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Beiträge 2015


9.9.2015: Strafrecht: Zur Frage nach den Rücktrittsvoraussetzungen bei einem versuchten Mord


BGH, Urteil v. 16.4.2015 – 3 StR 645/14, NStZ 2015, 509 (Beendeter Versuch eines Tötungsdelikts)

Ergänzung zu R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 14. Auflage 2015, Rn 710-714

Ausgangslage: Ist ein Versuch fehlgeschlagen, kommt ein Rücktritt vom Versuch (§ 24 StGB) nicht in Betracht. Wie bei R. Schmidt, Strafrecht AT, Rn 710 ff. ausgeführt, bereitet besondere Schwierigkeiten bei der Frage nach dem fehlgeschlagenen Versuch die Konstellation, in der dem Täter nach einem erfolglosen (fehlgeschlagenen) ersten Versuch noch weitere Möglichkeiten der Tatbestandsverwirklichung zur Verfügung stehen („mehraktiges Geschehen“), er von diesen jedoch absieht. Hier könnte man annehmen, der Versuch sei insgesamt nicht fehlgeschlagen und der Täter damit strafbefreiend vom Versuch zurückgetreten.

Nach der heute herrschenden Gesamtbetrachtung (dem sog. Rücktrittshorizont, vgl. nur BGH NStZ 2015, 331; NStZ 2014, 569 f.; NStZ 2013, 156, 157; NStZ 2012, 688, 689; NStZ 2011, 400, 401; NStZ 2011, 90; NStZ 2009, 501, 502; NStZ 2008, 393, 394 f. – allesamt zurückgehend auf BGHSt 31, 170, 175; vgl. ferner Gropp, AT, § 9 Rn 59 ff.; Fischer, § 24 Rn 14; SK-Rudolphi, § 24 Rn 14; Jescheck/Weigend, AT, § 51 II 4) ist der Versuch nicht fehlgeschlagen, wenn es dem Täter nach Abschluss der letzten tatbestandlichen Ausführungshandlung (BGH NStZ-RR 2014, 202) aus seiner Sicht (noch) möglich ist, die Tat auf eine andere Weise und ohne zeitlich relevante Unterbrechung (Zäsur) doch noch zu vollenden, er aber von weiteren Ausführungshandlungen ablässt und dadurch den Erfolgseintritt verhindert (R. Schmidt, AT, Rn 713). Mit den Worten des BGH ausgedrückt: Der Täter kann von der Tat insgesamt mit strafbefreiender Wirkung zurücktreten, wenn das Geschehen aus seiner Sicht nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung als ein einheitliches zusammengehöriges Tun erscheint, d.h. einen einheitlichen Lebensvorgang im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit darstellt (BGH StraFo 2009, 78 f.; NStZ 2008, 393, 394 f.; NStZ 2007, 399; NStZ 2005, 263, 264 f.; BGHSt 41, 368; 43, 381, 387; vgl. R. Schmidt, AT, Rn 713).

Insgesamt ist die Gesamtbetrachtung also (sehr) rücktrittsfreundlich. Ob zur Straffreiheit dann das freiwillige Aufgeben weiterer Tathandlungen genügt (vgl. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB) oder aber der Täter dem Erfolgseintritt aktiv gegensteuern muss (vgl. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB), hängt davon ab, ob der Versuch unbeendet oder beendet ist (vgl. R. Schmidt, AT, Rn 713).

  • Unbeendet i.S.d. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB ist ein Versuch, wenn der Täter noch nicht alles getan hat, was nach seiner Vorstellung von der Tat zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs notwendig oder zumindest ausreichend ist (BGH NStZ 2015, 509).
  • Beendet i.S.d. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB ist der Versuch, wenn der Täter alles getan hat, was nach seiner Vorstellung von der Tat zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs notwendig oder zumindest ausreichend ist (BGH NStZ 2015, 331; NStZ 2014, 569 f.; NStZ 2013, 703, 704; NStZ 2013, 463; NStZ 2012, 688, 689; NStZ 2011, 400, 401; NStZ 2008, 508, 509; NStZ 2005, 263, 264; vgl. auch BGH NStZ 2015, 509; grundlegend BGHSt 39, 221, 227). Beendet ist der Versuch auch dann, wenn sich der Täter im Augenblick des Verzichts auf eine mögliche Weiterführung der Tat keine Vorstellung von den Folgen seines bisherigen Verhaltens macht (BGH NStZ 2015, 331; NStZ 2013, 703, 704; NStZ 2009, 264; NStZ 1999, 299).

Während der 2. und der 5. Strafsenat des BGH von einem überaus großzügigen Verständnis des unbeendeten Versuchs ausgehen, dem zufolge ein strafbefreiender Rücktritt selbst dann in Betracht kommt, wenn bei einem versuchten Tötungsdelikt der Täter (hier: ein Messerstecher) zunächst irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, jedoch in engstem und räumlichem Zusammenhang nach Erkenntnis seines Irrtums von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt (vgl. BGH NStZ 2008, 393, 394 f.; BGH NStZ 2012, 688, 689; BGH NStZ-RR 2014, 9 f.), ist ein aktuelles Urteil des 3. Senats zu begrüßen, das eine Entscheidung des LG Koblenz aufhob, weil dieses in nicht vertretbarer Weise einen unbeendeten Versuch angenommen hatte und so zu Unrecht zu einem Rücktritt vom Versuch eines Mordes gelangt war. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Fall BGH 16.4.2015 – 3 StR 645/14 (NStZ 2015, 509): Die alkoholisierte T (BAK von 2,61 ‰) suchte den mit ihr bekannten O in dessen Wohnung auf. Neben ihm auf der Couch sitzend, zog sie ein in der Jackentasche verdeckt mitgeführtes Küchenmesser hervor und stieß es dem überraschten O ohne erkennbaren Anlass in Tötungsabsicht so in die linke Halsseite, dass die Schlagader durchtrennt wurde. Während sich O die spritzende Halswunde zuhielt, stach T erneut zu und traf dabei dessen erhobenen linken Arm. O gelang es darauf zunächst, die rechte Hand der T, in der diese das Messer hielt, zu ergreifen und festzuhalten. T nahm das Messer jedoch in ihre freie linke Hand und versetzte O einen dritten Stich in die Herzgegend, der aber am Brustbein abprallte. Darauf fiel O zu Boden und blieb dort liegen. Der T rief er zu: „Dann mach mich doch richtig tot!“. Aus dieser Äußerung und aus dem Umstand, dass sich der Blutverlust aus der Halswunde infolge des Abdrückens verringerte, schloss T, dass sie O entgegen ihrer Absicht noch nicht lebensgefährlich verletzt hatte. Sie wollte die Tat nun nicht mehr weiter ausführen, verließ die Wohnung, ohne sich weiter um den am Boden liegenden O zu kümmern, und begab sich zu der in der Nähe wohnenden Zeugin Z, der sie erklärte: „Ich wollte das Schwein abschlachten.“ Auf die Nachfrage der Z, ob O noch lebe, antwortete T: „Ich weiß es nicht.“ Nur aufgrund des raschen Eintreffens des von einer Nachbarin des O alarmierten Notarztes und einer anschließenden Notoperation konnte O gerettet werden.

T könnte sich durch das beschriebene Verhalten wegen versuchten Mordes (§ 211 StGB) strafbar gemacht haben. Die strafbarkeitsbegründenden Voraussetzungen liegen vor. Fraglich ist allein, ob T durch das Aufgeben weiterer Angriffe strafbefreiend vom Mordversuch zurücktreten konnte. Ob zur Straffreiheit das freiwillige Aufgeben weiterer Tathandlungen genügt (vgl. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB) oder aber der Täter dem Erfolgseintritt aktiv gegensteuern muss (vgl. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB), hängt davon ab, ob der Versuch unbeendet oder beendet ist.

  • Unbeendet i.S.d. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB ist ein Versuch, wenn der Täter noch nicht alles getan hat, was nach seiner Vorstellung von der Tat zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs notwendig oder zumindest ausreichend ist (s.o.).
  • Beendet i.S.d. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB ist der Versuch, wenn der Täter alles getan hat, was nach seiner Vorstellung von der Tat zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs notwendig oder zumindest ausreichend ist. Beendet ist der Versuch auch dann, wenn sich der Täter im Augenblick des Verzichts auf eine mögliche Weiterführung der Tat keine Vorstellung von den Folgen seines bisherigen Verhaltens macht (s.o.).

Entscheidung: Das LG Koblenz nahm einen noch unbeendeten Versuch an und konnte so einen strafbefreienden Rücktritt vom Mordversuch annehmen. Auf Revision der Staatsanwaltschaft hin hob der BGH dieses Urteil (wegen lückenhafter Beweiswürdigung und widersprüchlicher Urteilsbegründung) auf. Aufgrund der Äußerungen der T gegenüber Z habe das LG nicht davon ausgehen dürfen, dass T noch nicht alles getan hatte, was nach ihrer Vorstellung von der Tat zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs notwendig oder zumindest ausreichend sei.

Bewertung: Dem 3. Strafsenat des BGH ist uneingeschränkt beizupflichten. Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch orientiert sich maßgeblich an dem Vorstellungsbild des Täters. Dieses lässt sich nur im Rahmen einer fehlerfreien Beweiserhebung und -würdigung feststellen. Äußerungen des Täters – auch solche, die er im Anschluss an die Tat macht – lassen in besonderer Weise auf sein Vorstellungsbild während des Tatgeschehens schließen, d.h. zum (nach dem Rücktrittshorizont maßgeblichen) Zeitpunkt des Abschlusses der letzten tatbestandlichen Ausführungshandlung. Zum Zeitpunkt, als T von weiteren Messerstichen absah und die Wohnung des O verließ, musste sie davon ausgehen, dass sie alles Erforderliche getan hatte, um den Tod des O herbeizuführen. Es ist allgemein bekannt, dass nach dem Durchtrennen einer Halsschlagader akute Lebensgefahr besteht und dass diese nicht durch Zudrücken gebannt ist – erst recht nicht, wenn das Opfer selbst seine Halsschlagader zudrücken muss. Aufgrund der bei Z getätigten Äußerungen muss man zudem davon ausgehen, dass T das Schicksal des O gleichgültig war, was bei der Frage nach dem unbeendeten Versuch nicht unberücksichtigt bleiben darf.

Bei einer Gesamtbetrachtung befand sich T somit im Stadium des beendeten Versuchs. Insbesondere machte sich T im Augenblick des Verzichts auf weitere Messerstiche keine Vorstellung von den Folgen ihres bisherigen Verhaltens. Für den strafbefreienden Rücktritt genügte also nicht das bloße Absehen von weiteren Angriffshandlungen. T hätte freiwillig die Vollendung der Tat verhindern (§ 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB) oder sich zumindest freiwillig und ernsthaft um die Verhinderung der Vollendung (§ 24 Abs. 1 S. 2 StGB) bemühen müssen.

R. Schmidt (9.9.2015)

 


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