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Beiträge 2016


17.12.2016: Unvereinbarkeit der Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente mit der Warenverkehrsfreiheit gem. Art. 34 AEUV


EuGH, Urt. v. 19.10.2016 – C-148/15 (NVwZ 2016, 1793)

Mit Urteil vom 19.10.2016 (C-148/15) hat der EuGH über die Auslegung der Art. 34, 36 AEUV wegen der Festsetzung einheitlicher Apothekenabgabepreise für verschreibungspflichtige Humanarzneimittel im deutschen Recht entschieden.

Kernaussagen der Entscheidung:

    Art. 34 AEUV ist dahingehend auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die vorsieht, dass für verschreibungspflichtige Humanarzneimittel einheitliche Apothekenabgabepreise festgesetzt werden, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne dieses Artikels darstellt, da sie sich auf die Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel durch in anderen Mitgliedstaaten ansässige Apotheken stärker auswirkt als auf die Abgabe solcher Arzneimittel durch im Inland ansässige Apotheken (Rn. 27 der Entscheidung).

    Art. 36 AEUV ist des Weiteren dahingehend auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die vorsieht, dass für verschreibungspflichtige Humanarzneimittel einheitliche Apothekenabgabepreise festgesetzt werden, nicht mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen im Sinne dieses Artikels gerechtfertigt werden kann, da sie nicht geeignet ist, die angestrebten Ziele zu erreichen (Rn. 46 der Entscheidung).

Ausgangslage: Die Europäische Union besitzt trotz fehlender Staatsqualität eine umfassende Rechtspersönlichkeit (vgl. Art. 1 III, 47 EUV). Verstößt ein Mitgliedstaat gegen zwingendes EU-Recht, greift der sog. Anwendungsvorrang. Anwendungsvorrang bedeutet, dass das mit höherrangigem Recht kollidierende niederrangige Recht zwar nicht ungültig ist, allerdings in seiner Anwendung gesperrt wird (siehe dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl. 2016, Rn. 355 ff.). Zum EU-Recht, das im Kollisionsfall Anwendungsvorrang genießt, gehört in erster Linie das primäre Unionsrecht. Zum primären Unionsrecht gehören im Wesentlichen die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft sowie die Änderungsverträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon, die die Grundlage der heutigen Europäischen Union bilden. Die Bestimmungen des primären Unionsrechts begründen, soweit sie an natürliche und juristische Personen adressiert sind, unmittelbar geltende Rechte und Pflichten. Dies gilt insbesondere für die Grundfreiheiten, die als grundrechtsähnliche Rechte bezeichnet werden können und die der Verwirklichung der in Art. 3 EUV genannten Ziele der EU durch Errichtung eines gemeinsamen Binnenmarktes dienen (vgl. Art. 3 III S. 1 EUV und Art. 26 f. AEUV – dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl. 2016, Rn. 341a). Der Binnenmarkt wiederum umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist (Art. 26 II AEUV). Damit sind auch schon die sog. Grundfreiheiten angesprochen. Die Grundfreiheiten gewähren jedem Unionsbürger das Recht, die in den Primärverträgen und den Durchführungsbestimmungen gewährten Tätigkeiten auszuüben. Zu den Grundfreiheiten gehören:

    Freier Personenverkehr (Art. 21 AEUV mit den Unterarten Arbeitnehmerfreizügigkeit gem. Art. 45 ff. AEUV und Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49 ff. AEUV) – Grundfreiheit Nr. 1

    Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. AEUV) – Grundfreiheit Nr. 2

    Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) – Grundfreiheit Nr. 3

    Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV) – Grundfreiheit Nr. 4

Die für den Binnenmarkt wohl bedeutendste Grundfreiheit mit den Arten Zollunion (Art. 28 AEUV), Verbot von Ein- und Ausfuhrzöllen sowie Abgaben gleicher Wirkung (Art. 30 AEUV) und Verbot mengenmäßiger Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung (Art. 34, 35 AEUV) stellt indes die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. AEUV) dar (R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl. 2016, Rn. 342). Art. 34, 35 AEUV schützen also vor mengenmäßiger Beschränkung der Ein- und Ausfuhr von Waren (Handelsbeschränkung) sowie vor allen Maßnahmen gleicher Wirkung. Unter „Waren“ sind alle (beweglichen) körperlichen und unkörperlichen Gegenstände zu verstehen, die einen Geld­wert haben und Gegenstand eines Handelsgeschäfts sein können (siehe EuGH Slg. 1968, 633, 642 - Kunstschätze; Slg. 1994, I-1477, 1478 ff. – Almelo), also typische Handelsgüter wie bspw. Lebens- und Genussmittel, Arzneimittel (EuGH NVwZ 2016, 1793 ff. – Doc Morris; dazu sogleich), Konsumgüter, Fahr­zeuge, Maschinen etc., aber auch Öl, Benzin, Gas und elektrische Energie (EuGH Slg. 1994, I-1477, 1478 ff. – Almelo). Freilich sind ein grenzüberschreitender und zugleich unionsrechtlicher Bezug er­forderlich: Die Ware muss entweder aus einem Mitgliedstaat stammen oder aus einem Drittstaat stammen und sich gem. Art. 29 AEUV in einem Mitgliedstaat im freien Verkehr befinden (vgl. Art. 28 II AEUV – dazu EuGH Slg. 1993, I-6097 ff. – Keck).

Ein Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit liegt in jeder von staatlicher Seite ausgehenden

    mengenmäßigen Beschränkung der Ein- und Ausfuhr von Waren (Handelsbeschränkung)

    sowie jeder staatlichen Maß­nahme gleicher Wirkung (Art. 34, 35 AEUV)

Unter einer „Maßnahme gleicher Wirkung“ versteht der EuGH jede Maßnahme eines Mitgliedstaats, die geeignet sei, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (vgl. etwa EuGH NJW 2016, 621, 623 – Mindestpreise für alkoholische Getränke).

Eine Maßnahme, die als Eingriff zu werten ist (Handelsbeschränkung oder Maßnahme gleicher Wirkung), muss auch unionsrechtlich gerechtfertigt sein. Den Prüfungsmaßstab gibt Art. 36 S. 1 AEUV vor, indem er Handelsbeschränkungen oder Maßnahmen gleicher Wirkung (nur) zulässt, wenn sie aus Gründen

    der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit,

    zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen,

    des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert

    oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums

gerechtfertigt sind (Art. 36 S. 1 AEUV). Handelsbeschränkungen (bzw. -verbote) dür­fen jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen (Art. 36 S. 2 AEUV). Sind diese Anforderungen beachtet, verstoßen handelsbeschränkende Maßnahmen nicht gegen die Warenverkehrsfreiheit.

In der hier zu besprechenden Entscheidung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit geht es um die Frage nach der Vereinbarkeit einer nationalen Festsetzung von einheitlichen Abgabepreisen für ver­schreibungspflichtige Medikamente mit der Warenverkehrsfreiheit.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: In der Bundesrepublik Deutschland gilt gemäß den Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes i.V.m. der Arzneimittelpreisverordnung (beides Bundesrecht) eine Preisbindung für verschreibungspflichtige (d.h. rezeptpflichtige) Arzneimittel. Das bedeutet, dass jedes verschreibungspflichtige Arzneimittel überall in Deutschland nur zu demselben Preis abgegeben werden darf, gleichgültig, ob die Abgabe stationär oder im Versandhandel erfolgt. Dieser einheitliche Abgabepreis für verschreibungspflichtige Medikamente dient nach Auffassung des Gesetzgebers dem Schutz der Verbraucher und sichert eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung sowohl in Städten als auch in ländlichen Regionen. D betreibt eine Versandapotheke mit Sitz in den Niederlanden und versendet auch nach Deutschland nach deutschem Recht verschreibungspflichtige und damit preisgebundene Medikamente, versieht seinen Versandhandel aber mit einem Bonussystem, sodass indirekt Rabatte auch für verschreibungspflichtige Medikamente gewährt werden. Wegen Verstoßes gegen die gesetzliche Preisbindung und damit wegen Wettbewerbsverstoßes wurde D von einem Verein zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs abgemahnt und zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung aufgefordert, was D jedoch ablehnte. Es kam daher zu einem gerichtlichen Verfahren, bei dem das Gericht dem EuGH die Frage nach der Vereinbarkeit der deutschen Preisbindung mit EU-Recht stellte (Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV).

Die Entscheidung: Der EuGH stellt zunächst fest, dass die Festlegung einheitlicher Abgabepreise, wie sie in der deutschen Arzneimittelpreisverordnung vorgesehen ist, sich auf in anderen Mit­gliedstaaten der EU ansässige Apotheken stärker auswirke als auf im deutschen Hoheitsgebiet ansässige Apotheken. Dadurch könne der Marktzugang für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten, die unterhalb der für den Verkauf in Deutschland festgelegten Preise angeboten werden, stärker behindert werden als für inländische Erzeugnisse. Daher stelle die gesetzliche Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung dar, die daher einer Rechtfertigung bedürfe (EuGH NVwZ 2016, 1793, 1794). Als möglichen Rechtfertigungsgrund prüft der EuGH sodann den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen (siehe Art. 36 S. 1 AEUV). Zwar er­kennt der EuGH an, dass feste Preise für verschreibungspflichtige Medikamente eine bessere geografische Verteilung der Apotheken er­möglichten und damit einer flächendeckenden Medikamentenversorgung der Bevölkerung dienten, was dem Schutz der Gesundheit und des Lebens zugutekomme (EuGH NVwZ 2016, 1793, 1795). Allerdings vermochte der EuGH nicht festzustellen, dass durch vergünstigte Abgabepreise eine flächendeckende Medi­kamentenversorgung der Bevölkerung und damit der Schutz der Gesundheit und des Lebens tatsächlich gefährdet seien. Dem EuGH vorgelegte Dokumente ließen auch den Schluss zu, dass sich Apotheken in geringer versorgten Gebieten ansiedelten. Ohne Preisbindung könnten sie dort aufgrund ge­ringerer Konkurrenz sogar höhere Preise verlangen. Auch die wichtige Notfallversorgung sei nicht in Gefahr, wenn die Preisbindung entfalle. Art. 36 AEUV sei daher da­hingehend auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die vorsehe, dass für ver­schreibungspflichtige Human­arzneimittel ein­heitliche Apothekenabgabepreise festgesetzt werden, nicht mit dem Schutz der Ge­sundheit und des Lebens von Menschen i.S.d. Art. 36 S. 1 AEUV gerechtfertigt werden könne, da sie nicht geeignet sei, die angestrebten Ziele zu erreichen (EuGH NVwZ 2016, 1793, 1796).

Stellungnahme: Dem Urteil ist beizupflichten. Können die Voraussetzungen eines zur Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit geeigneten Rechtfertigungsgrundes nicht festgestellt werden, ist eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit unionsrechtswidrig. Die Preisbindung nach der Arzneimittelpreisverordnung ist daher wegen Ver­stoßes gegen Art. 34 AEUV nicht anwendbar (zur Unanwendbarkeit unionsrechtswidriger Akte siehe R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl. 2016, Rn. 355 ff.). Jedoch ist zu beachten, dass die Unanwendbarkeit der Preis­bindung nur Marktteilnehmer anderer EU-Staaten betrifft, die verschreibungspflichtige Medikamente nach Deutschland versenden oder direkt in Deutschland ver­kaufen. Für deutsche stationäre Apotheken und Online-Apotheken hat das EuGH-Urteil keine (un­mittelbaren) Auswirkungen, sodass für diese die Preisbindung nach der Arzneimittelpreisverordnung bestehen bleibt. Das führt zwar zu einer Beeinträchtigung des Art. 12 I GG und zu einer Ungleichbehandlung i.S.d. Art. 3 I GG, nicht je­doch zu einer Verletzung dieser Grundrechte, da die Grundfreiheiten die nationalen Gesetzgeber nicht zwingen, ihren Bürgern ein Schutzniveau zu gewähren, das dem der Grundfreiheiten entspricht, die lediglich die Ausübung der jeweils gewährten grenzüberschreitenden Tätigkeiten bzw. Tätigkeiten in einem anderen EU-Staat schützen. Auch der EuGH geht davon aus, dass die Grundfreiheiten eine Inländerdiskriminierung nicht ausschließen (vgl. EuGH Slg. 1994, I-2715). Hält der deutsche Gesetzgeber also an der Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente fest, manifestiert er den Wettbewerbsnachteil für deut­sche stationäre Apotheken und Online-Apotheken. Ein Verbot des Online-Versands verschreibungspflichtiger Medikamente, das dem Wettbewerbsnachteil begegnen könnte, erscheint jedenfalls vor dem Hintergrund der Art. 12 I, 14 I GG, Art. 16 GRC nicht gangbar (siehe auch Ludwigs, NVwZ 2016, 1796, 1797 f.) und dürfte der Warenverkehrsfreiheit ebenfalls zu­widerlaufen. 

Weiterführender Hinweis: Mit der vom EuGH angeführten Argumentation, dass mit der Abgabe von Medikamenten unterhalb des gesetzlich festgelegten Einheitspreises das Anliegen der Preisbindung, die Sicherstellung einer flächen­deckenden Versorgung mit (verschreibungspflichtigen) Medikamenten und damit der Schutz von Gesundheit und Leben der Menschen, nach gegenwärtiger Lage nicht gefährdet sei und daher die Warenverkehrsfreiheit nicht eingeschränkt werden dürfe, lässt sich auch die gesetzliche Buchpreisbindung nicht halten. Man wird diese sogar erst recht als mit Art. 34 AEUV unvereinbar ansehen müssen, wiegen die mit der gesetzlichen Buchpreisbindung verfolgten Zwecke (Schutz des „Kulturguts Buch“; Ge­währleistung einer flächen­deckenden Versorgung der Bevölkerung mit Büchern) doch weitaus geringer als der Schutz der Gesundheit und des Lebens, zumal eine Gefährdung des Zwecks der Buch­preisbindung durch einen nicht preisgebundenen Verkauf ebenso wenig sicher ist.     

R. Schmidt (17.12.2016)

 


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