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Beiträge 2015


31.7.2015: Schuldrecht (hier: Kaufrecht): Zur Reichweite der Beweislastumkehr gem. § 476 BGB bei Grund- und Folgemängeln im Verbrauchsgüterkauf


EuGH, Urteil v. 4.6.2015 – C 497/13 (Faber/Autobedrijf Hazet Ochten BV)

Ergänzung zu R. Schmidt, BGB Allgemeiner Teil, 13. Auflage 2015, Rn 64

Ausgangslage: Wie bei R. Schmidt, BGB AT, Rn. 64 ausgeführt, gilt im Zivil(prozess)recht die (unausgesprochene) Grundregel („Rosenbergsche Formel“, vgl. Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 98 f.), dass bei einem non liquet („es ist nicht klar“) jede Partei die Voraussetzungen der anspruchsbegründenden Rechtsnorm, auf die sie sich stützt, beweisen muss und das Risiko der Nichterweislichkeit einer Beweisbehauptung zu tragen hat (Beweislast, die im Rahmen des § 286 ZPO zu berücksichtigen ist). So trägt im Grundsatz der Anspruchsteller die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen (d.h. für das Bestehen der anspruchsbegründenden Voraussetzungen), der Anspruchsgegner für die rechtshindernden und rechtsvernichtenden Tatsachen (d.h. für Gegennormen, die dem Anspruch entgegenstehen wie z.B. die Anfechtungsvoraussetzungen, die der Anspruchsgegner dem Anspruchsteller entgegenhält, vgl. nur BGHZ 53, 245, 250; 113, 222, 224 f.; Schilken, ZivilProzR, Rn 503; Muthorst, JuS 2014, 686, 689). Bei Schuldverhältnissen aus Verträgen greift § 363 BGB. Danach trifft den Gläubiger, der eine ihm als Erfüllung angebotene Leistung als Erfüllung angenommen hat, die Beweislast, wenn er die Leistung deshalb nicht als Erfüllung gelten lassen will, weil sie eine andere als die geschuldete Leistung oder weil sie unvollständig gewesen sei. Will die Zivilrechtsordnung von dieser Grundregel abweichen, muss sie dies durch entsprechende Regelungen tun, die eine Erleichterung bzw. Umkehr der Beweislast zum Gegenstand haben oder die eine gesetzliche Vermutung normieren. Im Rahmen des Verbrauchsgüterkaufs ist dies durch § 476 BGB geschehen. Diese Vorschrift wurde im Rahmen der Schuldrechtsmodernisierung zusammen mit etlichen anderen Verbraucherschutzvorschriften 2002 in Umsetzung europäischen Verbraucherschutzrechts (konkret: Verbraucherschutzrichtlinie RL 1999/44/EG) in Kraft gesetzt: Zeigt sich innerhalb von sechs Monaten seit Gefahrübergang (i.d.R. die Übergabe, vgl. § 446 BGB) ein Sachmangel, stellt § 476 BGB die Vermutung auf, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft war, es sei denn, diese Vermutung ist mit der Art der Sache oder des Mangels unvereinbar.

Damit besteht also eine widerlegliche gesetzliche (Rechts-)Vermutung: Zeigt sich bei einem Verbrauchsgüterkaufvertrag binnen der ersten sechs Monate nach Gefahrübergang ein Sachmangel, muss zwar der Käufer beweisen, dass ein Sachmangel besteht. Gelingt ihm aber dieser Beweis, greift die Regelvermutung des § 476 BGB, dass dieser Sachmangel bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorlag (st. Rspr. des BGH, vgl. nur BGH NJW 2014, 1086, 1087 - mit Verweis u.a. auf BGHZ 159, 215 ff.; 167, 40 ff.). Diese Regelvermutung greift jedenfalls bei Mängeln, die zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorhanden waren, auch wenn sie sich erst später zeigen („latente Mängel“).

Beispiel (in Anlehnung an R. Schmidt, Praxisratgeber Recht - Kaufrecht, 2015, S. 16, vgl. www.praxisratgeber-recht.de): Verbraucher K kauft bei Unternehmer V einen Gebrauchtwagen. Drei Monate nach der Übergabe bleibt der Wagen wegen eines Getriebeschadens liegen, obwohl das Getriebe zum Zeitpunkt der Übergabe keine Auffälligkeiten aufwies. In diesem Fall gilt: Kann (durch ein Gutachten) festgestellt werden, dass ein Mangel vorliegt, wird gem. § 476 BGB vermutet, dass der Getriebeschaden bereits bei der Übergabe „latent vorhanden“ bzw. „angelegt“ war. Kann V diese Vermutung nicht widerlegen, haftet er aus entsprechenden Mängelrechten.

Umstritten ist bzw. war die Frage, ob sich die gesetzliche Regelvermutung des § 476 BGB auch auf einen dem festgestellten Mangel vorgelagerten Grundmangel erstreckt. Unter „Grundmangel“ ist ein Mangel zu verstehen, der zwar zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorhanden war, der zu diesem Zeitpunkt aber noch keinerlei Auswirkungen auf die Gesamtsache zeigte. Diese zeigen sich erst später in Form eines Folgemangels.  

Dazu wiederum ein Beispiel (nach BGHZ 159, 215 ff. - Zahnriemen): Verbraucher K erwarb vom Gebrauchtwagenhändler V einen Pkw mit einer Laufleistung von 118.000 km zum Preis von 8.450,- €. Kurz vor der Übergabe hatte V den Zahnriemen (= Antriebsriemen, der die oben liegende Nockenwelle des Motors antreibt) gewechselt. Einige Monate nach der Übergabe erlitt der Motor bei einem Kilometerstand von 128.950 einen kapitalen Schaden, der durch den nicht ausreichend gespannten und damit über das Antriebsrad der Nockenwelle gesprungenen Zahnriemen verursacht wurde. Es ließ sich aber nicht klären, ob das Überspringen auf einen Materialfehler des Riemens bzw. Montagefehler des V oder auf einen Fahr- oder Bedienungsfehler des K zurückzuführen war. Daher kam es entscheidend auf § 476 BGB an.

Die Ausübung von Mängelrechten (Nacherfüllung, Minderung, Rücktritt, Schadensersatz, Aufwendungsersatz, vgl. § 437 BGB) setzt aber zunächst einen Mangel an der Sache voraus. Auf der Basis der (bisherigen) Rechtsprechung des BGH kommt als Mangel vorliegend jedenfalls ein Materialfehler des Riemens bzw. ein Montagefehler des V in Betracht. Der kapitale Motorschaden, der auf ein Überspringen des Riemens zurückzuführen ist, begründet dagegen möglicherweise keinen Mangel, weil der Zahnriemen erst einige Zeit nach Gefahrübergang übergesprungen war und insoweit noch kein Mangel bei Gefahrübergang vorlag. Denkbar wäre hier allenfalls die Annahme eines sog. Grundmangels. Wie oben ausgeführt, ist unter einem „Grundmangel“ ein Mangel zu verstehen, der zwar zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorhanden war (vorliegend ein Materialfehler des Riemens bzw. ein Montagefehler des V), aber zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Auswirkungen auf die Gesamtsache zeigte. Diese zeigen sich erst später in Form eines Folgemangels (vorliegend das Überspringen des Zahnriemens mit der Folge eines kapitalen Motorschadens). Da der Zahnriemen aber erst später (d.h. nach Gefahrübergang) übersprang, was den kapitalen Motorschaden herbeiführte, begründet dies (nach bisheriger Rechtsprechung des BGH) keinen Sachmangel. Als Mangel kommt daher lediglich ein Materialfehler des Riemens bzw. ein Montagefehler des V in Betracht.

Zwischenfazit: Grundmangel ist ein Mangel, der zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorliegt. Folgemangel ist ein Mangel, der noch nicht bei Gefahrübergang vorliegt, sondern erst später eintritt. Er begründet daher (jedenfalls nach bisheriger Rechtsprechung des BGH) keine Sachmängelrechte, sofern der Käufer nicht beweisen kann, dass der Folgemangel bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs "angelegt" war.

Da im obigen Beispiel der Motor zum Zeitpunkt der Übergabe keinen Defekt zeigte, scheidet insoweit ein Sachmangel, der Mängelrechte nach sich zieht, aus. Als Mangel kommt daher lediglich entweder ein Materialfehler am Riemen oder eine fehlerhafte Montage durch V in Betracht. Der BGH entschied (insoweit lediglich klarstellend), dass § 476 BGB lediglich den Zeitpunkt des Mangels erfasse; der Nachweis, dass ein Mangel vorliegt, sei Sache des Käufers. Den Nachweis, dass ein Materialfehler am Riemen oder eine fehlerhafte Montage durch V vorlag, vermochte K nicht zu erbringen. Daher war seine Klage abzuweisen. 

In der Literatur wurde diese Entscheidung kritisiert, da es einem Käufer regelmäßig nicht gelinge, einen solchen Beweis zu erbringen, und § 476 BGB in den sog. Grundmangel-Fällen praktisch leerlaufe (so etwa die Kritik von Lorenz, in: MüKo, § 476 Rn. 4). Die gesetzliche Vermutung in § 476 BGB beziehe sich auf den Mangel insgesamt, der bei Übergabe vorliege, und differenziere nicht zwischen Grundmängeln und Folgemängeln.

Zwischenfazit: Nach der BGH-Auffassung im Zahnriemenfall erfasst die gesetzliche Regelvermutung des § 476 BGB nur Grundmängel, nicht auch Folgemängel. Für deren Vorliegen zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs trägt also der Verbraucher die Beweislast.   

Die Frage, um die es damit letztlich geht, ist, ob Art. 5 III RL 1999/44/EG wirklich eng auszulegen ist. Würde man die Vorschrift nämlich weit auslegen, d.h. in die Regelvermutung auch Folgemängel und nicht nur Grundmängel einbeziehen, würde eine richtlinienkonforme Auslegung des § 476 BGB ein anderes Ergebnis erzwingen.

Mit dieser Frage hat sich der EuGH mit Urteil v. 4.6.2015 beschäftigt. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Fall EuGH 4.6.2015 – C 497/13: Eine Verbraucherin (Frau Faber) erwarb bei einem Autohaus in den Niederlanden (Autobedrijf Hazet Ochten BV) ein Gebrauchtfahrzeug. Fünf Monate nach Übergabe fing das Fahrzeug – ohne erkennbare Fremdeinwirkung – Feuer und brannte vollständig aus. Frau Faber machte einen technischen Mangel am Fahrzeug für den Brand verantwortlich und machte beim Autohaus Mängelrechte geltend. Da die Brandursache jedoch nicht ermittelt werden konnte, verweigerte das Autohaus sämtliche Begehren.

Lösung: Hätte der Fall in Deutschland stattgefunden, wäre § 476 BGB einschlägig gewesen. Auf der Basis der BGH-Rechtsprechung im Zahnriemenfall hätte die Käuferin den Beweis erbringen müssen, dass die Ursache für den Brand („Folgemangel“) in einem technischen Defekt des Wagens („Grundmangel“) lag. Da ihr dieser Beweis nicht gelang, hätten ihr (jedenfalls nach deutschem Recht) Mängelrechte nicht zur Verfügung gestanden.

Der EuGH hat jedoch abweichend entschieden: Art. 5 III RL 1999/44/EG sei dahingehend auszulegen, dass der Verbraucher zwar vortragen und den Beweis erbringen müsse, dass das verkaufte Gut nicht vertragsgemäß sei, da es z.B. nicht die im Kaufvertrag vereinbarten Eigenschaften aufweise oder sich nicht für den Gebrauch eigne, der von einem derartigen Gut gewöhnlich erwartet werde. Der Verbraucher müsse aber nur das Vorliegen der Vertragswidrigkeit beweisen. Er müsse weder den Grund für die Vertragswidrigkeit noch den Umstand beweisen, dass sie dem Verkäufer zuzurechnen sei (Rn. 70 der Entscheidung).

Darüber hinaus führt der EuGH aus, der Verbraucher müsse beweisen, dass die in Rede stehende Vertragswidrigkeit binnen sechs Monaten nach der Lieferung des Gutes offenbar geworden ist, also sich ihr Vorliegen tatsächlich herausgestellt hat (Rn. 71 der Entscheidung). Gelinge ihm dieser Beweis, müsse der Verkäufer nachweisen, dass der Grund oder Ursprung der Vertragswidrigkeit in einem Umstand liegt, der nach der Lieferung des Gutes eingetreten ist (Rn. 73 der Entscheidung).

Konsequenz: Daraus folgt (auch hinsichtlich der Auslegung des § 476 BGB): Nach der vom EuGH vorgenommenen Auslegung des Art. 5 III RL 1999/44/EG muss (nach wie vor) der Verbraucher das Vorliegen eines Mangels beweisen. Gelingt ihm dieser Beweis, ist es Sache des Verkäufers, den Beweis zu erbringen, dass weder der Mangel noch seine Ursache zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorlagen.

Da der EuGH Art. 5 III RL 1999/44/EG weit auslegt, ist damit auch § 476 BGB dahingehend richtlinienkonform auszulegen, dass der Verkäufer das Nichtvorliegen auch von Folgemängeln zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs beweisen muss. De facto wird er beweisen müssen, dass der Mangel erst nach Gefahrübergang eingetreten ist. Da ihm dies kaum gelingen dürfte, bedeutet das für den Verbraucher eine erhebliche Verbesserung seiner Rechtsstellung. Der BGH wird seine Rechtsprechung dahingehend ändern müssen, dass sich die Vermutungsregel in § 476 BGB auch auf Folgemängel erstreckt, also auf Mängel, die erst später auftreten, deren Ursache aber bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs bestand. Immerhin bleibt dem Verkäufer die Möglichkeit, die Vermutungsregel dadurch zu entkräften, dass er geltend macht, die Vermutung sei mit der Art der Sache oder des Mangels unvereinbar (§ 476 Halbs. 2 BGB).      

R. Schmidt (31.7.2015)

 


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