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Beiträge 2016


4.5.2016: Minderheitenrechte/Oppositionsrechte im Bundestag


BVerfG, Urt. v. 3.5.2016 – 2 BvE 4/14

Relevante Bereiche: Rechtsstaatsprinzip, Demokratieprinzip, Minderheitenrechte, Opposition, Organstreitverfahren

Leitsätze/Kernaussagen des BVerfG:

    Das Grundgesetz enthält einen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisierten allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition.
    Das Grundgesetz begründet jedoch weder explizit spezifische Oppositions(fraktions)rechte, noch lässt sich ein Gebot der Schaffung solcher Rechte aus dem Grundgesetz ableiten.
    Einer Einführung spezifischer Oppositions(fraktions)rechte steht zudem Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG entgegen.
    Einer Absenkung der grundgesetzlich vorgegebenen Quoren eines Drittels (Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG) oder Viertels (Art. 23 Abs. 1a Satz 2, Art. 44 Abs. 1 Satz 1, Art. 45a Abs. 2 Satz 2 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) der Mitglieder des Bundestages für die Ausübung parlamentarischer Minderheitenrechte steht die bewusste Entscheidung des Verfassungsgebers für die bestehenden Quoren entgegen.

Ausgangslage: Wie bei R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 77 ausgeführt, ist die Bundesrepublik Deutschland u.a. ein Rechtsstaat und demokratischer Bundesstaat (vgl. Art. 20 Abs. 1-3 GG, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG). Die Elemente der Demokratie sind vielfältig, treten bei ihrer Verwirklichung aber oft in Konkurrenz zueinander. Zunächst einmal ist in einer Demokratie das Volk der Souverän, d.h. der Inhaber der Staatsgewalt („Volkssouveränität“). Die Regierung wird nach dem Prinzip der freien, geheimen, allgemeinen und periodisch wiederkehrenden Wahl – direkt oder indirekt – vom Volk für eine bestimmte Zeit gewählt („Volkswahl“). Dabei wird die Regierung bei der Ausübung ihrer anvertrauten Macht durch das Volk oder von ihm befugte Organe kontrolliert. Alle Handlungen des Staates müssen mit der Mehrheit des Volkswillens („Mehrheitsprinzip“) sowie mit der Verfassung und den Gesetzen („Rechtsstaatsprinzip“) übereinstimmen. Der Staat hat die Grundrechte des Einzelnen zu achten und zu schützen („Menschen- und Bürgerrechte“). Des Weiteren ist für eine Demokratie kennzeichnend, dass eine (horizontale) Gewaltenteilung (Aufteilung der Staatsgewalt in Legislative, Exekutive und Judikative) besteht. Die Gewaltenteilung führt zu einer gegenseitigen Kontrolle und Hemmung der Staatsgewalt (checks and balances). Dadurch wird einer Machtkonzentration und einem Machtmissbrauch vorgebeugt.

Es ist ebenso unstreitig wie selbstverständlich, dass zu einer Demokratie nicht nur die Meinungs- und Organisationsvielfalt und vom Staat unabhängige Organe der öffentlichen Meinung (Presse und Rundfunk) gehören, sondern auch das Vorhandensein einer wirksamen parlamentarischen Opposition als Gegenpol der Regierung gehört (R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 78).

Wirksam ist eine parlamentarische Opposition nur dann, wenn ihr auch die parlamentarischen Rechte zustehen, die sie benötigt, um eine effektive Kontrolle der Regierung überhaupt ausüben zu können. Kann die Opposition also bestimmte Rechte nicht aus­üben, weil ihr die für die Ausübung von Oppositionsrechten erforderliche Mehrheit fehlt, ist eine effektive Kontrolle nicht oder nur stark eingeschränkt möglich (R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 78).

Beispiele (R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 78): Die abstrakte Normenkontrolle eignet sich hervorragend, eine Rechtmäßigkeitskontrolle bzgl. von der Bundestagsmehrheit beschlossener Gesetze herbeizuführen. Um bei einer abstrakten Normenkontrolle aber antragsberechtigt zu sein, muss der Antragsteller ein Viertel der Mitglieder des Bundestags umfassen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; einfachgesetzlich wiederholt in § 76 Abs. 1 BVerfGG), was hinsichtlich der Opposition im gegenwärtigen 18. Deutschen Bundestag nicht der Fall ist (der gegenwärtige 18. Deutsche Bundestag besteht aus insgesamt 630 Abgeordneten. Darunter fallen 254 Sitze auf die CDU, 56 auf die CSU, 193 auf die SPD, 64 auf DIE LINKE und 63 auf Bündnis 90/DIE GRÜNEN. Infolge der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD beträgt die Zahl der Sitze der beiden Oppositionsfraktionen lediglich 127. Das ist weniger als ein Viertel von 630). Ähnlich verhält es sich mit dem Recht der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Gemäß Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG (einfachgesetzlich wiederholt in § 1 Abs. 1 PUAG) ist auch hier ein Viertel der Mitglieder des Bundestags erforderlich, damit der Bundestag den Untersuchungsausschuss einsetzen muss (siehe dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Aufl. 2016, Rn. 486). Weitere Beispiele von Quoren, die das Grundgesetz für die Ausübung von parlamentarischen Minderheitenrechten vorsieht, sind Art. 23 Abs. 1a S. 2 GG, Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG und 45a Abs. 2 S. 2 GG.

Derartige Beschneidungen oppositioneller Rechte, die mit der Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit des Parlaments begründet werden (nicht jede Splitterpartei soll Anträge stellen und Verfahren einleiten können), sind verfassungsrechtlich problematisch, da eine wirksame Opposition ein konstitutives Merkmal einer Demokratie dar­stellt und die oppositionellen Rechte auch Oppositionen zustehen müssen, die weniger als ein Viertel der Mitglieder umfassen. Eine teleologische Auslegung der genannten Verfassungsbestimmungen entgegen dem jeweils klaren und damit nicht interpretationsfähigen Wortlaut ist nicht möglich. Damit bliebe also lediglich eine Änderung der genannten grundgesetzlichen Bestimmungen, die wegen Art. 79 Abs. 2 GG gerade wegen der Großen Koalition zwar beste Chancen hätte, aber eher nicht zu erwarten ist, da eine Mehrheit kaum ein Interesse daran haben dürfte, Minderheitenrechte aus­zuweiten. Eine bloße Erweiterung von Minderheitenrechten in der Geschäftsordnung, wonach sich der Bundestag auf Antrag von 120 Abgeordneten zur Ergreifung bestimmter Maßnahmen verpflichtet (vgl. § 126a GO BT, der für die 18. Legislaturperiode gilt, vgl. Geschäftsordnung v. 23.4.2014, BGBl I S. 534), kann allenfalls als „Schritt in die richtige Richtung“ gewertet werden, aber weder eine formalgesetzlich noch eine verfassungsrechtlich gebotene Verankerung von Minderheitenrechten ersetzen (R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 78). Demgegenüber wären eine Änderung des § 76 Abs. 1 BVerfGG bzw. eine Erweiterung der Minderheitenrechte im PUAG ein wirklicher Anfang. Der hierzu von der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN in den Bundestag eingebrachte Gesetzentwurf (BT-Drs. 18/184) wurde (in wenig überraschender Weise) abgelehnt, was zu einem Organstreitverfahren (2 BvE 4/14) vor dem BVerfG führte. Das BVerfG wies den Antrag als unbegründet ab. Zwar betont das BVerfG den im Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und 3 GG, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG wurzelnden verfassungsrechtlichen Schutz der Opposition (BVerfG 3.5.2016 – 2 BvE 4/14 Rn. 86 mit Verweis auf BVerfGE 2, 1, 13; 44, 308, 321; 70, 324, 363) sowie das im Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG ver­ankerte Recht „auf organisierte politische Opposition“ (BVerfG 3.5.2016 – 2 BvE 4/14 Rn. 87 mit Verweis auf BVerfGE 123, 267, 367), die jeweils wirksam ausgestaltet sein müssten (BVerfG 3.5.2016 – 2 BvE 4/14 Rn. 90), allerdings stellt sich das BVerfG – in seiner einstimmig ergangenen Entscheidung – auch auf den Standpunkt, dass weder das Grundgesetz explizit spezifische Oppositions(fraktions)rechte begründe, noch sich aus ihm ein Gebot der Schaffung solcher Rechte ableiten lasse (BVerfG 3.5.2016 – 2 BvE 4/14 Rn. 91 ff.). Im Gegenteil stehe Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG einer Einführung spezifischer Oppositions(fraktions)rechte entgegen (BVerfG 3.5.2016 – 2 BvE 4/14 Rn 95 ff.). Der Möglichkeit einer Verfassungsänderung in Form einer Absenkung der grundgesetzlich vorgegebenen Quoren eines Drittels (Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG) oder Viertels (Art. 23 Abs. 1a S. 2, Art. 44 Abs. 1 S. 1, Art. 45a Abs. 2 S. 2 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) der Mitglieder des Bundestags für die Ausübung parlamentarischer Minderheitenrechte begegnet das BVerfG mit dem Argument, dem stehe die bewusste Entscheidung des Verfassungsgebers für die bestehenden Quoren entgegen (BVerfG 3.5.2016 – 2 BvE 4/14 Rn 114 ff.).

Stellungnahme: Dass eine Entscheidung des Verfassungsgebers bewusst getroffen wurde, kann kein Argument gegen eine Verfassungsänderung sein. Denn daraus könnte man ja den Schluss ziehen, dass Verfassungsänderungen nur insoweit möglich wären, als der Verfassungsgeber die zu ändernde Verfassungsbestimmung unbewusst getroffen hätte. Es muss allein danach gefragt werden, ob eine Verfassungsänderung nach den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen notwendig erscheint. Im vorliegenden Zusammenhang geht es also darum, ob die im Grundgesetz genannten Quoren (noch) den Anforderungen genügen, die das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip an den Minderheitenschutz und an eine wirksame par­lamentarische Opposition stellen. Mögen die im Grundgesetz genannten Quoren unter Berücksichtigung der früheren politischen Mehrheitsverhältnisse ausgereicht haben, um der Opposition wirksame Instrumente an die Hand zu geben, dürfte dies mit Blick auf die zugenommene (und möglicherweise weiter zunehmende) Diversität im politischen Meinungsspektrum und der damit einhergehenden Notwendigkeit der Bildung Großer Koalitionen einerseits, aber auch einer Stärkung von Minderheitenrechten (Oppositions(fraktion)rechten) andererseits zweifelhaft geworden sein. Da – wie aufzeigt – zur Verfassungsänderung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist (dem verfassungsändernden Gesetz müssen gem. Art. 79 Abs. 2 GG zwei Drittel der Mitglieder des Bundestags und zwei Drittel der Stimmen des Bundesrats zustimmen) und von der Großen Koalition eine Ausweitung von Minderheitenrechten kaum zu erwarten sein dürfte, wäre es nach der hier vertretenen Meinung durchaus geboten (gewesen), die Absenkung der ver­fassungsrechtlichen Quoren zu fordern, um in einer politisch vielfältig gewordenen Gesellschaft Minderheitenrechte zu stärken und der Opposition eine wirksame Kontrollfunktion zu ermöglichen.     

Rolf Schmidt (4.5.2016)

 


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