Aktuelles 2021 Neue Facetten in den Geldautomatenfällen

Beiträge 2021


15.07.2021: Neue Facetten bei der Gewahrsamserlangung in Geldautomatenfällen


BGH, Beschl. v. 03.03.2021 – 4 StR 338/20 (NStZ 2021, 425)


Mit dem genannten Beschluss hat sich der 4. Strafsenat des BGH zum Gewahrsam des Bankkunden am Bargeld im Ausgabefach eines Geldautomaten geäußert, wenn er den Auszahlungsvorgang durch Einführen seiner Karte und Eingabe der zugehörigen PIN-Nummer ausgelöst hat. Der Gewahrsamsbruch ist einer der zentralen Aspekte des Diebstahls (§ 242 StGB – alle folgenden §§ sind solche des StGB, soweit nicht anders gekennzeichnet). Nach Auffassung des 4. Senats ist mit der Ausgabe des Geldes, d.h. mit der Bereitstellung im Ausgabefach, (Mit-)Gewahrsam auf den Bankkunden übergegangen, sodass der Täter, der in diesem Moment das Geld entnimmt, (Mit-)Gewahrsam des Kunden bricht und damit einen Diebstahl begeht. Ob der Beschluss überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden.


Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde (abgewandelt und vereinfacht, um die Probleme des Falls zu fokussieren): O will Geld abheben. Nachdem er seine Bankkarte in den Automaten eingeschoben und seine Geheimnummer eingegeben hatte, stellte sich T neben O, verdeckte das Bedienfeld mit einer Zeitung und gab als auszuzahlende Geldsumme 500 € ein. Er entnahm dem Automaten das anforderungsgemäß ausgegebene Bargeld und entfernte sich.


I. Problemaufriss

Im Bereich der Vermögensdelikte bildet (neben dem Betrug) der Diebstahl den zentralen Tatbestand. Geschützte Rechtsgüter sind – da der Diebstahl eine Eigentumsverletzung durch Wegnahme der Sache zwecks Anmaßung einer eigentümerähnlichen Position darstellt (se ut dominum gerere) – nach zutreffender Auffassung (BGHSt 10, 400, 401; 29, 319, 323; BGH NJW 2001, 1508; SK-Hoyer, vor § 242 Rn. 12; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 1; LK-Vogel, vor § 242 Rn. 3) das Eigentum und der Gewahrsam.


Tatobjekt ist eine fremde bewegliche Sache. Ob der strafrechtliche Sachbegriff eigenständig zu bestimmen ist oder mit dem zivilrechtlichen Sachbegriff übereinstimmt mit der Folge, dass die entsprechenden zivilrechtlichen Definitionen und Wertungen auf das Strafrecht übertragen werden können, wird unterschiedlich gesehen. Während ein Teil der Literatur (u.a. Fischer, § 242 Rn. 3) den strafrechtlichen Sachbegriff autonom, d.h. rein strafrechtlich bestimmt, orientiert sich die h.M. (Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 1; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 9) an dem zivilrechtlichen Sachbegriff. Demzufolge ist der strafrechtliche Sachbegriff akzessorisch zum Zivilrecht. Für die Minderheitsmeinung spricht, dass es grundsätzlich richtig ist, im Strafrecht Begriffe strafrechtlich zu bestimmen, jedoch müsste man diesen Gedanken dann auch durchgängig zugrunde legen. So ist kein Grund ersichtlich, den Sachbegriff rein strafrechtlich zu bestimmen, sich dann aber zur Bestimmung des Begriffs der Fremdheit der sachenrechtlichen Vorschriften des Bürgerlichen Rechts über Erwerb und Verlust von Eigentum zu bedienen. Richtigerweise sind sowohl der Sachbegriff als auch der Be­griff der Fremd­heit bei den Eigentumsdelikten streng akzessorisch zu den zivilrechtlichen Vorschriften des Sachenrechts. Sachen i.S.d. § 242 sind somit alle körperlichen Gegenstände i.S.d. § 90 BGB, und zwar unabhängig von deren wirtschaftlichem Wert und deren Aggregatzustand, solange sie von der Außenwelt (räumlich) abgrenzbar sind (Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 1; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 9).


Fremd ist eine Sache, wenn sie nicht im Alleineigentum des Täters steht und nicht herrenlos ist (BGH NJW 2006, 72; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 4; Fischer, § 242 Rn. 5-7; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 12; LK-Vogel, § 242 Rn. 6 ff.; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 27). Bei der Beurteilung der Fremdheit ist mit der h.M. auf den Zeitpunkt der Wegnahmehandlung (d.h. auf den Versuchsbeginn) abzustellen (Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 12; LK-Vogel, § 242 Rn. 22; BeckOK-Wittig, § 242 Rn. 6). Danach ist die Sache für den Täter fremd i.S.d. § 242, wenn sie zum Zeitpunkt des Versuchsbeginns nicht in seinem Alleineigentum steht und auch nicht herrenlos ist. Das gilt sowohl beim rechtsgeschäftlichen als auch beim gesetzlichen Eigentumserwerb. Fallen also Wegnahme und Eigentumserwerb zeitlich zusammen (d.h. erwirbt der Empfänger mit der Entgegennahme Eigentum), ist das Merkmal der Fremdheit zu verneinen (davon geht auch der BGH in den Geldautomatenfällen aus, siehe BGH NStZ 2018, 604, 605; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426).


Beispiel (Nach BGHSt 35, 152): Hat sich der Täter widerrechtlich eine Bankkarte (Girocard) nebst PIN besorgt und hebt an einem Geldautomaten unbefugt Bargeld ab, könnte in dem Abheben ein Diebstahl gesehen werden. Zunächst müsste dazu zum Zeitpunkt der Entgegennahme des Geldes dieses für T fremd gewesen sein. An der Fremdheit fehlte es, wenn in dem Bereitstellen des Geldes ein Übereignungsangebot i.S.d. § 929 S. 1 BGB angenommen würde. Denn dann erwürbe der Empfänger mit der Entgegennahme Eigentum und das Merkmal der Fremdheit wäre zu verneinen. Geht man davon aus, dass das Geld unter der Bedingung einer ordnungsgemäßen Bedienung des Bankautomaten übereignet wird (§§ 929 S. 1, 158 I BGB) und T den Automaten funktionsgerecht bedient hat, war das Geld bei der Entnahme nicht mehr fremd und ein Diebstahl scheidet schon deswegen aus. Stellt man sich aber (mit dem BGH (siehe BGH NStZ 2018, 604, 605; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426) auf den Standpunkt, dass sich das Übereignungsangebot des Automatenbetreibers nur an zur Geldabhebung Berechtigte richtet, blieb vorliegend das Geld im Eigentum des Automatenbetreibers, da T nicht berechtigt war. Das Geld wäre dann für T fremd und es müsste dann die Wegnahme geprüft werden, siehe dazu sogleich.


Bei der Prüfung der Eigentumslage ist – da sich die Eigentumsdelikte auf die formal-juristische Eigentumsposition beziehen und diese im Bürgerlichen Recht geregelt ist – folgerichtig nicht nach (ungeschriebenen) eigenständigen strafrechtlichen Kriterien zu fragen, sondern auf die sachenrechtlichen Vorschriften des Bürgerlichen Rechts über Erwerb und Verlust von Eigentum, insbesondere auf §§ 903 ff., 873, 929 ff., 946 ff., 958 ff. und 1922 BGB abzustellen. Der Begriff der Fremd­heit bei den Eigentumsdelikten ist also streng akzessorisch zu den zivilrechtlichen Vorschriften über Erwerb und Verlust von Eigentum (st. Rspr. seit BGHSt 6, 377, 378; aus jüngerer Zeit vgl. etwa BGH NStZ 2006, 170, 171).


Tathandlung ist die Wegnahme. Der Begriff der Wegnahme ist gesetzlich nicht definiert. Allgemein hat sich aber folgende Definition durchgesetzt: Wegnahme bedeutet Bruch fremden und Begründung neuen, nicht notwendigerweise tätereigenen Gewahrsams (vgl. nur RGSt 48, 58, 59; BGHSt 16, 271, 272; 35, 152, 158; BGH NStZ 2018, 604, 605; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426; aus der Lit. etwa Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 22; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 48; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 8). Gewahrsam ist die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft eines Menschen über eine Sache (RGSt 50, 183, 184; BGHSt 8, 273, 274; 16, 271, 273; 23, 254, 255; BGH NStZ 2008, 624, 625; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426, wobei das Merkmal „natürlich“ in den wiederholten Definitionen des BGH gelegentlich fehlt). Freilich gelangen diese Definitionen an ihre Grenze, wenn der Berechtigte noch nicht einmal eine abstrakte Möglichkeit des Zugriffs hat. Denn dann wird man wohl kaum von tatsächlicher Sachherrschaft sprechen können. Um in Fällen der vorliegenden Art dem Schutzzweck des § 242 gerecht zu werden und einen Diebstahl annehmen zu können, bedient sich die h.M. eines (korrigierenden) Kunstgriffes, indem sie in Fällen, in denen der Berechtigte nicht tatsächlich auf die Sache zugreifen kann, auf die Verkehrsauffassung abstellt, um – bei entsprechendem Herrschaftswillen – auch noch bei einer gewissen räumlichen Lockerung den Gewahrsam bejahen zu können (sog. „gelockerter Gewahrsam“ (der Begriff der „Gewahrsamslockerung“ findet sich bspw. bei BGH NStZ 2019, 726, 727). Eines solchen Kunstgriffes bedarf es jedoch nicht, wenn man nicht von dem Erfordernis einer tatsächlichen Herrschaftsmacht über die Sache ausgeht, sondern auf die „Anschauungen des täglichen Lebens“ (BGH NStZ 2019, 726, 727 mit Verweis u.a. auf BGHSt 16, 271, 273 f.; 23, 254, 255) bzw. die „sozialen Anschauungen“ (So BGH NStZ 2021, 425, 426 mit Verweis auf MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 70) abstellt bzw. eine sozial-normative Zuordnung der Sache zur Herrschaftssphäre einer Person (siehe Hillenkamp, JuS 2003, 157, 158; Wessels/Hillenkamp/Schuhr, BT 2, Rn. 83; Kargl, JuS 1996, 971, 974; Rönnau, JuS 2009, 1088, 1089 f.; Kretschmer, Jura 2009, 590; NK-Kindhäuser, § 242 Rn. 31; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 55; Joecks/Jäger, § 242 Rn. 16; SK-Samson, 4. Aufl., § 242 Rn. 20, allesamt zurückgehend auf Welzel, GA 1960, 257 und Lb. (11. Aufl. 1969), S. 347, 348) vornimmt. Die sozial-normative Zuordnung des Gewahrsams erscheint aus rechtsdogmatischer Sicht vor­zugswürdig, weil sie – anders als die Konstruktion eines „gelockerten Gewahrsams“ – kein bloßes Korrektiv eines an Grenzen stoßenden Gewahrsamsbegriffs darstellt. Sie hat zudem zur Konsequenz, dass Gewahrsam ohne weiteres auch bei einer gewissen Bewusstseins­lockerung zu bejahen ist. Freilich führt sie aufgrund ihrer Konturlosigkeit zu einer Unsicherheit bei der Rechtsanwendung. Denn gerade bei der Bestimmung der „Anschauungen des täglichen Lebens“ bzw. der „sozialen Anschauungen“ be­stehen nicht unerhebliche richterliche Freiräume. Die Geldautomatenfälle offenbaren dies. Zum einen geht es um den Fall, dass der Täter unter unbefugter Benutzung einer Bankkarte (Girocard, früher: ec-Karte) mit der ihm bekannten Geheimnummer (PIN) Geld abhebt. Dieser Fall ist bei R. Schmidt, StrafR BT II, Rn. 680 f. behandelt. Zum anderen sind Fälle zu entscheiden, bei denen der Täter in einen bereits vom Berechtigten initiierten Geldabhebungsprozess eingreift. Diese Fälle sind Gegenstand u.a. des vorliegend zu besprechenden Beschlusses des 4. Strafsenats. Da der 4. Senat jedoch an die vorangegangenen Beschlüsse des 2. und 3. Senats anknüpft, sind diese zunächst aufzuzeigen.


Sachverhalte nach BGH NStZ 2018, 604 (2. Senat) und BGH NStZ 2019, 726 (3. Senat): O will Geld abheben. T verwickelt ihn in ein Gespräch. Nachdem O seine Bankkarte in den Automaten eingeschoben und seine Geheimnummer eingegeben hatte, stieß ihn T von dem Automaten weg, wählte einen Auszahlungsbetrag von 500 € und entnahm das vom Geldautomaten ausgegebene Geld, um sich zu Unrecht zu bereichern.

 

Lösungsgesichtspunkte: T könnte sich entweder wegen Diebstahls (§ 242) bzw. Raubs (§ 249) oder wegen räuberischer Erpressung (§§ 253, 255) strafbar gemacht haben. Hinsichtlich des Diebstahls bzw. Raubs müsste T zunächst eine fremde bewegliche Sache weggenommen haben.

 

Fremd ist eine Sache, wenn sie zum Zeitpunkt der Tathandlung nicht im Alleineigentum des Täters steht und nicht herrenlos ist (BGH NStZ 2006, 170, 171; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 4; Fischer, § 242 Rn. 5-7; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 12; LK-Vogel, § 242 Rn. 6 ff.; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 27). Wäre in dem Bereitstellen des Bargelds im Ausgabefach also ein Übereignungsangebot zu sehen, wäre zum maßgeblichen Zeitpunkt der Tathandlung (hier: Ansichnahme des Geldes) die Fremdheit zu verneinen. Der BGH verneint dies. Ein Geldinstitut habe keinen Anlass, das in seinem Automaten befindliche Geld an einen unberechtigten Benutzer der Bankkarte und der Geheimzahl des Kontoinhabers zu übereignen (BGH NStZ 2018, 604, 605 (2. Senat) mit Verweis auf BGHSt 35, 152, 161 f.; ebenso BGH NStZ 2019, 726 f. (3. Senat). Ein Übereignungsangebot richte sich erkennbar nur an den Kontoinhaber, vorliegend O. Dieser habe das Angebot nicht an­genommen (weil er von T von der Entgegennahme des Geldes abgehalten bzw. an ihr gehindert wurde). Das Eigentum an den Geldscheinen verbleibe demnach beim Kreditinstitut. Damit war das Geld für T also fremd.

 

T müsste das Geld weggenommen haben. Wegnahme bedeutet Bruch fremden und Begründung neuen, nicht notwendigerweise tätereigenen Gewahrsams (vgl. nur RGSt 48, 58, 59; BGHSt 16, 271, 272; 35, 152, 158; BGH NStZ 2018, 604, 605; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426; aus der Lit. etwa Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 22; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 48; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 8). Gewahrsam ist die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft eines Menschen über eine Sache (RGSt 50, 183, 184; BGHSt 8, 273, 274; 16, 271, 273; 23, 254, 255; BGH NStZ 2008, 624, 625; BGH NStZ 2019, 726, 727; BGH NStZ 2021, 425, 426 (wobei das Merkmal „natürlich“ in den wiederholten Definitionen des BGH gelegentlich fehlt).

 

Zunächst befand sich das in dem Geldautomaten befindliche Geld im Gewahrsam des Geldinstituts (siehe BGH NStZ 2019, 726, 727). Fraglich ist aber, ob mit der Entgegennahme des Geldes fremder Gewahrsam gebrochen wurde.

 

Der 2. Strafsenat hat das verneint. Zwar habe T die Geldscheine aus dem Ausgabefach herausgenommen, dies sei jedoch nicht gegen den Willen des Kreditinstituts geschehen. Werde der Geldautomat technisch ordnungsgemäß bedient, erfolge die tatsächliche Ausgabe des Geldes mit dem Willen des Geldinstituts. Dessen Gewahrsam werde nicht gebrochen (BGH NStZ 2018, 604, 605 mit Verweis u.a. auf BGHSt 35, 152, 158 ff.; 38, 120, 122; Fischer, § 242 Rn. 26; MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 104).

 

Der 3. Senat differenziert. Nach seiner Auffassung bestand der Gewahrsam des Automatenbetreibers – wenn auch in gelockerter Form – zunächst fort, als die Geldscheine vom Automaten zur Entgegennahme im Ausgabefach bereitgestellt wurden (siehe BGH NStZ 2019, 726, 727). Er führt aus: „Durch die Freigabe zur Entnahme hatte das Geldinstitut zwar eine Wegnahmesicherung aufgegeben, es hatte indes weiterhin die Möglichkeit, auf das Geld einzuwirken, solange sich die Scheine im Ausgabefach des Automaten befanden. Denn im Rahmen des vorprogrammierten Ausgabevorgangs werden die Geldscheine wieder eingezogen und das Ausgabefach geschlossen, wenn das Geld nicht innerhalb einer bestimmten Zeitspanne entnommen wird.“ (BGH NStZ 2019, 726, 727). Daran ändert nach dem BGH der Umstand, dass T Zugriff auf das Geld erhielt, nichts, da es auf die Verkehrsauffassung ankomme (BGH NStZ 2019, 726, 727).

 

Liegt also nach Auffassung des 3. Senats in der Bereitstellung des Geldes im Ausgabefach des Automaten noch keine Gewahrsamsaufgabe, könnte T durch die Entgegennahme des Geldes diesen Gewahrsam gebrochen haben. Der 3. Senat steht auf dem Standpunkt, dass es bei der auto­matisierten Geldausgabe dem Willen des Geldinstituts entspreche, den Gewahrsam an den Geldscheinen demjenigen zu übertragen, der den Geldautomaten technisch ordnungsgemäß bediene, indem er sich mittels Eingabe von Bankkarte und zugehöriger PIN legitimiere (BGH NStZ 2019, 726, 727 mit Verweis auf BGHSt 35, 152, 158 ff.; 38, 120, 122). Auf die materielle Berechtigung komme es nicht an. Daher finde Gewahrsamsübertragung auch statt, wenn ein Unbefugter unter Verwendung einer dem Berechtigten entwendeten Bankkarte nebst zugehöriger PIN Geld am Bankautomaten abhebe (BGH NStZ 2019, 726, 727 mit Verweis auf BGHSt 35, 152, 158 ff.). Gleiches gelte, wenn der Täter zuvor ausgespähte und auf Bankkarten-Blankette kopierte Daten unbefugt zur Geldabhebung verwende (BGH NStZ 2019, 726, 727 mit Verweis auf BGHSt 38, 120, 122 ff.). Maßgeblich für das Einverständnis des Geldinstituts mit der Gewahrsamsübertragung sei allein die funktionsgerechte Bedienung des Geldautomaten durch Eingabe von Bankkarte und PIN (BGH NStZ 2019, 726, 727).

 

Auf der Basis des 2. Senats bedeutet das also: Die Gewahrsamsübertragung steht unter der Bedingung der äußerlich ordnungsgemäßen Bedienung des Automaten (BGH NStZ 2019, 726, 727 mit Verweis u.a. auf MüKo-Schmitz, § 242 Rn. 99 ff.; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 36a; SK-Hoyer, § 242 Rn. 54 ff.), auch, wenn der äußerlich ordnungsgemäß Bedienende materiell nicht berechtigt ist. Da T den Automaten technisch ordnungsgemäß bedient hat und nach der Annahme des 2. Senats der Automatenbetreiber in diesem Fall mit der Gewahrsamsübertragung einverstanden war, da die an die Gewahrsamsübertragung geknüpfte Bedingung „ordnungsgemäße Bedienung des Geldautomaten“ erfüllt war, sodass der Automaten­betreiber Gewahrsam aufgegeben habe (BGH NStZ 2018, 604, 605), liegt demnach in Bezug auf O keine Wegnahme vor, da dieser noch keinen Gewahrsam innehatte; vielmehr übte in diesem Zeitpunkt bereits T Gewahrsam aus.

 

Der 2. Senat nahm aber eine Strafbarkeit nach §§ 253, 255 an. Das konnte er, weil der BGH generell bei der Erpressung keine Vermögensverfügung fordert, sondern auch die Duldung der Wegnahme genügen lässt (siehe dazu R. Schmidt, StrafR BT II, Rn. 762/765). T habe durch Wegstoßen des O vom Geldautomaten Gewalt gegen diesen angewendet. Da­durch habe er diesen gezwungen, die Eingabe des Auszahlungsbetrags in den Geldautomaten und die Herausnahme der O zur Übereignung angebotenen Geldscheine zu dulden. O habe dabei einen Vermögensschaden erlitten, nämlich die Belastung seines Girokontos, ohne jedoch den entsprechenden Geldbetrag erhalten zu haben. T habe mit der Absicht rechtswidriger Bereicherung gehandelt (BGH NStZ 2018, 604, 605).

 

Anders sieht es auf der Basis des Beschlusses des 3. Senats aus: Das generalisierte Einverständnis der Bank zur Gewahrsamsübertragung sei persönlich auf diejenige Person begrenzt, die „durch Eingabe von Bankkarte und zugehöriger PIN legitimiert“ sei. Ergebe sich aber aus den Umständen, dass der bisherige Gewahrsamsinhaber (hier: Der Automatenbetreiber) die Wegnahme (besser müsste es heißen: „Entgegennahme“) nur bestimmten Personen gestatten wolle, liege ein Einverständnis bei anderen Personen nicht vor. Bei Geldautomatenfällen ergebe sich dann, dass das Einverständnis mit dem Gewahrsamsübergang in personeller Hinsicht erkennbar auf diejenigen Personen beschränkt sei, die den Geldausgabevorgang entsprechend initiierten, nicht aber auch auf einen erst später in den Vorgang eingreifenden Täter (BGH NStZ 2019, 726, 728).

 

Da O (und nicht T) den Geldausgabevorgang entsprechend initiierte, lag diesem Ansatz zufolge gegenüber T also kein Einverständnis zum Gewahrsamsübergang vor. T hat das Geld danach also weggenommen, weshalb in der Folge § 242 bzw. § 249 zu bejahen sind.

 

Bewertung: Beide Senate unterscheiden in ihrer rechtlichen Bewertung also zwischen der Frage nach der Übereignung und der Gewahrsamsübertragung. Das ist schon allein deswegen richtig, weil der Tatbestand des § 242 danach unterscheidet und nach allgemeiner Auffassung hinsichtlich der Fremdheit auf den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff geschaut wird, wohingegen sich die Wegnahme strafrechtlich bestimmt (und sich nicht an dem zivilrechtlichen Besitzbegriff orientiert).

 

  • Die zum Eigentumsübergang erforderliche dingliche Einigung i.S.d. § 929 S. 1 BGB ist nach beiden Senaten offenbar mit einer „personalen“ Bedingung versehen: Das Übereignungsangebot richtet sich nur an den Berechtigten, nicht generell an jeden, der den Zahlungsbetrag eingibt und das ausgegebene Geld entgegennimmt. Das lässt sich gut vertreten, zumal allgemein anerkannt ist, dass Einigungserklärungen aufgrund ihrer rechtsgeschäftlichen Natur auch Bedingungen hinsichtlich des Vertragspartners beinhalten können.

 

  • Alles andere als zwingend ist aber die Unterscheidung hinsichtlich der Gewahrsamsübertragung danach, ob (nach dem 2. Senat) der Automat äußerlich ordnungsgemäß bedient wird (gleichgültig, ob der äußerlich ordnungsgemäß Bedienende materiell berechtigt ist), oder danach, ob sich (nach dem 3. Senat) das Gewahrsamsübertragungsangebot in personeller Hinsicht allein auf diejenigen Personen bezieht, die den Geldausgabevorgang entsprechend initiierten, nicht aber auch auf einen erst später in den Vorgang eingreifenden Täter. Denn verneint man die Übereignung mit dem Argument, die Banken hätten kein Interesse daran, das Eigentum am Bargeld an deliktisch handelnde Personen zu übereignen, könnte man mit demselben Argument auch die Gewahrsamsübertragung verneinen: Der Geldauto­matenbetreiber habe kein Interesse daran, den Gewahrsam am Bargeld an deliktisch handelnde Personen zu übertragen. Dagegen ließe sich dann auch nicht einwenden, der Gewahrsam zeichne sich durch eine tatsächliche Sachherrschaft aus, denn dem Kriterium der „tatsächlichen Sachherrschaft“ hat der BGH durch seine Argumentation der „sozialen Anschauungen“ ja praktisch eine Absage erteilt.     



II. Prüfung des Falls des 4. Senats

Hier könnte sich T wegen Diebstahls (§ 242) strafbar gemacht haben. Dazu müsste T zunächst eine fremde bewegliche Sache weggenommen haben.

 

Hinsichtlich der Fremdheit ergibt sich keine Abweichung zu den Beschlüssen des 2. und 3. Senats. Der 4. Senat sieht daher von einer entsprechenden Prüfung ab. Das Eigentum an den Geldscheinen verbleibt beim Kreditinstitut. Damit war das Geld für T also fremd.

 

T müsste das Geld weggenommen haben. Wegnahme bedeutet Bruch fremden und Begründung neuen, nicht notwendigerweise tätereigenen Gewahrsams. Gewahrsam ist die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft eines Menschen über eine Sache.

 

Der 4. Senat zeigt die Beschlüsse des 2. und des 3. Senats auf, hat aber eine eigene Entscheidung offengelassen. Zunächst hat der 4. Senat bei der Frage nach dem Gewahrsamsbegriff auf die tatsächliche Sachherrschaft abgestellt, die sich nach den Umständen des Einzelfalls und den Anschauungen des täglichen Lebens bemesse. Danach könne eine Sache auch einer bestimmten, ihr nicht unbedingt körperlich am nächsten stehenden Person zugeordnet werden, solange diese nur einen Sachherrschaftswillen habe. Es genügten daher ein potentieller Beherrschungswille bzw. ein antizipierter Erlangungswille in Bezug auf Sachen, die erst noch in den eigenen Herrschaftsbereich gelangen werden.

 

Diese „Vorarbeit“ lässt den Leser ohne weiteres erahnen, was dies in Bezug auf den vorliegenden Fall bedeutet: Mit der Ausgabe des Geldes ist (Mit-)Gewahrsam auf O übergegangen, sodass T mit der Entnahme des Geldes bereits bestehenden (Mit-)Ge­wahrsam des O gebrochen hat.

 

Bewertung: Auch der 4. Senat unterscheidet in seiner rechtlichen Bewertung richtigerweise zwischen der Frage nach der Übereignung und der Gewahrsamsübertragung. Der Eigentumsübergang ist auch hiernach mit einer „personalen“ Bedingung versehen: Das Übereignungsangebot richtet sich nur an den Berechtigten, nicht generell an jeden, der den Zahlungsbetrag eingibt und das ausgegebene Geld entgegennimmt. Ob man aber auch bei der weitesten Auslegung des Gewahrsamsbegriffs bei O einen Gewahrsam annehmen kann, ist zu bezweifeln. Wie sich das bereits bei den Beschlüssen des 2. und 3. Senats andeutete, führt die Auffassung des 4. Senats in deutlicherer Weise dazu, dass der Gewahrsam gänzlich ohne Sachherrschaftsgesichtspunkte auskommt, sondern allein nach den „sozialen Anschauungen“ dem Berechtigten zugeordnet wird, auch, wenn dieser zu keinem Zeitpunkt auch nur eine ab­strakte Zugriffsmöglichkeit hat. Das geht meines Erachtens zu weit. Ein „potentieller“ Beherrschungswille bzw. ein antizipierter Erlangungswille in Bezug auf Sachen kann nicht genügen, um Gewahrsam anzunehmen. Dogmatisch hätte der BGH die Wegnahme also verneinen müssen. Wenn man aber allein auf die „sozialen Anschauungen“ bzw. den „potentiellen Beherrschungswillen“ abstellt, stellt sich die Frage nach der Maßgeblichkeit der auch vom 4. Senat verwendeten Definition, nach der Rspr. des BGH sei „Gewahrsam die von einem Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft“ (BGH NStZ 2021, 425, 426). Denn lässt man zur Bejahung des Gewahrsams die „sozialen Anschauungen“ bzw. den „potentiellen Beherrschungswillen“ genügen, sollte sich das auch in der Definition widerspiegeln. Alles andere ist dann nicht mehr glaubwürdig. Methodisch korrekt wäre es gewesen, bei der Definition des Gewahrsams sich sogleich von der „Sachherrschaft“ zu verabschieden, wenn Gewahrsam dann doch gänzlich ohne Vorliegen einer tatsächlichen Sachherrschaft auskommt. 

 

Unabhängig von der methodischen Schwäche wird der Grund für den Beschluss des 4. Senats aber deutlich, wenn man bedenkt, dass mangels Nötigung (und erst recht mangels Personengewalt) §§ 253, 255 ausscheiden. Um eine eklatante Strafbarkeitslücke zu schließen, dehnte der 4. Senat einfach den Gewahrsamsbegriff aus. Noch virulenter wäre die Problematik ausgefallen, wenn T auf der Flucht Gewalt angewendet hätte. Dann wäre § 252 in Betracht gekommen, aber nur, wenn man mit dem 4. Senat bei dem Vorgeschehen einen Diebstahl angenommen hätte. Freilich hätte sich der 4. Senat auch schlicht an der Auffassung des 3. Senats orientieren können, nämlich an der Überlegung, dass allein durch die Freigabe des Gelds zur Entnahme noch keine Gewahrsamsaufgabe vorliege. Mit dem Argument, der Geldautomatenbetreiber habe weiterhin die Möglichkeit, auf das Geld einzuwirken, solange sich die Scheine im Ausgabefach des Automaten befinden, weil im Rahmen des vorprogrammierten Ausgabevorgangs die Geldscheine wieder eingezogen werden und das Ausgabefach geschlossen wird, wenn das Geld nicht innerhalb einer bestimmten Zeitspanne entnommen wird (BGH NStZ 2019, 726, 727), ließe sich diese Ansicht gut begründen. Dann hätte T den Gewahrsam des Geldautomatenbetreibers gebrochen.

 

Anm.: Fälle dieser Art dürften sich für die Praxis mittlerweile weitgehend erledigt haben, da die Geldautomatenbetreiber dazu übergegangen sind, den Geldabhebungsprozess zu modifizieren: Kunden müssen erst den Geldbetrag und dann die Geheimnummer eingeben. In der juristischen Ausbildung (und in Prüfungen) dürfte die Problematik jedoch auch künftig eine Rolle spielen.



Rolf Schmidt (15.07.2021)






 



Share by: