Aktuelles 2021 Schmerzensgeld und Mitverschulden

Beiträge 2021


25.02.2021: Unfall mit Fahrrad: Schmerzensgeld und Mitverschulden wegen Nichttragens eines Helms?


OLG Nürnberg, Urteil v. 20.08.2020 – 13 U 1187/20 (NJW 2020, 3603)


Mit dem genannten Urteil hat das OLG entschieden, dass das Nichttragen eines Fahrradhelms – zumindest im Alltagsradverkehr – nach wie vor kein Mitverschulden des verletzten Radfahrers begründet. Eine allgemeine Verkehrsauffassung des Inhalts, dass Radfahren eine Tätigkeit darstellt, die generell derart gefährlich ist, dass sich nur derjenige verkehrsgerecht verhält, der einen Helm trägt, bestehe weiterhin nicht. Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden.


Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die 27-jährige O fuhr mit ihrem Fahrrad – ohne einen Fahrradhelm zu tragen – an einer Kreuzung geradeaus. Autofahrer T (Halter des Fahrzeugs) wollte nach rechts abbiegen und kollidierte mit O, die erhebliche Verletzungen davontrug. Sie erlitt u.a. eine Kalottenfraktur links okzipital, eine Subarachnoidalblutung frontobasal beidseits, eine Kopfplatzwunde okzipital und eine Prellung der Lendenwirbelsäule. O machte Schmerzensgeldansprüche geltend. Das OLG sprach O ein Schmerzensgeld i.H.v. 20.000 € zu und verneinte gleichzeitig ein anspruchsminderndes Mitverschulden.


I. Halterhaftung als Unterform der Gefährdungshaftung

Erleidet jemand aufgrund eines Verkehrsunfalls einen Schaden, greift die verschuldensunabhängige Halterhaftung (§ 7 I StVG). Diese ist eine Variante der Gefährdungshaftung: Wenn schon jemand eine übermäßige Gefahr für einen anderen schaffen, unterhalten oder ausnutzen darf, muss er wenigstens dem anderen den aus der Gefahrverwirklichung resultierenden Schaden abnehmen, und zwar unabhängig von Unrecht und Verschulden. Anderenfalls wäre das gefährliche Handeln mit dem Schutzbedürfnis der Mitmenschen nicht zu rechtfertigen. Insbesondere der Halter eines Kfz kann bei einem Unfall aber sehr schnell an die Grenze seiner (finanziellen) Leistungsfähigkeit geraten. Ein entsprechender Schadensersatzanspruch der Geschädigten wäre u.U. nicht realisierbar und die Gefährdungshaftung verlöre weitgehend ihre Effektivität. Um diese Folge zu verhindern, hat der Gesetzgeber den obligatorischen Abschluss einer Kfz-Haftpflichtversicherung vorgesehen (vgl. § 1 PflVG, dazu BGH NJW 2016, 1162, 1164 f. – Autorennen-Fall). Der Verletzte hat einen Direktanspruch gegen den Versicherer, § 115 I S. 1 Nr. 1 VVG, was die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis zu § 7 I StVG aufwirft: Während die Versicherungspflicht das Risiko der Zahlungsunfähigkeit des Halters im Schadensfall vermeiden soll, dient der Direktanspruch einer effizienten und raschen Regulierung von Schadensfällen und der weitestmöglichen Vermeidung kostenaufwändiger Rechtsverfahren (siehe Erwägungsgrund 30 der Richtlinie 2009/103/EG). Halter und Versicherer haften als Gesamt­schuldner, § 115 I S. 4 VVG, wobei in der Praxis allein der Direktanspruch zählt. 


Der mögliche Prüfungsaufbau (Anspruchsprüfung) könnte sich folgendermaßen gestalten (R. Schmidt, SchuldR BT II, 13. Aufl. 2019, Rn. 978):


1. Verwendung eines Kraftfahrzeugs

Der Unfall muss unter Verwendung eines Kraftfahrzeugs verursacht worden sein. Der Be­griff des Kraftfahrzeugs ist in § 1 II StVG legaldefiniert. Danach sind Kraftfahrzeuge alle Landfahrzeuge, die mit Maschinenkraft bewegt werden und nicht an Bahngleise gebunden sind.


2. Anspruchsverpflichteter: Fahrzeughalter

Anspruchsverpflichteter ist der Fahrzeughalter. Nach Auffassung des BGH ist Halter derjenige, der die tatsächliche Verfügungsgewalt über das Fahrzeug besitzt und es für eigene Rechnung gebraucht. Die Eintragung in der Zulassungsbescheinigung II (früher: Fahrzeugbrief) ist nur ein Indiz.


3. Vorliegen eines Personen- oder Sachschadens

Des Weiteren muss ein Personen- oder Sachschaden verursacht worden sein. Ein reiner Vermögensschaden begründet somit keine Ersatzpflicht des Halters. Aber auch Personen- und Sachschäden sind nicht stets zu ersetzen. Vgl. dazu die Ausschlusstatbestände (Punkt 5.).


4. Schadensverursachung „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“

Der Personen- oder Sachschaden muss „bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs“ verursacht worden sein. Dieses Kriterium beschreibt die besondere Betriebsgefahr, die die verschul­densunabhängige Haftung legitimiert, und ist zum Schutz der Verkehrsteilnehmer weit auszulegen. Als Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs sind zunächst die Entfaltung von Geschwindigkeit und der Bremsweg anzusehen. Angesichts der Zunahme des Kraftfahrzeugverkehrs ist die Rechtsprechung jedoch dazu übergegangen, nicht nur das bewegte Fahrzeug, sondern auch das ruhende Fahrzeug als gefährlich anzusehen, jedenfalls solange ein Zusammenhang mit einer Betriebseinrichtung besteht. Entgegen der Rspr. ist eine Kfz-Halterhaftung sogar dann anzunehmen, wenn eine Sonderfunktion dominiert (Beispiel: Hauptmotor eines stehenden Traktors treibt lediglich eine Güllepumpe an).


5. Nichtvorliegen eines Ausschlusstatbestands

Die grundsätzliche Haftung gem. § 7 I StVG besteht nicht, wenn ein Ausschlusstatbe­stand vorliegt. Ausschlusstatbestände sind in § 7 II und III, § 17 III und § 8 StVG enthalten. Liegt einer dieser Tatbestände vor, ist die verschuldensunabhängige Halterhaftung nach § 7 I StVG ausgeschlossen. Möglich ist dann nur noch eine Haftung aus Vertrag (sofern nicht durch Vereinbarung ausgeschlossen) oder aus deliktischer Verschuldensverantwortlichkeit. Aus dem Schutzzweck der Halterhaftung folgt auch: Wird der Betroffene durch das eigene bzw. das von ihm selbst geführte Kfz geschädigt, stehen ihm die Ansprüche gem. §§ 7, 18 StVG nicht zu. Damit können zwischen Fahrer und Halter nur Ersatzansprüche aus Vertrags- oder Deliktshaftung bestehen. Der Halter, der als Mitfahrer durch sein eigenes Kfz verletzt wird, hat gegen den Fahrer daher nur vertragliche oder deliktische An­sprüche (aus § 823 BGB), nicht jedoch solche aus §§ 7, 18 StVG.


6. (Kein) Mitverschulden

Ist der Geschädigte jemand, der sich keine Betriebsgefahr zurechnen lassen muss (Fußgänger, Radfahrer), bestimmt sich sein Mitverschulden bei den Ansprüchen aus §§ 7, 18 StVG nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB. Ist der Geschädigte aber selbst Fahrzeughalter oder Fahrer, richtet sich sein Mitverschulden nach der Spezialvorschrift des § 17 StVG, wonach die beteiligten Halter gesamtschuldnerisch haften. § 17 I StVG regelt den Ausgleich zwischen mehreren beteiligten Kfz-Haltern, wenn durch den Betrieb ihrer Pkws eine dritte Person (Radfahrer, Fußgänger oder Mitfahrer) geschädigt wurde. § 17 II StVG betrifft die praktisch bedeutsamere Ausgleichspflicht zwischen mehreren beteiligten Kfz-Haltern für selbst erlittene Schäden.


II. Prüfung des Falls

1. Voraussetzungen: Verletzung und Schaden durch den Betrieb eines Kfz

Der von O geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch könnte sich gegen T aus § 7 I StVG bzw. gegen den Versicherer aus § 115 I S. 1 Nr. 1 VVG ergeben. T ist Halter (und Fahrer) des Verursacherfahrzeugs. Ein Personenschaden liegt vor: O erlitt diverse Verletzungen. Der Personenschaden ist auch „bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs“ ver­ursacht worden (zu den verschiedenen Begründungsmodellen wie die „verkehrstechnische Auffassung“ und die „maschinentechnische Auffassung“ siehe R. Schmidt, SchuldR BT II, 13. Aufl. 2019, Rn. 986 ff.). Ein Ausschlusstatbe­stand (wie in § 7 II und III, § 17 III und § 8 StVG enthalten) greift nicht.


2. Rechtsfolge: Gewährung auch von Schmerzensgeld; (kein) Mitverschulden

Ist danach ein Schadensersatzanspruch gegeben, der bei Personenschäden insbesondere die Heilbehandlungskosten umfasst, ist auch der Weg zum Schmerzensgeldanspruch eröffnet. Denn ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann gem. § 253 II BGB auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden. Mit „Entschädigung“ ist Schmerzensgeld gemeint. Es dient dem Ausgleich für er­littene Schmerzen und Leiden sowie der Genugtuung (BGHZ 18, 149, 154 ff.; BGH NZV 2017, 179, 181; OLG Frankfurt MDR 2018, 1492; OLG Oldenburg MDR 2019, 32; OLG Nürnberg NJW 2020, 3603).


Beispiele:

So ist etwa für den Fall, dass aufgrund einer unterbliebenen Zählkontrolle nach einer urologischen Operation eine 1,9 cm lange Nadel im Bauchraum der Patientin zurückgeblieben ist, ein (erhöhtes) Schmerzensgeld unter dem Aspekt der Genugtuung angezeigt (OLG Stuttgart GesR 2019, 337). Das OLG hielt ein Schmerzensgeld i.H.v. 10.000 € für angemessen. Sollten sich weitere materielle und nicht vorhersehbare immaterielle Schäden zeigen, seien auch diese zu ersetzen.


Das Gleiche gilt, wenn bei einem Patienten, der sich einer Kniegelenksoperation unterzogen hatte, die Metallspitze des Operationsinstrumentes im Knie verblieb. Das hier zu bemessende Schmerzensgeld erhöht sich sogar noch, wenn der Arzt am Abend der Operation das Fehlen der Metallspitze bemerkt und sich zunächst einmal damit abfindet, dass einer seiner Patienten hierdurch erheblich verletzt werden könne. Wenn er dann weder beim späteren Verbands­wechsel noch beim Fädenziehen es für nötig befindet, abzuklären, ob die Metallspitze im Knie des Patienten verblieben war, sondern erst tätig wird, nachdem die Spitze bereits Schäden verursacht hat und der Patient mit erheblichen Schmerzen erneut vorstellig geworden ist (OLG Oldenburg MDR 2019, 32), ist das grobe Fehlverhalten besonders virulent.


Auch, wenn eine Frau in einer Reproduktionsklinik aufgrund einer Verwechselung mit „falschem“ Spendersamen befruchtet wird, kann dies Schmerzensgeldansprüche auslösen, etwa, wenn dies zu einer behandlungsbedürftigen psychischen Fehlverarbeitung mit wiederkehrenden depressiven Episoden führt (OLG Hamm NJW 2019, 523, 524).


Aus der genannten Ausgleichsfunktion und dem Kriterium der „Billigkeit“ (i.S.v. „angemessen“) in § 253 II BGB wird deutlich, dass die Höhe des Schmerzensgelds nur unter umfassender Berück­sichtigung aller Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden kann und in einem angemessenen Verhältnis zur Art und Dauer der Verletzungen stehen muss, wobei die Rechtsprechung in erster Linie auf die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung einschließlich vorhersehbarer Spätfolgen abstellt (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603 mit Verweis u.a. auf BGH NZV 2017, 179, 181; BGH NJW-RR 2006, 712), jedoch auch Umstände be­rücksichtigt, die dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, wie der Grad des Verschuldens des Schädigers, im Einzelfall aber auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten und des Schädigers (BGHZ 18, 149, 157 ff.; BGH NZV 2017, 179, 181). Wenn jemand also verletzt wird, ohne dass den Schädiger ein Verschulden trifft (bspw. weil im Straßenverkehr unvorhersehbar ein Reifen platzt), wird der Verletzte mit Erhalt eines Schmerzensgeldes zwar einen Ausgleich für erlittenes Leid erhalten, kaum aber Anlass für Genugtuung finden. Das muss bei der Schmerzensgeldbemessung ebenso Berücksichtigung finden wie ein Mitverschulden des Geschädigten.


Obwohl jeder Schmerzensgeldanspruch individuellen Umständen folgt, orientieren sich die Gerichte bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgelds an den in Schmerzensgeld­tabellen erfassten „Vergleichsfällen“. Diese Tabellen stellen Sammlungen von Ur­teilen dar, in denen Schmerzensgeld gewährt wurde („Urteilssammlungen“). So gibt es Schmerzensgeldtabellen für Verkehrsunfälle, Sport- und Arbeitsunfälle, Behandlungsfehler, Körperverletzungen und Vergewaltigungen, Verletzungen des Persönlichkeitsrechts, Verletzungen durch Tiere usw. Jedoch können sie – wie sich allein schon aus Art. 97 I GG ergibt, wonach die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind – keinesfalls bindend sein (insoweit lediglich klarstellend OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3604; OLG München NJW-Spezial 2018, 11). Allerdings fordern die Instanzgerichte von den Tatgerichten eine besondere Begründung, wenn sie von den Beträgen der Tabellen signifikant abweichen (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3604 mit Verweis auf OLG Celle NJWE-VHR 1997, 138).


Auch im vorliegenden Fall hat das OLG Nürnberg klargestellt, dass die in Schmerzensgeldtabellen erfassten „Vergleichsfälle“ im Rahmen des zu beachtenden Gleichheitsgrundsatzes als Orientierungsrahmen zu berücksichtigen sind, ohne dabei verbindliche Präjudizien zu sein (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3604 mit Verweis auf OLG München ZfSch 2018, 203). Bei der Ausübung des Ermessens habe das Gericht unabhängig von den stets zu beachtenden Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen, dass vergleichbare Verletzungen annähernd gleiche Entschädigungen zur Folge haben (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3604 mit Verweis auf Oetker, in: MüKo, § 253 Rn. 37). Die in den in Schmerzensgeldtabellen zusammengetragenen „Vergleichsfälle“ hinderten das zur Entscheidung berufene Gericht zwar nicht, die Entschädigung im konkreten Einzelfall abweichend festzulegen. Allerdings bedürfe es einer besonderen Begründung, wenn von der Größenordnung, in der sich die Schmerzensgelder der Gerichte in vergleichbaren Fällen bewegen, signifikant abgewichen werde (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3604 mit Verweis auf OLG Celle NJWE-VHR 1997, 138). Die Anwendung dieser Grundsätze führe zu dem Ergebnis, dass im Streitfall ein Gesamtschmerzensgeld i.H.v. 20.000 € in einem angemessenen Verhältnis zu Art und Dauer der erlittenen Verletzungen und der entstandenen Lebensbeeinträchtigungen der O stehe: So sei O aufgrund des Unfalls erheblich verletzt worden und habe sich für neun Tage in stationärer Behandlung befunden. Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass ein Dauerschaden in Form des Verlustes des Geruchssinns verblieben sei, was vor dem Hintergrund, dass O im Unfallzeitpunkt erst 27 Jahre alt war, erhebliches Gewicht habe. Schließlich sei bei der Bemessung des Schmerzensgelds einzubeziehen, dass die Verletzungen der O durch ein erhebliches Maß an Fahrlässigkeit des T verursacht wurden, der am helllichten Tag beim Rechtsabbiegen im Kreuzungsbereich die geradeaus fahrende O übersehen habe.


Zwischenfazit: Das OLG Nürnberg hat also im Ausgangspunkt abstrakt die Schmerzensgeldtabelle Verkehrsunfälle zur ersten Orientierung herangezogen und dann die Umstände des zu entscheidenden Falls betrachtet, um zu entscheiden, ob abweichende Beträge zu gewähren sind, wobei es aber deutlich macht, dass eine Abweichung von den Tabellengrößen besonders begründet werden muss (und es damit die grundsätzliche Maßgeblichkeit der Tabelle betont). Das ist methodisch nicht einwandfrei. Denn die Schmerzensgeldtabellen geben keinen Aufschluss darüber, welche konkreten Umstände den in den Tabellen aufgelisteten Urteilen, und damit der Festlegung der Schmerzensgeldgrößen, zugrunde gelegen haben. Solange man die den Größenangaben zugrunde liegenden konkreten Umstände nicht kennt, verbietet sich zum einen bereits eine Orientierung an den Größenangaben und zum anderen auch die Überlegung, ob im vorliegenden Fall eine abweichende Schmerzensgeldhöhe angezeigt ist. Methodengerecht wäre allein die Hinzuziehung einer Tabelle, die von „Mittelwerten“ ausgeht, d.h. die lediglich auf „durchschnittliche“ Verletzungsfolgen und Beeinträchtigungen abstellt. Denn erst dann kann man auf dieser Grundlage der Frage nachgehen, ob im zu entscheidenden Fall aufgrund der Spezifika (Langzeitfolgen; Maß des Verschuldens des Schädigers etc.) eine Abweichung von den Größen der Tabellen angezeigt ist.


Davon unbeschadet ist stets zu beachten: § 253 II BGB stellt, wie sich aus dessen Wortlaut („ist ... Schadensersatz zu leisten“) ergibt, keine eigenständige An­spruchsgrundlage dar, sondern ist stets im Zusammenhang mit der haftungsbegründenden Norm zu sehen, die einen Schadensersatzanspruch gewährt. Haftungsbegründende Normen können nicht nur solche aus Verschuldenshaftung sein (etwa § 823 BGB, § 826 BGB, § 831 BGB, § 832 BGB, § 833 S. 2 BGB), sondern auch solche aus Gefährdungshaftung (etwa § 833 S. 1 BGB, § 7 I StVG) und Vertragsverletzungen (etwa § 280 I BGB). Das ist deshalb besonders relevant, wenn dem Schädiger z.B. der deliktische Entlastungsbeweis gem. § 831 I S. 2 BGB gelingt. Besteht in diesem Fall noch ein vertragliches oder quasi-vertragliches Schuldverhältnis, greift die Schadensersatzpflicht aus § 280 I BGB. Schädigende Handlungen von Erfüllungsgehilfen werden dem Anspruchsgegner zugerechnet (§ 278 BGB), ohne dass ein Entlastungsbeweis möglich wäre. Daher muss der Geschäftsherr gem. §§ 280, 278, 249 ff., 253 II BGB Schmerzensgeld gewähren, sofern die Voraussetzungen vorliegen. Schließlich folgt aus dem Wortlaut des § 253 II BGB, dass ein Schmerzensgeldanspruch immer das Bestehen eines Schadensersatzanspruchs voraussetzt, er dann aber auch neben einem Schadensersatzanspruch bestehen kann.


Ist nach diesen Grundsätzen Schmerzensgeld zu gewähren, muss schließlich der Frage nachgegangen werden, inwieweit ein Mitverschulden angenommen werden kann. Gemäß § 254 I BGB (der vorliegend über § 9 StVG Anwendung findet) kann ein Schadensersatzanspruch gemindert oder ausgeschlossen sein, wenn auch den Geschädigten ein Verschulden am Eintritt des Verletzungserfolgs trifft. Dies gilt nach § 254 II BGB auch, wenn er seiner Schadensabwendungs- und -minderungspflicht schuldhaft nicht nachkommt. Als Verschulden i.S.d. § 254 BGB ist ein vorwerfbarer Verstoß gegen Gebote des eigenen Interesses (Obliegenheiten), also ein „Verschulden gegen sich selbst“ zu verstehen (allg. Auffassung). Anwendungsbereich des § 9 StVG ist die Frage nach einem anspruchsmindernden Mitverschulden des Geschädigten, wenn es um eine Schadensverursachung geht im Verhältnis zwischen einem Inhaber einer Betriebsgefahr und einer Person, die keine Betriebsgefahr zu verantworten hat. Typisch sind Kollisionen zwischen Pkw und Fußgänger bzw. Pkw und Radfahrer. Der nach § 7 I StVG anspruchsberechtigte Fußgänger bzw. Radfahrer muss wegen § 9 StVG bei Mitverschulden eine Minderung der Höhe seines Schadensersatzanspruchs hinnehmen. Virulent wird § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB, wenn ein Fahrradfahrer bei Dun­kelheit ohne Licht fährt (Verstoß gegen das auch für Radfahrer geltende Sichtfahr­gebot) und daher von einem Autofahrer übersehen wird. Hier ist von einem Mitverschul­den sogar dann auszugehen, wenn der Fahrradfahrer eine Vorfahrtstraße befuhr (Siehe etwa OLG Naumburg VersR 2013, 776).


Ob auch das Nichttragen eines Fahrradhelms anspruchsmindernd i.S.v. § 254 BGB wirkt, ist hin­gegen äußerst problematisch, weil das Tragen eines Fahrradhelms nicht gesetzlich vor­geschrieben ist. So hat der BGH vor etlichen Jahren entschieden, dass sich ein Radfahrer, der ohne Helm fährt, bei einem unver­schuldeten Unfall grundsätzlich kein anspruchsmin­derndes Mitverschulden bzgl. erlittener Kopf­ver­letzungen anrechnen lassen muss. Sei das Tragen eines Schutzhelms keine gesetzliche Pflicht, könne in dem Nichttragen eines Fahr­radhelms auch keine Obliegenheitsverletzung angenommen werden (BGH NJW 2014, 2493, 2494 f.). Auch nach dem OLG Nürnberg trägt ein Fahrradfahrer, der keinen Schutzhelm trägt, bei einem Unfall mit Kopfverletzung keine Mitschuld. Es sei nach wie vor allgemeine Verkehrs­auf­fassung, beim Radfahren keinen Helm zu tragen (OLG Nürnberg NJW 2020, 3603, 3605).


Der BGH macht aber auch deutlich, dass bei gefahr­erhöhendem Verhalten (sportlicher Betätigung) etwas anderes gelten kann (BGH NJW 2014, 2493, 2494 f.). Mit diesem Argument hat denn auch das LG Bonn (LG Bonn NJW-Spezial 2015, 234) ein zu einer 50%igen Anspruchsminderung führendes Mit­ver­schulden bejaht bei dem Fahrer eines Speed-Pedelecs, der bei einer Geschwindigkeit von ca. 35-40 km/h mit einem Pkw kollidiert war und dabei Kopf­verletzungen erlitt, die er beim Tragen eines Helms nicht er­litten hätte.


Stellungnahme: Nach der hier vertretenen Auffassung stellt das Nichttragen eines Fahrradhelms auch außerhalb einer sportlichen Betätigung durch­aus eine anspruchsmindernde Obliegen­heitsverletzung dar. Allein aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber das Tragen eines Fahrradhelms nicht angeordnet hat, folgen nicht die Ungefährlichkeit des Fahrens ohne Schutzhelm und das Freisein einer Eigenverantwortung. Der Gesetzgeber hat ja auch bspw. nicht verboten, mit Flip-Flops Auto zu fahren. Dass hier bei einem Unfall mit Per­sonen­schaden, der auf ein Abrutschen des Fußes vom Bremspedal und/oder von der Kupp­lung zurückzuführen ist, (trotzdem) strafrechtlich ein Fahr­lässigkeitsdelikt (§§ 229 oder 222 StGB) und zivilrechtlich eine Haftungsverantwortlichkeit (nach § 7 I StVG bzw. § 18 I StVG) vorliegt, wird nicht ernsthaft bezweifelt. Auch ist es z.B. nicht verboten, als Fußgänger selbst dann eine Straße zu überqueren, wenn sich in der Nähe ein Fußgängerüberweg befindet. Überquert ein Fußgänger eine Straße, obwohl sich in der Nähe ein Fußgängerweg befindet, und wird von einem Fahrzeug erfasst, ist ihm  - trotz Nichtbestehens eines gesetzlichen Verbots - ein Mitverschulden anzulasten (BGH NJW 2000, 3069, 3070).


Aus alledem folgt, dass allein aus dem Nichtbestehen einer Verbotsregelung kein „Freifahrtschein“ für unvernünftiges und mitunter gefährliches Verhalten ausgestellt werden kann. Es ist gerade Aufgabe des § 254 BGB, ein Verschulden gegen Obliegenheiten anspruchsmindernd zu berücksichtigen. Richtig daher OLG Schleswig, OLG Celle und OLG München, die bei einem Fahrradunfall ein zivilrechtliches Mit­verschulden annehmen, wenn nach­gewie­sen wurde, dass die Ver­letzungsfolgen bei Tra­gen eines Fahr­radhelms geringer ausge­fallen wären (OLG Schleswig DAR 2013, 470; OLG Celle DAR 2014, 199; OLG München NJW 2017, 3664, 3665). Und auch das OLG München bestätigte ein zu einer Anspruchsminderung i.H.v. 30% führendes Mitverschulden einer Fahr­radfahrerin, die sich zwei frei laufenden Hunden näherte, wobei einer der Hunde einen Haken schlug und auf den Radweg lief, mit der Folge, dass die Radfahrerin, die keinen Helm trug, bremste, stürzte, mit dem Hinterkopf auf den Asphalt schlug und u.a. eine Schädelfraktur erlitt (OLG München NJW 2017, 3664, 3665).

 

Wirkt sich richtigerweise also das Nicht­tragen von Schutzhelmen (ob­wohl das Tragen gesetzlich nicht vorgesehen ist) anspruchsmin­dernd aus, stellt sich die Frage auch beim Nichttragen von Protek­torenschutzkleidung bei Mofas etc. (siehe dazu LG Heidelberg NZS 2014, 383, 384) oder beim Tragen von ein­fachen Sportschuhen an­stelle von Motorrad­stiefeln beim Motorradfahren (OLG Nürnberg NJW 2013, 2908; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415; OLG Brandenburg NJW-RR 2010, 538; Heß/Bur­mann, NJW 2014, 1154, 1156). Gleiches gilt, wenn ein Motorrad­fahrer keine Schutzkleidung an den Beinen trägt (sondern lediglich eine Jeans). Auch dies wird man als Verschul­den gegen sich selbst und damit als anspruchsmindernde Ob­liegenheitsverletzung werten müssen, auch wenn das LG Frankfurt meint, das Nicht­tragen von Motorradschutzkleidung sei dann nicht anspruchs­mindernd, wenn dies den Gepflogenheiten entspreche (hier: Fahren mit Harley-David­son ohne Beinschutzklei­dung – LG Frankfurt/M NJW 2019, 531 f.). Die Auffassung des LG Frankfurt/M kann schon deshalb nicht überzeugen, weil sie ja dazu führte, dass einen Motorradfahrer, der eine Sportmaschine fährt, aber mit gleicher Geschwindigkeit (wie der Harley-Davison-Fahrer im Fall des LG Frankfurt/M) verunfallt, ein Mitverschul­den träfe, wenn er keine Schutzausrüstung trüge. Das leuchtet nicht ein. Gleichwohl ist der Gesetzgeber aufgefordert, entsprechende Regelungen zu treffen. Solange er nicht tätig wird, sind die Gerichte befugt, im Rahmen des § 254 BGB Anspruchs­minderungen unter dem Aspekt des „Verschuldens gegen sich selbst“ vorzunehmen. Darin liegt kein Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Zum einen lässt § 254 BGB (= ein Parlamentsgesetz) ausdrücklich zu, dass die Gerichte das Mitverschulden bei Schadensentstehung durch Auslegung ermitteln, und zum anderen ist das Richterrecht – jedenfalls das gesetzeskonkretisierende Richterrecht, das auslegungsbedürftige Gesetze präzisiert – verfassungsrechtlich nicht nur unproblematisch, sondern systemimmanent und gewünscht: Dadurch, dass die Gesetze abstrakt-generellen Charakter haben und eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen und teilweise auch Generalklauseln beinhalten, gehört es gerade zu den Aufgaben der Gerichte, unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln zu konkretisieren (d.h. auszulegen) und auf den zu entscheidenden Fall anzuwenden.


Gelangt man daher zu der Auffassung, dass Fahrradfahrer, die am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen, der von zunehmender Verkehrsdichte und damit zunehmenden Gefahren einer Kollision geprägt ist, eine Eigenverantwortung haben, sich durch Tragen eines Helms vor schweren Kopfverletzungen zu schützen, stellt das Nichttragen eines Helms eine Obliegenheitsverletzung i.S.d. § 254 BGB dar. Auch, wenn man dies unter Bezugnahme auf BGH NJW 2014, 2493, 2494 f. anders sieht, darf man dennoch aktuelle OLG-Entscheidungen (OLG Schleswig DAR 2013, 470; OLG Celle DAR 2014, 199; OLG München NJW 2017, 3664, 3665), die bei einem Fahrradunfall ein zivilrechtliches Mit­verschulden annehmen, wenn nach­gewie­sen wurde, dass die Ver­letzungsfolgen bei Tra­gen eines Fahr­radhelms geringer ausge­fallen wären, nicht ignorieren. Auch darf die immer noch herrschende Verkehrsauffassung unter Radfahrern, aus Bequemlichkeit keinen Helm zu tragen, kein Argument sein, eine Obliegenheitsverletzung und damit ein Mitverschulden zu verneinen. 


3. Ergebnis

Nach der hier vertretenen Auffassung trägt O dadurch, dass sie ohne Schutzhelm fuhr, ein Mitverschulden an der Schadensverursachung, welches bei 1/4 bis 1/3 anzusiedeln ist. Um diesen Mitverschuldensanteil reduziert sich ihr Schmerzensgeldanspruch.



Rolf Schmidt (25.02.2021)






 



Share by: