den Prüfungsmaßstab (Grundrechte der Grundrechtecharta oder Grundrechte des Grundgesetzes) festzustellen, sofern der Sachverhalt Unionsrechtsbezug aufweist (siehe etwa BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 187 – elektronische Aufenthaltsüberwachung, wo es heißt: „Die materielle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung (...) ist am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen, da es an unionsrechtlichen Determinierungen fehlt“). Diese Vorgehensweise wird man daher auch bei der Bearbeitung von Grundrechtsfällen im juristischen Studium empfehlen müssen, weshalb sich folgendes Prüfschema empfiehlt:

3. Allgemeine Grundrechtsprüfung am Maßstab des Grundgesetzes
Stehen danach die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab fest, wird die Prüfung nach folgendem Schema vorgeschlagen:

a. Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes
Weist (wie vorliegend) der Sachverhalt (d.h. der Prüfungsgegenstand) Unionsrechtsbezug auf, ist vor der eigentlichen Grundrechtsprüfung festzustellen, ob die Grundrechte des Grundgesetzes überhaupt Prüfungsmaßstab sind. Denn Sachverhalte, die unionsrechtlich vollständig determiniert sind, sind nach der insoweit zutreffenden Rechtsprechung des BVerfG ausschließlich am Maßstab der Unionsgrundrechte zu messen. Die Grundrechte des GG sind dann nicht anwendbar (zum Prüfungsschema bzgl. der Unionsgrundrechte siehe R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 222g).

b. Grundrechtsprüfung
aa. Schutzbereich des Grundrechts
Der sachliche und personale Schutzbereich ist durch Auslegung i.S. einer Verfassungsinterpretation zu ermitteln. Die Auslegung erfolgt mit Hilfe der anerkannten Auslegungsmethoden, in erster Linie aus dem Wortlaut und der systematischen Stellung des Grundrechts. Dabei sind die im Verfassungstext vorgesehenen sachlichen (z.B. Beschränkung auf Friedlichkeit bei Art. 8 I GG) und personalen Begrenzungen (z.B. Beschränkung auf Deutsche bei Art. 8 I, 12 I, 9 I oder 11 I GG) zu berücksichtigen. Weiterhin muss die Möglichkeit berücksichtigt werden, extrem sozialschädliche Verhaltensweisen auch dann aus dem Schutzbereich herauszuhalten, wenn der Verfassungstext diesbezüglich keine sachliche Schutzbereichsbegrenzung vornimmt (sog. verfassungsunmittelbare Schutzbereichsbegrenzung).

bb. Eingriff in den Schutzbereich
Ist der Schutzbereich eröffnet, muss als Nächstes der Eingriff in denselben geprüft werden. Zu beachten ist jedoch, dass nicht jede belastende Maßnahme einen Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts darstellt. So werden sog. Bagatelleingriffe nicht erfasst (daher stellt z.B. das bloße Streifegehen von Polizisten auf öffentlichen Verkehrsflächen keinen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG dar). Darüber hinaus ist ein Eingriff zu verneinen, wenn der Betroffene wirksam auf das Grundrecht verzichtet hat. Ein Grundrechtsverzicht liegt vor, wenn der Betroffene rechtlich bindend auf den Schutz des betreffenden Grundrechts verzichtet hat. Kommt einer staatlichen Maßnahme aber eine Eingriffsqualität zu, ist ggf. die Art des möglichen Eingriffs (direkter oder indirekter Eingriff) zu untersuchen: Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff immer dann vor, wenn ein Rechtsakt final und unmittelbar freiheitsverkürzend in die Rechtssphäre des Bürgers eingreift (sog. enger Eingriffsbegriff, der auf die Imperativität des staatlichen Handelns abstellt). Aber auch bei faktisch-mittelbaren Maßnahmen kann ein Eingriff vorliegen (sog. weiter Eingriffsbegriff). Voraussetzung ist aber wegen der Unüberschaubarkeit und Vielgestaltigkeit von Neben- und Folgewirkungen, dass die Belastung von einiger Intensität ist.

cc. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Ein Grundrecht ist verletzt, wenn der Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. Dazu muss zunächst die durch das betreffende Grundrecht eröffnete Einschränkbarkeit (Ausgestaltungs- bzw. Regelungsvorbehalt; einfacher oder qualifizierter Gesetzesvorbehalt etc.) geklärt werden (dazu R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 154 ff.). Ist das Grundrecht einschränkbar und liegt eine entsprechende Grundrechtsschranke vor (z.B. ein förmliches Gesetz), muss diese Schranke ihrerseits verfassungsmäßig sein, insb. den formellen Anforderungen (Beachtung von Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorschriften) und den materiellen Anforderungen (insb. Beachtung des Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) entsprechen (sog. Schranken-Schranken). Vgl. dazu das Prüfungsschema bei R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 168 sowie die Ausführungen bei R. Schmidt, a.a.O. Rn. 169 ff. Im Anwendungsbereich der EMRK ist zudem eine konventionskonforme Auslegung vorzunehmen. Nach Prüfung der Verfassungsmäßigkeit (und der Konventionskonformität) des Gesetzes folgt i.d.R. die Prüfung des Einzelakts (sofern vorhanden).


II. Prüfung der staatlichen Maßnahme (hier: die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung) am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes
Sind die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung unionsrechtlich nicht vollständig determiniert, da die Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres lediglich eine Mindestharmonisierung innerhalb der Mitgliedstaaten beim Datenschutz auf den genannten Gebieten bezweckt, stehen die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab zur Verfügung (auf den nicht gegebenen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot soll nicht weiter eingegangen werden).

1. Menschenwürde (Art. 1 I GG)
Auf die Menschenwürde kann sich jemand berufen, dem in menschenverachtender Weise seine Menschqualität abgesprochen und der zum Objekt eines beliebigen Verhaltens erniedrigt bzw. zu einer vertretbaren Größe herabgewürdigt wird (allg. Auffassung). Freilich sind die Bestimmung der Menschenwürde und der Eingriff nach dieser vagen Formulierung nicht unproblematisch. Jedoch haben sich im Laufe der Zeit bestimmte Fallgruppen herausgebildet, anhand derer sich der Schutzbereich bestimmen lässt. Art. 1 I GG (ggf. i.V.m. Art. 2 I GG) bietet demnach bspw. Schutz vor einer Rundumüberwachung und einem Zwang, an der eigenen Strafverfolgung mitzuwirken (siehe BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 189 f.). Bei der elektronischen Aufenthaltsüberwachung („elektronische Fußfessel“) hat das BVerfG jedoch zu Recht keinen Eingriff in die Menschenwürde angenommen, weil die Betroffenen nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht würden (Rn. 238-251 des Beschlusses).

2. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG)
Von Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG umfasst ist auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Einzelne soll grds. selbst entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Sachverhalte (genauer: personenbezogene Daten) erhoben und hieraus gewonnene Daten verwendet werden (st. Rspr. seit BVerfGE 65, 1, 43 – Volkszählung; vgl. aus jüngerer Zeit bspw. BVerfG 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15 Rn. 71 – Antiterrordateigesetz II; BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 198 – elektronische Aufenthaltsüberwachung). In seiner Funktion als Leistungsrecht gewährt Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG bspw. einen Anspruch eines Täters auf Resozialisierung, d.h. die Chance darauf zu erhalten, sich nach Verbüßung der Strafe in die Gesellschaft wieder einzuordnen und keiner sozialen Isolierung und Stigmatisierung ausgesetzt zu sein (BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn 194/197 – elektronische Aufenthaltsüberwachung). Für den vorliegenden Fall hat das BVerfG entschieden, dass sich die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung als Konkretisierung der verfassungsmäßigen Ordnung darstelle. Sie trage den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Bestimmtheit und Normenklarheit sowie der Verhältnismäßigkeit Rechnung und verstoße weder gegen das Resozialisierungsgebot noch gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Auch liege keine unzulässige Privatisierung staatlicher Aufgaben vor, da die vorliegende Ausgestaltung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung keine Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf Private beinhalte (Rn. 252-314 des Beschlusses).

3. Körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II S. 1 Var. 2 GG)
Obwohl von den Beschwerdeführern nicht gerügt, prüft das BVerfG die Vereinbarkeit der gesetzlichen Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und von deren Anwendung mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es stellt jedoch nach relativ kurzer Prüfung fest, es sei nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen, dass die elektronische Aufenthaltsüberwachung zu Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität führe. Es fehle an hinreichenden Anhaltspunkten, dass das ordnungsgemäße Anlegen und Tragen der „elektronischen Fußfessel“ gesundheitsschädliche oder sonstige mit körperlichen Schmerzen vergleichbare Auswirkungen habe. Allenfalls handele es sich um geringfügige Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Da dieses Recht gemäß Art. 2 II S. 3 GG einem Gesetzesvorbehalt unterliege, wären diese Grundrechtseingriffe aus den zu Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG dargelegten Gründen jedenfalls gerechtfertigt (Rn. 315-323 des Beschlusses).

4. Freizügigkeit (Art. 11 I GG)
Art. 11 I GG garantiert die Freizügigkeit aller Deutschen (wegen Art. 18 AEUV ist eine Erweiterung des Schutzes auch auf andere EU-Bürger erforderlich). Freizügigkeit ist das Recht, unbeschränkt durch die deutsche Staatsgewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen und auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen (BVerfGE 2, 266, 273 ff. – Notaufnahmegesetz; 80, 137, 150 – Reiten im Wald; 110, 177, 190 – Spät­aussiedler; 134, 242, 323 f. – Braunkohletageabbau Garzweiler; BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn 223 – elektronische Aufenthaltsüberwachung). Das BVerfG hat entschieden, dass die Weisung (von der gesetzlichen Regelung des § 68b I S. 1 Nr. 12 StGB ist hier nicht die Rede) zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung Art. 11 I GG nicht tangiere. Die Betroffenen seien allein durch die Überwachungsweisung nicht gehindert, den räumlichen Schwerpunkt ihres Lebens innerhalb des Bundesgebiets frei zu bestimmen oder zu ändern. Auch, wenn die Betroffenen aufgrund der elektronischen Fußfessel gehindert seien, Flugreisen zu unternehmen, tangiere dies nicht Art. 11 I GG, da der Regelungsgehalt von Art. 11 I GG auch bei einer Änderung des Lebensmittelpunkts die Wahl des Beförderungsmittels nicht umfasse (Rn. 324 des Beschlusses).

5. Berufsfreiheit (Art. 12 I GG)
Das Grundrecht auf Berufsfreiheit gewährleistet den Schutz der wirtschaftlichen Entfaltung der Persönlichkeit. Zutreffend hat das BVerfG einen Eingriff in Art. 12 I GG verneint. Weder liege eine unmittelbar auf die Berufstätigkeit bezogene Maßnahme vor, noch sei eine objektiv berufsregelnde Tendenz gegeben. Die Regelung des § 68b I S. 1 Nr. 12 StGB betreffe die Berufsausübung nicht in einem Umfang, der die Annahme einer objektiv berufsregelnden Tendenz begründe (Rn. 325-329 des Beschlusses).

6. Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 I GG)
Art. 13 I GG schützt die Ausübung der Privat- und Intimsphäre im räumlichen Bereich und ist damit besonderer Ausdruck sowohl des Persönlichkeitsrechts als auch der Menschenwürde (siehe nur BVerfG NJW 2018, 2185, 2186; BVerfG NJW 2019, 1428, 1429; BVerfG 1.12.2020 – 2 BvR 916/11 Rn. 228). Da die elektronische Fußfessel auch innerhalb der Wohnung getragen werden muss, erscheint ein Eingriff in das Wohnungsgrundrecht nicht ganz ausgeschlossen. Das BVerfG hat Bedenken. Doch auch, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts vorläge, griffe die Regelung weder in den Kernbereich privater Lebensgestaltung ein, noch würden die verfassungsrechtlichen Vorgaben an den Einsatz technischer Mittel zur Überwachung von Wohnungen missachtet. Mit der bloßen Präsenzkontrolle trage die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung dem verfassungsrechtlichen Gebot, die Wohnung als räumlich-gegenständlichen Bereich der Privatsphäre zu schützen, in dem der Einzelne für sich sein und sich nach selbstgesetzten Maßstäben frei entfalten kann, hinreichend Rechnung. Aber auch, wenn die bloße Feststellung der Anwesenheit in der Wohnung durch den Einsatz von „elektronischer Fußfessel“ und „Home-Unit“ als eine Überwachung von Wohnungen mit technischen Mitteln zu qualifizieren wäre, sei jedenfalls den Rechtfertigungsanforderungen an einen solchen Eingriff gem. Art. 13 IV GG Genüge getan. Bestehe die begründete Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Straftaten der in § 66 III S. 1 StGB genannten Art, sei das Erfordernis einer dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr (Art. 13 IV S. 1 GG), erfüllt (Rn. 330-333 des Beschlusses).

7. Ergebnis
Mit dem BVerfG sind die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung und deren Anwendung verfassungskonform. Das BVerfG prüfte auch die Vereinbarkeit der Maßnahmen mit der EMRK und sah hier ebenfalls keinen Rechtsverstoß. Eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführer ist mithin nicht gegeben.

Rolf Schmidt (09.02.2021)


18.01.2021: „Ugah, Ugah“ – Verletzung der als unantastbar geschützten Menschenwürde

BVerfG, Beschluss v. 02.11.2020 – 1 BvR 2727/19

Mit dem genannten Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG entschieden, dass die Kündigung eines Arbeitsnehmers wegen rassistischer Beleidigung eines dunkelhäutigen Kollegen nicht das Grundrecht des Äußernden aus Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG (Meinungsäußerungsfreiheit) verletzt. Dem Beschluss liegt der Sachverhalt zugrunde, dass der später Gekündigte (im Folgenden: A) während einer betriebsverfassungsrechtlichen Gremiumssitzung im Rahmen einer Auseinandersetzung über den Umgang mit einem EDV-System gegenüber einem dunkelhäutigen Gremiumsmitglied (im Folgenden: B) die Äußerung „Ugah, Ugah“ tätigte, während dieser ihn als „Stricher“ bezeichnete. Das BVerfG entschied, dass die Äußerung „Ugah, Ugah“ Affenlaute imitiere und eine menschenverachtende Dis­kriminierung darstelle. Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden.

I. Grundrechtsgeltung auch im Privatrechtsverhältnis
Im klassischen Sinne stellen die Grundrechte Abwehr-, Leistungs- und Teilhaberechte im Verhältnis zwischen Bürger und Staat dar. Art. 1 III GG stellt dies verfassungsrechtlich klar, indem er die Grundrechtsgeltung nur auf Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung bezieht. Private Rechtssubjekte können (von dem Sonderfall der Beleihung einmal abgesehen) danach keine unmittelbaren Grundrechtsadressaten sein und folgerichtig auch nicht (jedenfalls nicht unmittelbar) Grundrechte anderer Privater verletzen. Gleichwohl können einzelne Grundrechte kraft grundgesetzlicher Anordnung unmittelbar Einfluss auch auf die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander haben, so im Fall des Art. 9 III S. 2 GG. Dieser Effekt wird als „unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte“ bezeichnet (BVerfGE 93, 352, 360 f.; Löwer, in: v. Münch/Kunig, Art. 9 Rn. 56 ff.). Aber auch über den Fall der unmittelbaren Grundrechtsgeltung hinaus üben die Grundrechte, die ja nicht nur subjektive Rechte gegenüber dem Staat begründen, sondern auch eine objektive Wertordnung verkörpern (dazu R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 21 ff. mit Nachweisen aus der Rspr.), Einfluss auf die gesamte (Zivil-)Rechtsordnung aus. Sie gelten daher für alle Bereiche des Rechts als Richtlinie und Impuls und damit auch mittelbar im Verhältnis der Bürger untereinander (allgemeine Ansicht, vgl. etwa BVerfG NVwZ 2020, 53, 59 – „Recht auf Vergessenwerden I“; BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 6; grundlegend BVerfGE 7, 198, 203 ff. – Lüth). Diesbezüglich hat sich der Begriff „mittelbare Drittwirkung der Grundrechte“ etabliert, wobei das BVerfG in einigen jüngeren Entscheidungen nicht mehr explizit diesen Begriff verwendet, sondern schlicht eine Grundrechtsverletzung prüft. In der Sache geht es aber stets darum, dass bei der Auslegung der zivilrechtlichen streitentscheidenden Normen die grundrechtlichen Wertungen nicht verkannt werden. Das gilt insbesondere für die Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffe. „Einfallstore“ der Grundrechte in das Zivilrecht sind unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln wie bspw. der vorliegend streitentscheidende Begriff des „wichtigen Grundes“ in § 626 BGB, über den die Arbeitsgerichte zu entscheiden hatten.

II. Verletzung spezifischen Verfassungsrechts durch die entscheidenden Gerichte
Kommt es wie vorliegend zu einer fachgerichtlichen (hier: arbeitsgerichtlichen) Entscheidung und ist diese dann Gegenstand der Verfassungsbeschwerde, ist es dieser staatliche Akt, der (wegen Art. 1 III GG) auf seine Grundrechtskonformität hin überprüft werden muss. So folgt aus Art. 1 III GG u.a., dass die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der streitentscheidenden Normen die Grundrechte der Parteien beachten müssen. Ob das Fachgericht bei der Anwendung einfachen Rechts die Grundrechte hinreichend beachtet hat, kann vom BVerfG im Rahmen einer Individualverfassungsbeschwerde (Urteilsverfassungsbeschwerde) gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a und §§ 90 ff. BVerfGG überprüft werden. Das BVerfG prüft, ob der Beschwerdeführer gerade durch die fachgerichtliche Entscheidung in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. Ist die fachgerichtliche Entscheidung fehlerhaft und erfolgt die Verurteilung zu Unrecht, sagt man, das Urteil habe spezifisches Verfassungsrecht verletzt. Eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts (bzw. eine spezifische Grundrechtsverletzung) wird an­genommen, wenn
  • durch das gerichtliche Verfahren selbst Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte (z.B. Art. 103 I GG) verletzt wurden,
  • das Gericht seine Entscheidung auf eine grundrechtswidrige Norm gestützt
  • oder bei der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts die Bedeutung der Grundrechte verkannt hat (mittelbare Drittwirkung von Grundrechten)
und die Entscheidung auf einem dieser Fehler beruht (vgl. BVerfGE 7, 198, 203; 18, 35, 92 f.; 30, 173, 196 f.; 57, 250, 272; 74, 102, 127; 86, 59, 64; 59, 231, 268 f.; 77, 240, 255 f.; 101, 361, 388; 103, 142, 150; 105, 252 ff.; 105, 279 ff.; zusammenfassend BVerfG NJW 2015, 3158, 3159; vgl. auch BVerfG 31.1.2017 – 1 BvR 2454/16 und BVerfG NJW 2018, 770 f.).

Vorliegend kommt eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts unter dem Aspekt „Verkennung der Bedeutung der Grundrechte bei Auslegung und Anwendung einfachen Rechts“ (mittelbare Drittwirkung von Grundrechten) in Betracht.

1. Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit durch die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen?
Zu prüfen ist, ob A durch die arbeitsgerichtliche Bestätigung der Kündigung in seinem Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG verletzt ist. Wäre das der Fall, führte das auch zur Unwirksamkeit der Kündigung.

a. Prüfung am Maßstab des Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG   
Aufgrund der Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für eine demokratische Gesellschaft (hinsichtlich Art. 5 I GG vgl. etwa BVerfG NJW 2020, 2622, 2623; grundlegend BVerfGE 7, 198, 208) ist der Begriff der Meinung weit zu verstehen (vgl. nur BVerfGE 61, 1, 7: „Jeder soll frei sagen können, was er denkt ...“). Auf welchen Gegenstand sie sich bezieht und welchen Inhalt sie hat oder auf welchem intellektuellen Niveau sie sich be­findet, ist insoweit gleichgültig; die Äußerung kann wahr oder unwahr (BVerfG NJW 2018, 770), politisch oder unpolitisch, von anderen als wertvoll oder wertlos, sachlich oder polemisch, vernünftig oder unvernünftig, harmlos oder gefährlich bzw. verletzend oder schockierend empfunden werden (siehe nur BVerfG NJW 2020, 2622, 2623). Nach Auffassung des BVerfG, das insoweit einen Rückschluss aus Art. 5 II Var. 3 GG (Recht der persönlichen Ehre) zieht, sind sogar Beleidigungen vom Schutzbereich des Art. 5 I GG erfasst; selbstverständlich treten sie dann aber im Rahmen der bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung vorzunehmenden Güterabwägung hinter den Ehrschutz zurück (vgl. etwa BVerfG 19.8.2020 – 1 BvR 2249/19; BVerfG NJW 2020, 2622, 2623). Denn auch das hohe Gut der Meinungsäußerungsfreiheit ist nicht schrankenlos gewährleistet, sondern steht (selbstverständlich) unter dem Postulat der Abwägung mit widerstreitenden Verfassungsgütern, insb. mit dem Persönlichkeitsrecht des von der Meinungsäußerung Betroffenen. Der Schrankenvorbehalt des Art. 5 II GG stellt dies klar. Aber auch bei Formalbeleidigungen, Schmähungen und sogar verbalen Angriffen auf die Menschenwürde nimmt das BVerfG regelmäßig die Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 5 I GG an, lässt die Äußerungen aber (selbstverständlich) auf Schrankenebene (i.d.R. ohne eine umfassende Einzelfallabwägung vorzunehmen) hinter den Ehrschutz zurücktreten (vgl. etwa BVerfG NJW 2020, 2622, 2623 – Beleidigung von Justizpersonen; BVerfGE 93, 266, 293 f. – „Soldaten sind Mörder“; BVerfG NJW 2013, 3021, 3022 – Bezeichnung einer Rechts­anwaltskanzlei als „Winkeladvokatur“).

Eine Formalbeleidigung (die tw. auch als (Unter-)Form der Schmähung angesehen wird, siehe BVerfGE 93, 266, 294 und BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn 18) liegt nach allgemeiner Auffassung bei besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern – etwa aus der Fäkalsprache – vor, bei denen sich die Ehrkränkung nicht erst aus dem Inhalt der Äuße­rung ergibt, sondern schon durch die eindeutigen Worte, d.h. die Form (z.B. die Bezeichnung als „dumme Gans“ oder als „Vollidiot“) (BVerfG NJW 2020, 2622, 2624 f.).

Schmähungen sind Äußerungen, bei denen nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Es geht um Äußerungen, bei denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um eine andere Person persönlich zu kränken, über sie herzuziehen oder sie niederzumachen (vgl. etwa BVerfG NJW 2020, 2622, 2624 – Bezeichnung von Richtern u.a. als „asoziale Justizverbrecher“, „Provinzverbrecher“ und „Kindesentfremder“, die Rechtsbeugung begingen und Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien – und BVerfG NJW 2016, 2870 – Bezeichnung einer Staatsanwältin als „widerwärtig, boshaft, dümmlich und geisteskrank“ –, jeweils mit Verweis auf BVerfGE 82, 272, 283 f.; 85, 1, 16; 93, 266, 294).

Eine Menschenwürdeverletzung ist anzunehmen, wenn sich eine Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern sie einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht, wie das insbesondere bei einer menschenverachtenden Diskriminierung anzunehmen ist (vgl. BVerfG NJW 2020, 2622, 2625; BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn 15 – jeweils m.w.N.).

So heißt es im vorliegend zu besprechenden Beschluss, ob die gegenüber dem dunkelhäutigen Arbeitskollegen getätigte Äußerung „Ugah, Ugah“ eine erhebliche arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darstellt, die als wichtiger Grund i.S.v. § 626 BGB zur Kündigung berechtigt:

„Die weitere eng zu verstehende Ausnahme vom Abwägungsgebot ist eine Äußerung, mit der die in Art. 1 Abs. 1 GG als unantastbar geschützte Menschenwürde verletzt wird. Da die Menschenwürde mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig ist, muss die Meinungsfreiheit dann stets zurücktreten.“ Weiter heißt es: „Sie (die Arbeitsgerichte) begründen ... ausführlich, dass es sich um menschenverachtende Diskriminierung handelt.“ (BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 18).

b. Stellungnahme

Dass im Ergebnis die Äußerung des A gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des B zurücktreten muss und die Schwere der Würdeverletzung auch die fristlose Kündigung nach § 626 BGB rechtfertigt, ist nachvollziehbar und nicht zu beanstanden. Zu beanstanden ist aber die dogmatische Struktur der vom BVerfG vorgenommenen Grundrechtsprüfung. Den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG bei einer Äußerung zu bejahen, die nach ausdrücklicher Feststellung des BVerfG eine menschenverachtende Diskriminierung dar­stellt und die die als unantastbar geschützte Menschenwürde verletzt, kann nicht überzeugen. So würde das BVerfG auch den Schutzbereich des Art. 12 I S. 1 GG bspw. bei Menschenhandel, Zuhälterei, Handel mit kinderpornographischem Material, Dro­gen­handel keinesfalls bejahen. Daher erscheint es überzeugender, auf die Figur der verfassungsimmanenten Schutzbereichsbegrenzung (Muckel, FS Schiedermair, 2001, S. 347 mit Verweis auf Isensee, in: HdbStR V, § 111 Rn 56; Dreier, in: Dreier, GG, Vorb. Rn 88 ff.; vgl. auch Stern, Staatsrecht III/2, 1994, S. 530 ff.) zurückzugreifen, wonach die grundrechtlichen Schutzbereiche stets unter Berücksichtigung der jeweiligen Funktion eines Grundrechts zu ermitteln sind (siehe dazu ausführlich R. Schmidt, Grundrechte, 25. Auflage 2020, Rn. 126 ff.). So hat Art. 12 I S. 1 GG sicherlich nicht die Funktion, Menschenhändlern, Zuhältern, Personen, die mit kinderpornographischem Material handeln, Dro­genh­ändlern oder gar „Berufskillern“ den grundrechtlichen Schutzbereich zu gewähren. Auch Art. 5 I GG kann nicht dazu dienen, Äußerungen zu schützen, die nicht ansatzweise der Auseinandersetzung in der Sache dienen, sondern bei denen die Diffamierung der Person im Vordergrund steht oder die eine menschenverachtende Diskriminierung dar­stellen. Vom Standpunkt der verfassungsimmanenten Schutzbereichsbegrenzung aus erreicht man also eine Ausgrenzung der aufgezeigten Verhaltensweisen aus dem Schutzbereich und vermeidet die mit der Bejahung des Schutzbereichs verbundene, nicht zu vermittelnde Wirkung. Freilich führt das in der Konsequenz dazu, dass Aspekte der Güterabwägung, die nach der Systematik der Grundrechte der Rechtfertigungsebene zuzuordnen sind, in die Schutzbereichsprüfung „vorverlagert“ werden.

2. Ergebnis  
Nach dem vom Verfasser vertretenen Standpunkt sind Verhaltensweisen, die mit der Funktion des Grundrechts nichts zu tun haben, aus dem Schutzbereich (Gewährleistungsbereich) herauszunehmen. Ist es nicht vermittelbar, z.B. Killerdiensten, Zuhälterei, Menschenhandel, Drogenhandel etc. lediglich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 12 I S. 1 GG zu begegnen (jedoch den Schutzbereich als eröffnet anzusehen), kann hinsichtlich verbaler Angriffe auf die auch vom BVerfG als unantastbar angesehene Menschenwürde nichts anderes gelten, möchte man sich nicht dem Einwand der Inkohärenz aussetzen.

III. Hinweise für die Bearbeitung entsprechender Fallstudien
Ob man bei Vorliegen einer Schmähung den Schutzbereich des Art. 5 I GG verneint oder diesen als eröffnet ansieht und die Schmähung auf Schrankenebene zurücktreten lässt, mag auf den ersten Blick einerlei sein, da die Schmähung auf jeden Fall keinen Bestand hat. Jedenfalls hinsichtlich solcher Schmähungen, die auf die Verletzung der Menschenwürde gerichtet sind, sprechen die besseren Argumente für die Verneinung bereits des Schutzbereichs, allein, um dem Äußernden nicht noch den Schutzbereich des Grundrechts zu eröffnen.

Keinesfalls offenbleiben darf aber die Frage, ob die zu prüfende Äußerung eine Schmähung bzw. eine Formalbeleidigung oder eine menschenverachtende Diskriminierung darstellt oder lediglich als polemische und überspitzte Kritik einzustufen ist. Denn während die Schmähung (bzw. die Formalbeleidigung oder die menschenverachtende Diskriminierung) entweder zur Verneinung bereits des Schutzbereichs führt oder jedenfalls (unter Verzicht auf eine Abwägung im Einzelfall) hinter das kollidierende allgemeine Persönlichkeitsrecht zurücktritt, ist bei einer lediglich polemischen oder überspitzten Kritik eine echte Abwägung zwischen den kollidierenden Rechtsgütern erforderlich (vgl. dazu BVerfG NJW 2003, 1109, 1110; DVBl 2009, 243, 244 f.; NJW 2012, 3712, 3713 f.; BGH NJW 2004, 596 f.). In der Fallbearbeitung ist also folgendermaßen vorzugehen:
  • Zuerst ist im Rahmen der Schutzbereichsprüfung die Frage aufzuwerfen, ob die möglicherweise als Schmähung, Formalbeleidigung oder als verbaler Angriff auf die Menschenwürde einzustufende ehrverletzende Äußerung noch vom Schutzbereich des Art. 5 I GG erfasst sein kann. Sollte man der hier vertretenen Auffassung folgen und derartige Äußerungen (mit dem Argument, dass das BVerfG auch Drogenhandel, Handel mit kinderpornographischem Material etc. aus dem Schutzbereich des Art. 12 I S. 1 GG ausnehmen würde) aus dem Schutzbereich heraushalten wollen, ist das Prüfprogramm bereits auf Schutzbereichsebene zu durchlaufen: In einem ersten Schritt ist die Äußerung als „einfache“ ehrverletzende Äußerung, Schmähung, Formalbeleidigung oder als verbaler Angriff auf die Menschenwürde einzustufen. Dabei ist (jedenfalls dem BVerfG zufolge) ein strenger Maßstab anzuwenden (dazu sogleich). Lediglich die „einfache“ ehrverletzende Äußerung kann demnach den Schutzbereich beanspruchen.
  • Sollte man die ehrverletzende Äußerung – unabhängig von ihrer Qualität – mit dem BVerfG stets dem Schutzbereich des Art. 5 I GG zuordnen, erfolgt die Notwendigkeit der Abgrenzung auf Rechtfertigungsebene, bei der an sich „eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen“ (BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 12), vorzunehmen ist. Hierbei ist dann die Äußerung einzustufen, da die Meinungsäußerungsfreiheit bei Schmähungen, Formalbeleidigungen oder verbalen Angriffen auf die Menschenwürde zurücktritt, ohne dass es einer Einzelfallabwägung bedarf (BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 12 m.w.N.). Die Einstufung darf aber nicht vorschnell erfolgen, sondern verlangt unter Anwendung strenger Maßstäbe (BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 12 – mit Verweis auf BVerfG NJW 2020, 2622, 2623: „An diese Ausnahmefälle sind aber jeweils strenge Kriterien anzulegen und ihr Vorliegen ist ausführlich zu begründen.“). und dem Erfordernis ausführlicher Begründung eine eingehende Auseinandersetzung mit den Sachverhaltsangaben, d.h. man „muss sich umfassend mit den konkreten Umständen auseinandersetzen, also in der Regel Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten berücksichtigen“ (BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 16). Danach darf nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Schmähung nur angenommen werden, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung und Verletzung der Person im Vordergrund steht (BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 13 m.w.N.). Und bei der Annahme einer Formalbeleidigung sei die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit entscheidend (BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 14 m.w.N.). Schließlich komme ein verbaler Angriff auf die Menschenwürde nur in Betracht, wenn einer konkreten Person der ihre menschliche Würde ausmachende Kern der Persönlichkeit abgesprochen wird (BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 15 m.w.N.). Sollte demnach die Äußerung als Schmähung, Formalbeleidigung oder als verbaler Angriff auf die Menschenwürde einzustufen sein, ist eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen, nicht erforderlich. Die Einstufung ist aber ausführlich zu  begründen. Zudem macht das BVerfG deutlich, dass sich in Grenzfällen eine hilfsweise Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz anbiete. Im Rahmen dieser Abwägung sei mit Blick auf den Inhalt einer Äußerung insbesondere abwägungsrelevant, welcher konkrete ehrschmälernde Gehalt ihr zukomme, ob sie die betroffene Person als ganze oder nur einzelne ihrer Verhaltensweisen betreffe und ob durch die strafrechtliche Sanktionierung die Freiheit berührt werde, bestimmte Inhalte und Wertungen überhaupt zum Ausdruck zu bringen (BVerfG NJW 2020, 2622, 2625 f.). 

Rolf Schmidt (18.01.2021)



03.01.2021: Downblousing und Upskirting – Der neue Straftatbestand der Verletzung des Intimbereichs durch Bildaufnahmen (§ 184k StGB)

Mit dem neunundfünfzigsten Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs (Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes bei Bild­aufnahmen) v. 09.10.2020 (BGBl I 2020, S. 2075) hat der Gesetzgeber die Strafnorm des § 184k StGB erlassen. Sie gilt seit dem 01.01.2021. Hintergrund, Anwendungsbereich und Rechtsfolgen sollen im Folgenden dargestellt werden. Zudem werden verfassungsrechtliche Defizite aufgezeigt.

I. Einführung
Die mit Wirkung zum 01.01.2021 eingeführte Vorschrift des § 184k StGB schützt den körperlichen Intimbereich und damit mittelbar die Intimsphäre i.S.d. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG vor unbefugten Bildaufnahmen, indem sie eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe androht für den Fall, dass jemand absichtlich oder wissentlich von den Genitalien, dem Gesäß, der weiblichen Brust oder der diese Körperteile bedeckenden Unterwäsche einer anderen Person unbefugt eine Bildaufnahme herstellt oder überträgt, soweit diese Bereiche gegen Anblick geschützt sind (§ 184k I Nr. 1 StGB). Mit ihr wollte der Gesetzgeber eine Strafbarkeitslücke schließen, die darin bestand, dass Fälle, in denen jemand heimlich derartige Bildaufnahmen hergestellt oder übertragen hat, die ins­besondere den Blick in den Ausschnitt (sog. Downblousing) und unter den Rock oder unter das Kleid einer Frau zeigen (sog. Upskirting), weder vom StGB noch von Vorschriften des Nebenstrafrechts erfasst wurden.

Tatsächlich waren derartige Verhaltensweisen nicht oder nur ansatzweise von den geltenden Strafnormen erfasst. So ist das inkriminierte Verhalten zunächst nicht (vollständig) von § 33 I KUG erfasst, da die von der Vorschrift in Bezug genommenen §§ 22, 23 KUG nur das Verbreiten und das Öffentlich-zur-Schau-Stellen erfassen, nicht jedoch auch das Anfertigen von Bildnissen. Zudem ist zweifelhaft, ob es sich bei den Fotos um „Bildnisse“ handelt, jedenfalls dann, wenn lediglich der Genital- oder Brustbereich zu erkennen ist, nicht aber die Person als solche (siehe Kötz, IPRB 2020, 143, 144). Eine Strafbarkeit nach § 184i StGB scheitert an der fehlenden, jedoch nach § 184i I StGB erforderlichen „körperlichen Berührung“ (siehe bereits R. Schmidt, Strafrecht Besonderer Teil I, 21. Aufl. 2019, Rn. 945 – zu § 184i StGB). § 184i StGB wäre lediglich einschlägig, wenn der Täter dem (weiblichen) Opfer bspw. an die Brust, den Po oder in den Schritt fasste, da in diesen Fällen die in der Vorschrift geforderte unmittelbare körperliche Einwirkung gegeben wäre. § 185 StGB ist von vornherein nicht einschlägig, da die Beleidigungsdelikte nicht als Auffangtatbestände für sexualbezogene Handlungen dienen können. Auch deckt § 201a I StGB derartige Fälle der Verletzung des Intimbereichs nicht ab, da die Vorschrift nur vor unbefugten Bildaufnahmen schützt, wenn sich die be­troffene Person in einer Wohnung oder einem gegen Ein­blick besonders geschützten Raum befindet, etwa in einem (ärztlichen) Behandlungszimmer, einer Umkleidekabine oder einer sanitären Anlage. Diese Art der Ver­letzung des Intimbereichs nahm – jedenfalls von der Prämisse des Gesetzgebers aus – seit etlichen Jahren zu, da es moderne Kameratechnik (Miniaturkameras mit hoher Auflösung, auch in Handys) erlaubt, solche Auf­nahmen vom Opfer oft unbemerkt zu fertigen.

Ob aber die Notwendigkeit bestand für den Erlass der Strafvorschrift, erscheint zweifelhaft. So weist Kötz (IPRB 2020, 143, 146) darauf hin, dass (in Deutschland) noch nicht einmal eine Empirie existiere (Ergänzung: eine das Phänomen quantitativ und qualitativ untersuchende Forschung). Und Gramlich/Lütke (MMR 2020, 662, 665) weisen darauf hin, dass der Gesetzgeber ausschließlich auf Studien aus England und Wales Bezug genommen habe und lediglich vermute, auch in Deutschland gebe es ein beachtliches Dunkelfeld. Einen Straftatbestand lediglich auf Vermutungen zu stützen, ohne auf empirische Daten zurückgreifen zu können, überzeugt in der Tat nicht.   

Unabhängig davon weisen die beschriebenen Verhaltensweisen Sexualbezug auf (obwohl der Täter durchaus auch andere Tatmotive haben kann wie schlicht die Absicht, das Opfer zu demütigen bzw. zu kompromittieren), weshalb sich der Gesetzgeber entschlossen hat, die Tat in den 13. Ab­schnitt des StGB (Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung) aufzunehmen und nicht – wie ursprünglich vorgesehen – durch eine Änderung des § 201a StGB zu normieren (siehe dazu BT-Drs. 19/20668, S. 13). Zur Vorschrift im Einzelnen:

II. Der neue Straftatbestand des § 184k StGB

1. Tatbestand des § 184k I Nr. 1 StGB
Tatobjekt sind Genitalien, das Gesäß, die weibliche Brust oder die diese Körperteile be­deckende Unterwäsche der betroffenen Person, soweit sie gegen Anblick geschützt sind. Daher macht sich nicht nur strafbar, wer nackte Genitalien, das nackte Gesäß oder die nackte weibliche Brust fotografiert, sondern auch derjenige, der die Körperteile in beklei­detem Zu­stand fotografiert, was die Verhältnismäßigkeit der Strafvorschrift in Frage stellt. Zudem stellen sich Fragen hinsichtlich der Vereinbarkeit der Norm mit dem Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 II GG, da unklar ist, wann lediglich eine (straflose) Körperaufnahme und wann eine fokussierte und damit strafbare Aufnahme der Genitalien, des Gesäßes oder der weiblichen Brust vorliegt. Denn dank moderner, hochauflösender Kameras sind Fotos von derart guter Qualität, dass auch „neutrale“ Fotos die Genitalien, das Gesäß und die weibliche Brust überaus deutlich darstellen können.

Fraglich ist auch die Vereinbarkeit der Regelung mit Art. 3 I, III S. 1 GG: Dadurch, dass sich das Adjektiv „weiblich“ lediglich auf die Brust bezieht, die Strafnorm sich also lediglich auf die Brust einer Frau bezieht, sind die Genitalien, das Gesäß und die Unterwäsche auch von Männern und Personen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen (also eine binäre Zuordnung ablehnen und damit dem „dritten Geschlecht“ angehören), tatbestandlich erfasst, nicht aber deren Brust (da nicht „weiblich“). Tatbestandslos ist daher das Fotografieren der Brust einer Person des dritten Geschlechts (die Strafbarkeit des Versuchs ist nicht angeordnet), was dem Schutzbedürfnis dieses Personenkreises nicht gerecht wird und zudem die Frage nach der Verfassungskonformität (Vereinbarkeit mit Art. 3 I, III S. 1 GG) der Regelung aufwirft. Denn es ist kein Sachgrund erkennbar, warum (auf die Brust bezogen) nur Personen des weiblichen Geschlechts, nicht aber auch Personen des dritten Geschlechts geschützt sein sollen. Bei einer Transgender-Person ist die Frage nach der „Weiblichkeit“ der Brust ungleich schwieriger zu beantworten, sodass ein Verstoß der Strafnorm gegen Art. 3 III S. 1 GG nur durch eine teleologische Auslegung abgewendet werden kann, indem man den Begriff der „weiblichen Brust“ losgelöst vom weiblichen Geschlecht versteht und auch Personen des dritten Geschlechts und Transgender-Personen einbezieht (womit man dann allerdings wieder in Konflikt mit Art. 103 II GG geriete).   

Tathandlung des § 184k I Nr. 1 StGB ist das unbefugte Herstellen oder Übertragen einer Bildaufnahme. Mit „Herstellen“ ist schlicht das Fotografieren gemeint, mit „Übertragung“ das Versenden des Bildes via E-Mail oder App, aber auch das Speichern auf einem externen Medium (USB-Stick etc.). Wie aus der Konjunktion „oder“ klar wird, muss der Täter, der die Bildaufnahme überträgt, diese zuvor nicht selbst hergestellt haben.
 
Beispiel: A fotografiert heimlich mittels Handykamera den (mit einem Slip bedeckten) Genitalbereich der einen Rock tragenden O, als diese ihm gegenüber am Tisch sitzt. Später zeigt er die Aufnahme dem B, der das Foto auf sein Handy überträgt.
In diesem Fall ist A strafbar gem. § 184k I Nr. 1 wegen Herstellens einer Bildaufnahme und B ist strafbar gem. § 184k I Nr. 1 in der Variante des Übertragens.


Unbefugt ist die Bildaufnahme hergestellt (oder übertragen), wenn der Täter gegen oder ohne den Willen des Opfers handelt. Ist die Zielperson also „einverstanden“, liegt (wie z.B. bei § 238 StGB) ein tatbestandsausschließendes Einverständnis vor. Daraus folgt zugleich, dass es sich bei dem Merkmal „unbefugt“ um ein objektives Tatbestandsmerkmal handelt, nicht um einen bloßen Ver­weis auf das mögliche Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes (davon geht auch der Gesetzgeber aus, vgl. BT-Drs. 19/17795, S. 9 f.; zur (weiteren) Bedeutung dieser Einstufung vgl. R. Schmidt, Strafrecht Besonderer Teil I, 21. Aufl. 2019, Rn. 858 sowie allgemein R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 21. Aufl. 2019, Rn. 212 ff.). Das bedeutet:
  • Der Täter muss gegen oder ohne den Willen des Opfers handeln. Ausdrückliches oder stillschweigendes (d.h. konkludentes) Einverständnis des Opfers schließt somit bereits die Tatbestandsverwirklichung aus (BT-Drs. 16/575, S. 7 – zu § 238 StGB).
  • Das Merkmal „unbefugt“ muss vom Tatbestandsvorsatz des Täters umfasst sein. Ein Irrtum hinsichtlich der Befugnis schließt den Tatbestand aus (§ 16 I S. 1 StGB); eine fahrlässige Begehung (die wegen § 16 I S. 2 StGB zur Strafbarkeit führen würde) ist mangels Strafbarkeitsanordnung nicht strafbar.
Subjektiv muss der Täter „absichtlich oder wissentlich“ handeln. Die Vorsatzform „Absicht“ (dolus directus 1. Grades) ist dadurch gekennzeichnet, dass es dem Täter gerade darauf ankommt, den Taterfolg herbeizuführen (Sch/Sch-Sternberg-Lieben/Schuster, § 15 StGB, Rn. 66; siehe auch BGH NStZ-RR 2017, 238). Maßgeblich ist der zielgerichtete Erfolgswille. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Täter die Erreichung des Taterfolgs für sicher oder nur für möglich hält (BGH NStZ-RR 2017, 238). Entscheidend beim dolus directus 1. Grades ist also das voluntative Element mit der Folge, dass hinsichtlich des kognitiven Elements ein bloßes Für-möglich-Halten genügt. Demgegenüber kennzeichnet „wissentlich“ den direkten Vorsatz (dolus directus 2. Grades): Der Täter weiß oder setzt als sicher voraus, dass sein Handeln zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands führt („sicheres Wissen“), lässt sich aber trotzdem nicht davon abbringen, die Tathandlung auszuführen, möge ihm der Taterfolg auch noch so unerwünscht sein (st. Rspr. seit BGHSt 18, 246, 248; 21, 283, 285; vgl. auch Fischer, § 15 StGB, Rn. 7; Sternberg-Lieben/Sternberg-Lieben, JuS 2012, 976, 977). Die Begrenzung auf „absichtlich“ und „wissentlich“ führt immerhin dazu, dass eine Handlung, die lediglich mit dolus eventualis begangen wird, nicht tatbestandlich ist.

2. Tatbestand des § 184k I Nr. 2 StGB
§ 184k I Nr. 2 StGB sanktioniert den Fall, dass jemand eine durch eine Tat nach § 184k I Nr. 1 StGB hergestellte Bildaufnahme gebraucht oder einer dritten Person zugänglich macht. Mit „Gebrauchen“ dürfte der Fall gemeint sein, dass der Täter die von ihm gefertigte Bildaufnahme anschaut, kopiert oder das Bild bearbeitet. Einer dritten Person zugänglich gemacht wird die Bildaufnahme, wenn die dritte Person die Möglichkeit der Kenntnisnahme erhält oder – erst recht – die Verfügungsgewalt über sie erlangt, was im Fall des Ein­stellens des Bildes ins Internet (entweder durch direkten Upload oder mit Verlinkung auf den Upload) durch den Täter des § 184k I Nr. 2 StGB ohne weiteres anzunehmen ist. Strafbar macht sich somit (noch) nicht, wer – ohne „Vortäter“ nach § 184k I Nr. 1 StGB zu sein – z.B. (jeweils ohne vorheriges Anschauen) eine einschlägige Bilddatei lediglich empfängt oder speichert oder – ohne Zugriffsmöglichkeit für Dritte – in der „Cloud“ hochlädt.

Wie durch die Tatbestandsformulierung in § 184k I Nr. 2 StGB deutlich wird, braucht der Täter des § 184k I Nr. 2 StGB nicht auch Täter der „Vortat“, also einer Tat nach § 184k I Nr. 1 StGB, zu sein. Das kann dazu führen, dass jemand, der eine Bildaufnahme anschaut oder bearbeitet, nicht aber mit der Person identisch ist, die die Bildaufnahme hergestellt hat, und auch über die Herkunft des Bildes nichts weiß, ebenso strafbar ist (nach Nr. 2) wie der „Vortäter“ (nach Nr. 1). Da – wie aufgezeigt – das Tatobjekt noch nicht einmal nackt zu sein braucht, um die Strafbarkeit auszulösen, stellt sich (auch) in dieser Konstellation nicht nur die Frage nach der Strafwürdigkeit eines solchen Handelns, sondern auch nach der Verhältnismäßigkeit.

Ist der Täter des § 184k I Nr. 2 StGB auch Täter des § 184k I Nr. 1 StGB, stellt sich schließlich die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis der beiden Tatbestände zueinander.
  • Geht man davon aus, dass der Täter die Bildaufnahme fertigt oder überträgt, um sie anschließend zu gebrauchen oder einer dritten Person zugänglich zu machen, wird man, da die Tat nach § 184k I Nr. 1 StGB gerade auf das spätere Gebrauchen oder Zugänglichmachen abzielt, richtigerweise von einer tatbestandlichen Handlungseinheit ausgehen müssen (einheitliche Tat im Rechtssinne). Hier wird die mit dem Herstellungs- bzw. Übertragungsakt vollendete Straftat erst mit dem Gebrauchen bzw. dem Zugänglichmachen beendet. Es liegt dann nur ein einheitliches Delikt der Verletzung des Intimbereichs durch Bildaufnahmen vor. Sollte man diesem Gedanken nicht folgen, wird das Fertigen bzw. Übertragen  der Bildaufnahme als mitbestrafte Vortat zum späteren Gebrauchen bzw. Zugänglichmachen (Nachtat) verdrängt (Fall der Konsumtion). Denn der Unrechtsgehalt liegt schwerpunktmäßig auf der Nachtat.
  • Beruht das Gebrauchen bzw. Zugänglichmachen jedoch auf einem neuen, selbstständigen Tatentschluss, ist dagegen Realkonkurrenz anzunehmen. Das ist insbesondere immer dann anzunehmen, wenn bei der Herstellung oder dem Übertragen das spätere Gebrauchen bzw. Zugänglichmachen nicht beabsichtigt war oder es zu einer anderen Art des Gebrauchens oder Zugänglichmachens kommt als geplant. Mehrere Fälle des Gebrauchens bzw. Zugänglichmachens einer unbefugt hergestellten Bildaufnahme bilden grundsätzlich mehrere selbstständige Handlungen (= Realkonkurrenz). Der Täter ist dann realkonkurrierend aus Nr. 1 und Nr. 2 strafbar. Für die Annahme eines Fortsetzungszusammenhangs ist nach der Rechtsprechung des Großen Senats (BGH GSSt 40, 138, 144; BGH NStZ-RR 1998, 269, 270) nahezu kein Raum mehr, ein solcher kann aber im Einzelfall zu bejahen sein.

3. Tatbestand des § 184k I Nr. 3 StGB
Schließlich erfasst § 184k I mit einer Nr. 3 den Fall, dass eine befugt hergestellte Bildaufnahme der in der Nr. 1 bezeichneten Art wissentlich unbefugt einer dritten Person zugänglich gemacht wird. § 184k I Nr. 3 setzt also zunächst voraus, dass die Bildaufnahme befugt (etwa mit Einverständnis) hergestellt wurde, dann aber unbefugt einer dritten Person zugänglich gemacht wird.

Beispiel: Während einer intimen Liebesbeziehung mit seiner Freundin O fertigte T von dieser u.a. zahlreiche Nahaufnahmen ihres Brust- und Genitalbereichs. Nachdem die Beziehung beendet worden war, stellte T die Fotos ins Internet.
Hier wurden die Fotos befugt hergestellt, da O insoweit ihr Einverständnis gegeben hatte. Ist dieses Einverständnis (was i.d.R. anzunehmen ist, auch wenn dies nicht explizit ausgesprochen wurde) aber bspw. persönlich begrenzt auf einen spezifischen Nutzerkreis (i.d.R. – nur – auf den Beziehungspartner) und zeitlich begrenzt (bspw. Dauer der Beziehung), erlischt das Einverständnis mit der absprachewidrigen Nutzung bzw. mit der Beendigung der Beziehung und der Bildnisschutz lebt wieder auf. Das gilt insbesondere für die Intimsphäre. Wie der BGH in Zivilsachen zutreffend ausführt, wird die zur Anregung des gemeinsamen Sexuallebens erbrachte Entblößung als demütigend wahrgenommen, wenn das gemeinsame Erleben entfällt, die Entblößung aber dauerhaft sichtbar bleibt und die abgebildete Person gegen ihren Willen zum reinen Objekt des Bildbetrachters wird. Das damit verbundene Ausgeliefertsein und die Fremdbestimmung führten dazu, dass die Menschenwürde betroffen sei und damit der unantastbare Kernbereich des Persönlichkeitsrechts verletzt werde (BGH NJW 2016, 1094, 1096 – Löschungsanspruch in Bezug auf Intimfotos).
Diese Konstellation hat nunmehr mit § 184k I Nr. 3 StGB auch eine strafrechtliche Sanktion erhalten. Obwohl T zunächst straflos die Intimaufnahmen gefertigt hat, stellt das anschließende – nicht mehr vom Einverständnis der O gedeckte – Einstellen ins Internet ein unbefugtes Zugänglichmachen gegenüber Dritten dar.


Problematisch ist der Bezug in § 184k I Nr. 3 auf Nr. 1 StGB durch die spezifische Formulierung „befugt hergestellte Bildaufnahme der in der Nr. 1 bezeichneten Art“, weil dadurch nicht der Fall erfasst wird, dass die dem Dritten zugänglich gemachte Bildaufnahme zu­vor von der abgebildeten Person – befugt – selbst gefertigt wurde. Denn die Inbezugnahme des § 184k I Nr. 1 StGB (wo von „einer anderen Person“ die Rede ist) in § 184k I Nr. 3 StGB lässt eindeutig erkennen, dass § 184k I Nr. 3 StGB nur den Fall erfasst, dass die fragliche Bildaufnahme von einer anderen Person (also nicht von der abgebildeten Person selbst) hergestellt wurde. Es stellt sich also die Frage, ob der „Zugänglichmacher“ i.S.v. § 184k I Nr. 3 StGB sich auch dann strafbar macht, wenn zuvor die Bildaufnahme von der abgebildeten Person selbst hergestellt wurde. Da der Wortlaut diese Konstellation nicht erfasst, riskierte man einen Verstoß gegen das in Art. 103 II GG statuierte Analogieverbot, legte man den Tat­bestand entsprechend aus; anderenfalls müsste man eine Strafbarkeitslücke hinnehmen.

Beispiel: O des obigen Beispiels fertigte die Nahaufnahmen ihres Brust- und Genitalbereichs selbst an und schickte die Fotos anschließend T per E-Mail zu. Nachdem die Beziehung beendet worden war, stellte T die Fotos ins Internet.

Hier wurden die Fotos von O selbst hergestellt, sodass bei der für T in Betracht kommenden Strafbarkeit nach § 184k I Nr. 3 StGB der Bezugspunkt fehlt. Denn gemäß dem in § 184k I Nr. 3 StGB in Bezug genommenen § 184k I Nr. 1 StGB muss die hergestellte oder übertragene Bildaufnahme eine andere Person abbilden als den Hersteller/Übertragenden. Verneint man daher eine Strafbarkeit des T mangels Einschlägigkeit des § 184k I Nr. 3 StGB, ist dessen Verhalten straflos. Freilich ist mit dieser Lesart eine eklatante Strafbarkeitslücke verbunden, weil es aus Sicht der O keinen Unterschied macht, ob sie T die Fertigung der Intimfotos gestattete oder die Fotos selbst fertigte und dann T überließ. In beiden Fällen hat T die Fotos unbefugt Dritten zugänglich gemacht. Sind also die Schutzbedürftigkeit auf Seiten der O und der Unrechtsgehalt der Tat auf Seiten des T nicht vom geregelten Fall (dass also O dem T die Fertigung der Aufnahmen gestattet hätte) zu unterscheiden, wäre es kriminalpolitisch verfehlt, die vorgenannte Konstellation nicht zu erfassen. Wegen des bestehenden Analogieverbots (Art. 103 II GG) ist dieser Weg aber versperrt. Im Ergebnis ist T also straflos.   

4. Tatbestandsausschluss nach § 184k III StGB

Die Rechtsnatur des § 184k III StGB, wonach § 184k I StGB unter den genannten Voraussetzungen nicht gilt, erschließt sich auf den ersten Blick möglicherweise nicht. Ein Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrund liegt offensichtlich nicht vor, sonst hätte es z.B. heißen müssen: „handelt nicht rechtswidrig“, „ist nicht rechtswidrig“ bzw. „handelt nicht schuldhaft“ oder „han­delt ohne Schuld“. Auch ein Strafausschließungsgrund (wie etwa § 218 IV S. 2, § 218a IV S. 1 oder § 257 III S. 1 StGB) liegt nicht vor, sonst hätte es lauten müssen: „ist straffrei“, „ist nicht strafbar“ oder „wird nicht bestraft“. Schließlich liegt kein Fall des Ab­sehens von Strafe vor, weil der Gesetzgeber hierfür entsprechende Formulierungen wie in §§ 60 S. 1, 83a I Var. 2, 306e I Var. 2, 314a II Var. 2, 320 II Var. 2 oder 330b I S. 1 Var. 2 StGB verwendet. Aber auch gegen die Annahme eines Tatbestandsausschlusses spricht, dass der Gesetzgeber sonst Formulierungen verwendet wie: „Der Tatbestand des ... ist nicht verwirklicht“ (siehe etwa § 218a I StGB). Dennoch sollte § 184k III StGB (wie das vom Verfasser bei § 86 III StGB vertreten wird – dazu R. Schmidt, Strafrecht Besonderer Teil I, 21. Aufl. 2019, Rn. 1394) als Tatbestandsausschluss angesehen werden. Anders kann die Formulierung „gilt nicht“ nicht er­klärt werden. Inhaltlich sagt § 184k III StGB, dass § 184k I StGB nicht gilt für Handlungen, die in Wahrnehmung überwiegender berechtigter Interessen erfolgen, namentlich der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dienen. Hierbei handelt es sich um eine „generische“ Formulierung, die oft verwendet wird, wenn (Grund-)Rechte anderer Personen (insbesondere aus Art. 5 I, III GG) zu berücksichtigen sind. Der konkrete Anwendungsbereich dieses Tatbestandsausschlusses wird bspw. im Biologieunterricht, im Biologiestudium, im Medizinstudium oder in künstlerischen Darbietungen liegen.

5. Bedingtes (unechtes) Antragsdelikt, § 184k II StGB
§ 184k II StGB erklärt die Tat zum bedingten bzw. unechten Antragsdelikt (relatives Antragsdelikt). Anders als bei unbedingten bzw. echten Antragsdelikten, bei denen die Anklageerhebung zwingend einen Strafantrag voraussetzt (absolutes Antragsdelikt), handelt es sich um bedingte bzw. unechte Antragsdelikte, wenn eine Anklage auch ohne Antrag möglich ist, d.h. wenn die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. Das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung muss von der Staatsanwaltschaft festgestellt werden; die Feststellung kann auch konkludent durch Erhebung der Anklage erfolgen.

Freilich offenbaren die Feststellung des öffentlichen Interesses und die mögliche spätere gerichtliche Beweisaufnahme weitere, den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts betreffende Probleme: Denn stellt ein Tatopfer, das sich auf einem (im Internet veröffentlichten) Foto des Genitalbereichs, des Gesäßes oder der Brust wiederzuerkennen glaubt, einen Strafantrag, müssen die auf dem Foto abgebildeten Körperteile der Antrag stellenden Person auch zugeordnet werden. Anderenfalls wäre die Antrag stellende Person auch gar nicht antragsbefugt (siehe § 77 StGB) und das Delikt könnte keinem Opfer zugeordnet werden. Wie in der Literatur zu Recht aufgezeigt wird, müsste dann durch richterlichen Augenschein oder Sachverständigengutachten (ergänze: durch Exploration des Opfers und Vergleich der Genitalien, des Gesäßes oder der Brust mit den auf dem Foto abgebildeten Körperteilen) Beweis erhoben werden, ob es sich um die Genitalien/Körperteile des/der Geschädigten handelt (Gramlich/Lütke, MMR 2020, 662, 665). Diese erneute Entblößung und der dadurch gegebene erneute Eingriff in den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts wird sogar noch viel intensiver wirken, weil dadurch die auf dem Foto abgebildeten Intimbereiche/Körperteile einer ganz konkreten Person zugeordnet werden (könnten).

6. Einziehung von Tatmitteln, § 184k IV StGB
Gemäß § 184k IV StGB können die Bildträger sowie Bildaufnahmegeräte oder andere technische Mittel, die der Täter oder Teilnehmer verwendet hat, nach Maßgabe des § 74a StGB ein­gezogen werden. Durch die damit geschaffene Möglichkeit der Einziehung unter erweiterten Voraussetzungen dürfen die Tatmittel, auf die sich eine Tat nach § 184k I StGB bezieht, eingezogen werden, wenn diejenigen, denen diese Tatmittel gehören oder zustehen, wenigstens leichtfertig dazu beigetragen haben, dass sie als Tatmittel verwendet worden oder Tatobjekt gewesen sind (§ 74a Nr. 1 StGB). Folge der Einziehung ist der Übergang des Eigentums auf den Staat (§ 75 I StGB), was den betroffenen Täter bzw. Teilnehmer stark belasten kann, gerade wenn es sich bei dem Bildaufnahmegerät um ein teures Smartphone handelt. Da es sich bei § 74a StGB aber um eine Kann-Vorschrift handelt, wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch Rechnung getragen, dass bei Unverhältnismäßigkeit von der Einziehung abgesehen werden muss (§ 74f StGB).

Rolf Schmidt (03.01.2021)



02.01.2021: Störung der Geschäftsgrundlage – Mietminderung (Mietreduzierung) aufgrund coronabedingter Ladenschließung?

LG Frankfurt 02.10.2020 – 2-15 O 23/20; LG Heidelberg 30.07.2020 – 5 O 66/20; LG Lüneburg 17.11.2020 – 5 O 158/20 

Mit den genannten Urteilen wurde entschieden, dass gewerbliche Mieter, die ihre Ladengeschäfte aufgrund einer Regelung in den Coronaschutzverordnungen nicht öffnen durften, nicht wegen Störung der Geschäftsgrundlage eine Vertragsanpassung und eine Reduzierung/Aussetzung der Miete von den Vermietern verlangen können, solange sie nicht ausnahmsweise in ihrer Existenz bedroht seien. Denn grundsätzlich trügen die Mieter (überwiegend) das Risiko der Verwendbarkeit des Leistungsgegenstands. Ob die Entscheidungen überzeugen, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden.

I. Sachverhalt (nach LG Lüneburg 17.11.2020 – 5 O 158/20)
Die Betreiberin eines Modegeschäfts, M, zahlte für April 2020 die Miete nicht, nachdem sie infolge der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden öffentlich-rechtlichen Betriebsschließungsanordnung dazu gezwungen worden war, ihr Geschäft vom 17.03.2020 bis zum 28.04.2020 vollständig zu schließen, und ihr erst in der Zeit vom 29.04.2020 bis 10.05.2020 erlaubt worden war, teilweise wieder zu öffnen. Die Vermieterin V bestand gleichwohl auf Mietzahlungen aus dem Mietvertrag. 

II. Prüfung des Falls

1. Anspruch der V auf Mietzahlung
Besteht ein Vertragsverhältnis, ergeben sich die Ansprüche der Parteien in erster Linie aus dem Vertrag. Vorliegend streiten die Parteien über die Verpflichtung der M aus einem Gewerberaummietvertrag. Die Anspruchsgrundlage der V zur Mietzahlung ergibt sich aus § 535 II BGB. Ein wirksamer Mietvertrag (§ 535 BGB) liegt vor. Danach wäre M also in der Tat verpflichtet, die vereinbarte Miete zu entrichten.

2. Anspruch (nicht) untergegangen (Ausschluss der Mietzahlungspflicht)
Dem wirksam entstandenen Mietzahlungsanspruch dürften u.a. keine rechtsvernichtenden Einwendungen entgegenstehen.

a. Mietmangel als rechtsvernichtende Einwendung?
Es könnte ein Mietmangel vorgelegen haben, der der Pflicht zur Mietzahlung entgegensteht (siehe § 536 I BGB). Das Gesetz versteht darunter einen Mangel, der die Tauglichkeit der Mietsache zum vertragsgemäßen Gebrauch aufhebt. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Mangel zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses besteht oder während der Mietzeit entsteht (§ 536 I S. 1 BGB). Die staatlich angeordnete Schließung der Verkaufsstätten des Einzelhandels hebt die Tauglichkeit der Mietsache zum vertragsgemäßen Gebrauch auf. Jedoch müsste dieser Umstand der V auch zuzurechnen sein. Denn nicht sie hat die Schließungsanordnung getroffen. Wie das LG Frankfurt am Main und das LG Heidelberg zu Recht aufzeigen, können durch hoheitliche Maßnahmen bewirkte Gebrauchsbeschränkungen nur dann einen Mietmangel begründen, wenn sie unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage der konkreten Mietsache in Zusammenhang stehen; Maßnahmen, die nur den geschäftlichen Erfolg des Mieters beeinträchtigten, fielen in dessen Risikobereich. § 535 I S. 2 BGB verpflichte den Vermieter nur, die Mietsache in einem Zustand zu erhalten, der dem Mieter die vertraglich vorgesehene Nutzung ermögliche; das Verwendungsrisiko trage hingegen der Mieter allein (LG Frankfurt 02.10.2020 – 2-15 O 23/20; LG Heidelberg 30.07.2020 – 5 O 66/20).

Die hoheitlich angeordnete Schließung der Verkaufsstätten des Einzelhandels dient dem Schutz der Bevölkerung vor allgemeinen gesundheitlichen Gefahren. Sie knüpft nicht unmittelbar an die konkrete Beschaffenheit der Mietsache an, sondern allgemein an die Nutzungsart sowie den Umstand, dass in den betroffenen Flächen Publikumsverkehr stattfindet und dadurch Infektionen begünstigt werden (LG Frankfurt 02.10.2020 – 2-15 O 23/20; LG Heidelberg 30.07.2020 – 5 O 66/20). V muss sich diese Maßnahmen daher nicht zurechnen lassen. Es liegt mithin kein Sachmangel vor, der zur Mietminderung berechtigen würde.

b. Ausschluss der Mietzahlungspflicht nach § 326 I S. 1 BGB?
Gemäß § 326 I S. 1 BGB ist der Gläubiger von seiner Pflicht zur Erbringung der Gegenleistung befreit, wenn die Leistungspflicht des Schuldners ausgeschlossen ist (siehe § 275 I BGB i.V.m. § 275 IV BGB, der u.a. auf § 326 BGB verweist). Damit ordnet § 326 I S. 1 BGB („ohne Leistung keine Gegenleistung“) also an, dass der Schuldner – weil er bei einer Unmöglichkeit seiner Leistung den Anspruch auf Gegenleistung grundsätzlich verliert – die sog. Gegenleistungsgefahr (= Preisgefahr oder Vergütungsgefahr) trägt. Voraussetzungen für das Freiwerden des Gläubigers von seiner Gegenleistungspflicht sind ein gegenseitiger Vertrag und das Freiwerden des Schuldners nach § 275 I-III BGB von seiner synallagmatischen Leistungspflicht. Beim Mietvertrag handelt es sich um einen synallagmatischen (d.h. gegenseitigen) Vertrag. V als Schuldner der Mietsache ist aber nicht aus einem in § 275 I-III BGB genannten Grund von ihrer Leistungspflicht befreit, da – wie aufgezeigt – die staatliche Schließungsanordnung ihr nicht zuzurechnen ist. Die Mieträume sind von ihr vereinbarungsgemäß überlassen worden.

Liegt also kein Leistungshindernis auf Seiten der V vor, entfällt auch nicht die Pflicht der M zur Mietzahlung.

c. Ausschluss der Mietzahlungspflicht nach § 313 BGB?
Schließlich ist zu prüfen, ob die Verpflichtung zur Mietzahlung unter dem Aspekt des § 313 BGB ausgeschlossen oder zumindest eingeschränkt ist. § 313 BGB betrifft die sog. Grundlagenstörung.

aa. Einführung in das Institut der Grundlagenstörung
Grundaussage der seit dem 1.1.2002 in § 313 BGB geregelten Grundlagenstörung ist, dass sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben und die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten. Dann kann in erster Linie Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risiko­verteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann (Wortlaut § 313 I BGB).

Rechtsdogmatischer Hintergrund: Das BGB geht im Grundsatz davon aus, dass Verträge einzuhalten sind (pacta sunt servanda); der Vertragspartner soll sich auf die Wirksamkeit geschlossener Verträge verlassen dürfen. Das gilt im Grundsatz auch dann, wenn sich die Verhältnisse, die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestanden, später (schwerwiegend) verändert haben, etwa durch Naturkatastrophen, Kriegseinflüsse etc. Gerade aber in solchen Fällen kann das (unveränderte) Festhalten an vertraglichen Regelungen für eine Partei unzumutbar, mitunter ruinös sein. Daher hat die Rechtsprechung – unter Heranziehung der Lehre von der Geschäftsgrundlage[1] auf der Basis des § 242 BGB – Kriterien aufgestellt, unter denen eine vertragliche Bindung modifiziert oder sogar aufgehoben wird, wenn sich die Verhältnisse so schwerwiegend verändert haben, dass für die betroffene Partei die unveränderte Bindung an die ursprüngliche Vereinbarung unzumutbar ist.[2] Damit folgt die Rechtsprechung dem aus dem römischen Recht stammenden Grundsatz, dass Verträge (bzw. Vertragsbestimmungen) unter der (unausgesprochenen) Prämisse stehen, die Verhältnisse bestünden unverändert fort (clausula rebus sic stantibus – „Abmachung, dass die Verpflichtung nur so lange bindend sein soll, als die Verhältnisse, die für ihren Abschluss bestimmend waren, sich nicht von Grund auf geändert haben“[3]). Der Gesetzgeber hat dieses Institut des „Wegfalls (oder Störung) der Geschäftsgrundlage“ zum 1.1.2002 übernommen und durch Schaffung des § 313 BGB positivrechtlich geregelt. Freilich ist wegen des Durchbrechens des Grundsatzes „pacta sunt servanda“ stets eine restriktive Handhabung angezeigt.

Gründe für Änderungen im Vertragsumfeld sind bspw. Sozialkatastrophen wie Revolution, Krieg, Währungsverfall oder Umweltkatastrophen, die sich auf eine Vielzahl von Verträgen auswirken. Insoweit wird auch von der „großen Geschäftsgrundlage“ gesprochen, weil solche Umstände über das Vertragsverhältnis im konkreten Fall hinauswirken und auch keiner Risikosphäre einer Vertragspartei zugeordnet werden können (siehe bspw. Finkenauer, MüKo, § 313 BGB, Rn. 17 f.; LG Heidelberg 30.07.2020 – 5 O 66/20). Die Lehre vom Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage wurde demnach auch v.a. in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fortentwickelt, um die damals bestehenden Vertragsverhältnisse den einschneidenden wirtschaftlichen Veränderungen der Inflationszeit anpassen zu können (RGZ 94, 45, 47; 100, 129 ff.; 106, 422 ff.; 107, 21 ff.). Jüngst ist die Störung der großen Geschäftsgrundlage im Zusammenhang mit der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus („Corona-Virus“) ein großes Thema geworden, weil eine Pandemie weite Teile der Bevölkerung erfasst und die Gesellschaft als solche betrifft. Die Geschäftsgrundlage zahlreicher Verträge, insbesondere aus den Bereichen Veranstaltungen, Reiseverträge, Gewerberaummietverträge, war bzw. ist infolge gesetzlicher bzw. behördlich angeordneter Schließungen und Untersagungen gestört. Bei § 313 I BGB können aber auch Umstände fehlen oder später wegfallen, die nur einen einzelnen Vertrag oder eine begrenzte Zahl von Verträgen betreffen (BT-Drs. 14/6040, S. 174) („kleine Geschäftsgrundlage“). Das ist z.B. der Fall, wenn sich das Erbringen der Sachleistung als viel schwieriger und kostspieliger erweist, als es vom Schuldner erwartet wurde. Dies würde für ihn einen schweren wirtschaftlichen Verlust darstellen. Ebenso sind Fälle denkbar, bei denen der mit der Leistung vom Gläubiger beabsichtigte Zweck bereits vor der Leistungserbringung sinnlos geworden ist.

In allen diesen Konstellationen kann die Regelung des § 313 BGB eingreifen und den Parteien helfen, zu einem Vertrag oder einem ungebundenen Zustand zu gelangen, den sie bei Kenntnis der wahren Umstände von vornherein gewählt hätten. Dies gilt auch, wenn nur eine von beiden Vertragsparteien betroffen ist.

Primäre Rechtsfolge ist Vertragsanpassung (§ 313 I BGB). Ist eine Anpassung des Vertrags nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, kann der benachteiligte Teil vom Vertrag zurücktreten (§ 313 III S. 1 BGB) oder (bei einem Dauerschuldverhältnis) kündigen (§ 313 III S. 2 BGB) (zur innertatbestandlichen Subsidiarität des Rücktritts zur Vertragsanpassung vgl. BGH NJW 2012, 373, 375).

bb. Voraussetzungen

Die Voraus­setzungen ergeben sich direkt aus § 313 I BGB:
  • Vorliegen eines Vertrags: Ein Vertrag i.S.d. § 313 BGB ist sowohl bei gegenseitigen als auch bei einseitigen Verträgen gegeben.
  • Geschäftsgrundlage: Es müssen Umstände gegeben sein, deren (Fort-)Bestehen oder Eintritt von mindestens einer Vertragspartei bei Abgabe der Vertragserklärung vorausgesetzt wurde.
  • Reales Element: Die die Geschäftsgrundlage ausmachenden Umstände müssen sich schwerwiegend verändert haben oder weggefallen sein.
  • Hypothetisches Element: Die Umstände müssen für die Partei, die sie vorausgesetzt hat, so wichtig gewesen sein, dass sie bei Kenntnis der späteren Änderungen der Sachlage den Vertrag nicht oder nicht so abgeschlossen hätte.
  • Normatives Element: Das Festhalten am unveränderten Vertrag muss für die betroffene Partei unzumutbar sein. Um dies festzustellen, ist im Rahmen einer wertenden Betrachtung zu prüfen, ob (und in welcher Art) eine Rechtsfolge des § 313 BGB eingreifen kann. Dabei ist zu fragen, ob der betroffenen Partei ein Festhalten am unveränderten Vertrag unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nicht mehr zugemutet werden kann. Zugleich ist zu prüfen, ob der Gegenpartei eine Auf­hebung oder Anpassung des Vertrags zugemutet werden kann. Dabei ist insb. die gesetzliche oder vertragliche Risikoverteilung zu berücksichtigen.

a.) Vorliegen eines Vertrags
Ein Vertrag in Form eines Mietvertrags gem. § 535 BGB liegt vor. V und M haben einen Mietvertrag über Gewerberäume geschlossen.

b.) Geschäftsgrundlage
Es müssen Umstände gegeben sein, deren (Fort-)Bestehen oder Eintritt von mindestens einer Vertragspartei bei Abgabe der Vertragserklärung vorausgesetzt wurde (BGHZ 128, 230, 236; KG NJW-RR 1998, 663, 664). Bei der Geschäftsgrundlage geht es also um die (unausgesprochenen, aber vorausgesetzten) gemeinsamen Vorstellungen der Parteien von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt bestimmter Umstände. Dabei kann sich die Störung aus einer objektiven Bewertung des Vertragsgleichgewichts ergeben (§ 313 I BGB) wie auch aus Störungen im subjektiven Vorstellungsbild der Parteien (§ 313 II BGB). Die objektive Geschäftsgrundlage i.S.d. § 313 I BGB bilden diejenigen Umstände und all­gemeinen Verhältnisse, deren Vorhandensein oder Fortdauer objektiv erforderlich sind, damit der Vertrag im Sinn der Intentionen beider Parteien noch als sinnvolle Regelung bestehen kann. Dabei genügt es, wenn die Parteien das Bestehenbleiben der Umstände als selbstverständlich ansahen, ohne dass sie sich dies ausdrücklich bewusst machten. Solche sich verändernden Verhältnisse sind bspw. eine Geldentwertung oder andere wirtschaftliche Veränderungen. Auch die durch die SARS-CoV-2-Epidemie („Corona-Virus-Epidemie“) hervorgerufenen Umstandsänderungen (Schließung von Lokalen und Verkaufsstätten des Einzelhandels; Verbote von Veranstaltungen etc.) betreffen die Gesellschaft als solche und bilden die objektive Geschäftsgrundlage.

c.) Schwerwiegende Veränderung oder Wegfall des die Geschäftsgrundlage ausmachenden Umstands („reales Element“)
Der die Geschäftsgrundlage bildende Umstand muss entweder schon bei Vertragsschluss gefehlt, sich schwerwiegend verändert haben oder später weggefallen sein. Bei Ladenraummietverträgen besteht der die Geschäftsgrundlage ausmachende Grund in der störungsfreien Nutzung der Geschäftsräume. Infolge der gesetzlichen bzw. behördlichen Schließungsanordnung müssen Ladengeschäfte des Einzelhandels schließen mit der Folge, dass die Einnahmen wegbrechen. Der Vertragszweck ist in dieser Zeit also gestört. Eine schwerwiegende Veränderung eines die Geschäftsgrundlage ausmachenden Umstands liegt damit vor.

Anmerkung: Gemäß der am 22.12.2020 beschlossenen und am 31.12.2020 in Kraft getretenen Regelung des Art. 240 § 7 EGBGB (BGBl I 2020, S. 3328) wird gesetzlich vermutet, dass sich insofern (d.h. durch die SARS-CoV-2-Epidemie) ein Umstand i.S.d. § 313 I BGB, der zur Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat mit der Folge, dass unter dem Gesichtspunkt der Störung der Geschäftsgrundlage eine Vertragsanpassung (reduzierte Miethöhe; Aussetzung der Mietzahlungen) in Betracht kommt, siehe dazu unten cc.

d.) Kein Vertragsschluss bei Kenntnis der späteren Änderung („hypothetisches Element“)
Das hypothetische Element liegt vor, wenn die Umstände für die Partei, die sie vorausgesetzt hat, so wichtig gewesen sind, dass die Partei bei Kenntnis der späteren Änderung der Sachlage den Vertrag nicht oder nicht so abgeschlossen hätte. Entgegen dem Wortlaut des § 313 I BGB genügt es, wenn bzgl. des hypothetischen Elements nur auf eine der beiden Parteien abgestellt wird. Denn wenn bereits eine Partei sich bei Kenntnis der Umstände nicht auf einen Vertrag eingelassen hätte, „hätten die Parteien den Vertrag nicht oder nicht so abgeschlossen“. Bei einem Gewerberaummietvertrag ist davon auszugehen, dass die Mietpartei den Vertrag jedenfalls nicht so geschlossen hätte, wie sie ihn geschlossen hat, wenn sie die coronabedingten Schließungen vorausgesehen hätte.

e.) Unzumutbarkeit des Festhaltens am unveränderten Vertrag („normatives Element“)
Schließlich muss danach gefragt werden, ob ein Festhalten am unveränderten Vertrag für die betroffene Partei unzumutbar ist. Da dies von wertenden Aspekten abhängt, spricht man vom „normativen Element“ der Grundlagenstörung. Es muss im Rahmen einer wertenden Abwägung auf alle Umstände des Einzelfalls eingegangen werden, wobei wegen des Grundsatzes „pacta sunt servanda“ Ziel des § 313 BGB nur sein kann, eine möglichst interessengerechte Verteilung des verwirklichten Risikos bei möglichst geringem Eingriff in die ursprüngliche Regelung vorzunehmen (BGH DStZ 1996, 23 f.; Finkenauer, in: MüKo, § 313 BGB, Rn. 102).

Nach dieser Maßgabe ist zunächst festzustellen, ob unter Berücksichtigung der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung der benachteiligten Partei das Festhalten am unveränderten Vertrag unzumutbar ist und inwieweit der anderen Partei eine Anpassung zugemutet werden kann. So sind bei ausdrücklicher vertraglicher Risikoübernahme die Rechte aus § 313 BGB ausgeschlossen (vgl. nur BGH NJW 2006, 899, 901). Ebenso scheidet eine Anwendung des § 313 BGB aus, wenn sich das Risiko typischerweise aus dem Vertrag ergibt. Ebenso sind dem Schuldner die Rechte aus § 313 BGB verwehrt, wenn es für den Schuldner vorhersehbar war, dass eine Änderung der Umstände eintreten würde. Vorhersehbare Änderungen begründen nämlich i.d.R. keine Rechte aus § 313 BGB. Etwas anderes kann nur gelten, wenn beide Parteien auf den Nichteintritt der objektiv vorhersehbaren Entwicklung vertrauten oder wenn sie keine Vorsorgemaßnahmen treffen konnten. Gleiches gilt, wenn für beide Parteien die Änderungen der Umstände nicht vorhersehbar waren. Letzteres wird man bei den staatlichen Schließungsanordnungen in den Corona-Fällen annehmen müssen. Weder für M noch für V waren der Eintritt der SARS-CoV-2-Epidemie und deren Folgen (hier: Schließung der Verkaufsstätten des Einzelhandels) absehbar.

Gerade wegen des Grundsatzes „pacta sunt servanda“ darf die Anwendung des § 313 BGB jedoch nur in Ausnahmefällen zur Anpassung des Vertrags oder gar zu dessen Beseitigung führen. Grundsätzlich fällt die Verwendbarkeit des Vertragsgegenstands in den Risikobereich des Empfängers. Erst wenn sich der andere Teil die geplante Verwendung so weit zu eigen gemacht hat, dass sein Verlangen, den Vertrag trotz der aufgetretenen Störung unverändert durchzuführen, gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstößt, wird die Verwendung zur Geschäftsgrundlage. Dann ist der Risikobereich des Empfängers überschritten und das Leistungshindernis bzw. die Leistungsstörung wirkt in den Risikobereich des Vertragspartners hinein. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn die beabsichtigte Verwendung bei der Preisbemessung berücksichtigt worden ist (BGH WM 1967, 561 f.; Rösler, JuS 2005, 27 ff.). Der andere Teil hat dann ein eigenes wirtschaftliches Interesse an der geplanten Verwendung und der Verwendungszweck eröffnet ihm die Möglichkeit, eine höhere (oder überhaupt eine) Gegenleistung zu fordern. Hingegen genügt es nicht, wenn der eine Teil dem anderen Teil die geplante Verwendung lediglich mitgeteilt hat oder diese im Vertrag erwähnt wird.

Auf dieser Grundlage haben das LG Frankfurt, das LG Heidelberg und das LG Lüneburg entschieden, dass gewerbliche Mieter, die ihre Ladengeschäfte aufgrund einer Regelung in den Coronaschutzverordnungen nicht öffnen durften, nicht wegen Störung der Geschäftsgrundlage eine Vertragsanpassung und eine Reduzierung/Aussetzung der Miete von den Vermietern verlangen können, solange sie nicht ausnahmsweise in ihrer Existenz bedroht seien (LG Frankfurt 02.10.2020 – 2-15 O 23/20; LG Heidelberg 30.07.2020 – 5 O 66/20; LG Lüneburg 17.11.2020 – 5 O 158/20). Das überwiegende Risiko der Verwendbarkeit des Leistungsgegenstands trage grundsätzlich der Mieter. Die Unzumutbarkeit, unverändert am Mietvertrag festzuhalten, sei nur anzunehmen bei substantiierter Darlegung des Mieters, in der eigenen Existenz gefährdet (LG Heidelberg 30.07.2020 – 5 O 66/20 mit Verweis auf Daßbach/Bayrak, Corona-Krise und vertragliche Risikoverteilung, NJ 2020, 185) oder jedenfalls in einem solchen Ausmaß wirtschaftlich betroffen zu sein, das ein weiteres Festhalten am unveränderten Mietvertrag unter Berücksichtigung aller übrigen Umstände als unzumutbar erscheinen lasse (LG Heidelberg 30.07.2020 – 5 O 66/20). Das sei vorliegend nicht gegeben.

cc. Stellungnahme
Die Sichtweise der drei Landgerichte ist sicherlich nicht zwingend, gerade mit Blick darauf, dass die Vermieter die Art der gewerblichen Nutzung der Mietsachen als Verkaufsstätten des Einzelhandels bei Vertragsschluss kannten und ein wirtschaftliches Interesse an der Aufrechterhaltung der Betriebe haben. So hat auch der Gesetzgeber mittels entsprechender Gesetzesänderung (s.o.) eine mieterfreundliche Regelung erlassen: Muss bspw. ein Ladengeschäft aufgrund einer gesetzlichen bzw. behördlichen Schließungsanordnung schließen mit der Folge, dass die Einnahmen wegbrechen, wird gem. Art. 240 § 7 EGBGB vermutet, dass sich in­sofern ein Umstand i.S.d. § 313 I BGB, der zur Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat. Folge ist, dass unter dem Gesichtspunkt der Störung der Geschäftsgrundlage eine Vertragsanpassung (verminderte Miethöhe; Aussetzung der Mietzahlungen) durchaus in Betracht kommt. Streng genommen hilft diese Vorschrift aber nicht. Dass eine schwerwiegende Änderung der Umstände vorliegt, war auch zuvor unstreitig. Vielmehr geht es doch um die Frage nach der Unzumutbarkeit des Festhaltens am unveränderten Vertrag. Insofern hätte die Neuregelung um das normative Element der Grundlagenstörung ergänzt werden und lauten sollen (Ergänzung des Verfassers ist unterstrichen):

„Sind vermietete Grundstücke oder vermietete Räume, die keine Wohnräume sind, infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erheblicher Einschränkung verwendbar, so wird vermutet, dass sich insofern ein Umstand im Sinne des § 313 I BGB, der zur Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat, und dass ein Festhalten am unveränderten Vertrag für den Mieter unzumutbar ist.“

Gleichwohl ist aber mit Blick darauf, dass das Verwendungsrisiko einer Mietsache grundsätzlich die Mieter tragen, zu fordern, dass die Geschäftsinhaber zunächst alle Möglichkeiten ausschöpfen (Straßenverkauf; Inanspruchnahme staatlicher Hilfen etc.). Auch ist zu berücksichtigen, ob die Mieter in den vergangenen Jahren mit ihren Geschäften hohe Umsätze und Gewinne erzielt haben und – wie das von einem umsichtigen Kaufmann zu erwarten ist – Rücklagen hätten bilden können. Nicht zu folgen ist indes der Auffassung, die betroffenen Geschäftsinhaber hätten sich im Zeitraum der Schließung anderweitige Einnahmequellen zu verschaffen wie bspw. einen Onlinehandel zu betreiben (So aber LG Heidelberg 30.07.2020 – 5 O 66/20 mit Verweis auf Sittner, NJW 2020, 1169). Der Aufbau eines Onlineshops ist sehr aufwändig, d.h. arbeitsintensiv und kurzfristig technisch kaum realisierbar, jedenfalls nicht kostenmäßig vertretbar, zumal selbst bei kleinsten Verstößen gegen Pflichtangaben, Belehrungspflichten, Vorschriften des AGB-Rechts etc. kostenintensive Abmahnungen drohen. Zudem ist es lebensfern anzunehmen, ein frisch eingerichteter Onlineshop würde gleich Umsätze generieren.

Zu guter Letzt müssen sich Mieter auch umgekehrt die Frage stellen, ob sie bereit wären, einer Forderung des Vermieters nach Teilhabe an einer unerwartet guten Geschäftsentwicklung nachzukommen, oder ob sie stattdessen auf die vertragliche Vereinbarung verwiesen.   

III. Lösungstechnische Hinweise/Einbettung in den Prüfungsaufbau
Die Frage nach der Einbettung in den Prüfungsaufbau kann nicht pauschal beantwortet werden. Vielmehr ist zu differenzieren: Begehrt eine Partei Vertragsanpassung oder erklärt den Rücktritt oder die Kündigung, fungiert § 313 I bzw. III BGB als Anspruchsgrundlage/Rechtsgrundlage.

Beispiel: Zwischen V und M besteht ein Gewerberaummietvertrag. Aufgrund einer pandemischen Lage muss M infolge einer gesetzlichen bzw. behördlichen Schließungsanordnung sein Ladengeschäft für 2 Monate schließen mit der Folge, dass die Einnahmen wegbrechen. Er begehrt daher von V eine Aussetzung der Mietzahlungspflicht oder zumindest eine Reduzierung. 

Hier wirkt § 313 I BGB als Anspruchsgrundlage. Es müssten dann dessen Voraussetzungen geprüft und bejaht werden, damit die Rechtsfolge (hier: Vertragsanpassung) greift.

§ 313 I bzw. III BGB kann aber auch als Einwendung fungieren, wenn die andere Partei Erfüllung verlangt. Dann ist zu prüfen, ob § 313 I oder III BGB dem Anspruch entgegensteht. Das war die vorliegend zu prüfende Konstellation im Ausgangsfall.

Beispiel: Zwischen V und M besteht ein Gewerberaummietvertrag. Aufgrund einer pandemischen Lage muss M infolge einer gesetzlichen bzw. behördlichen Schließungsanordnung sein Ladengeschäft für 2 Monate schließen mit der Folge, dass die Einnahmen wegbrechen. Er begehrt daher von V eine Aussetzung der Mietzahlungspflicht oder zumindest eine Reduzierung. Gleichwohl besteht V auf Zahlung der Miete (in voller Höhe), weil dies mietvertraglich so vereinbart sei.

In diesem Fall ist über den von V geltend gemachten Zahlungsanspruch einzusteigen: Anspruchsgrundlage V gegen M auf Zahlung der vereinbarten Miete ist § 535 II BGB. Bei der Prüfung, ob dieser Anspruch besteht, ist § 313 I BGB als Gegennorm zu prüfen. Liegen die Voraussetzungen vor, wirkt § 313 I BGB als rechtsvernichtende Einwendung: Zwar steht die Vorschrift dem Entstehen eines Anspruchs auf Mietzahlung nicht entgegen, bewirkt aber, dass der zunächst entstandene Anspruch entfällt („untergeht“).



Rolf Schmidt (02.01.2021)


Nachweise zum erläuterten rechtsdogmatischen Hintergrund:

[1] Oertmann, Die Geschäftsgrundlage: ein neuer Rechtsbegriff, 1921. Aber auch zuvor sind Rechtsstreitigkeiten geführt worden, die sich mit der Störung bzw. dem Wegfall der Vertragsgrundlage („Zweckfrustration im Vertragsrecht“) beschäftigten, so z.B. im englischen Fall Krell vs. Henry (1903) – 2 KB 740, bei dem es um die Anmietung einer Wohnung in London ging, um von dort aus die Prozession im Zusammenhang mit der Krönung von Edward VII. („Krönungszugfall“) mit­zuerleben. Da die Prozession jedoch (aufgrund des Gesundheitszustands von Edward VII.) nicht am ursprünglich geplanten Tag stattfand, stritten die Parteien um die Frage, ob gleichwohl die Miete geschuldet sei.
[2] RGZ 94, 45 ff. (Einfluss der durch den Krieg eingetretenen völligen Umwälzung der Verhältnisse auf die vor dem Krieg abgeschlossenen Lieferungsverträge, deren Erfüllung einen Bezug von Rohstoffen aus überseeischen Ländern voraussetzt); 100, 129 ff. (seit dem Vertragsabschluss wesentlich veränderte Verhältnisse auf dem Kohlen- und Arbeitsmarkt – Dampfpreisänderung); 103, 328 ff. (Vigogne-Spinnerei); 106, 422 ff. (Berücksichtigung der Geldentwertung bei Lieferungsverzug); 107, 78 ff. (Geldwertschwankung; Inflation); BGHZ 2, 176, 188 (von Kriegsfeind erbeutete Mietsachen); 61, 153, 159 f. (Wertsteigerung einer Arbeitnehmererfindung).

[3] Allg. Auffassung, vgl. etwa Finkenauer, in: MüKo, § 313 BGB, Rn. 20; Lorenz, in: BeckOK, § 313 BGB, Rn. 2.


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