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21.6.2016: Verfassungsbeschwerden und Organstreitverfahren gegen das OMT-Programm der EZB erfolglos


BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13, 2 BvR 2729/13, 2 BvR 2730/13, 2 BvR 2731/13, 2 BvE 13/13 (Pressemitteilung BVerfG v. 21.6.2016)

Relevante Bereiche: Rechtsstaatsprinzip, Demokratieprinzip, Anwendungsvorrang EU-Recht, Ultra-vires-Akt (Kompetenzüberschreitung), Identitätskontrolle

Leitsätze/Kernaussagen des BVerfG:

    Das Unterlassen von Bundesregierung und Bundestag in Ansehung des Grundsatzbeschlusses der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über das OMT-Programm, geeignete Maßnahmen zu dessen Aufhebung oder Begrenzung zu ergreifen, verletzt die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG, wenn die vom Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 16. Juni 2015 (C-62/14) formulierten, die Reichweite des OMT-Programms begrenzenden Maßgaben eingehalten werden.
    Unter diesen Voraussetzungen beeinträchtigt das OMT-Programm gegenwärtig auch nicht die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages.
    Der Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm bewegt sich in der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung nicht „offensichtlich“ außerhalb der der Europäischen Zentralbank zugewiesenen Kompetenzen. Zudem birgt das OMT-Programm in der durch den Gerichtshof vorgenommenen Auslegung kein verfassungsrechtlich relevantes Risiko für das Budgetrecht des Deutschen Bundestages.

Ausgangslage: Wie bei R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 327 ausgeführt, wirkt gem. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union „zur Verwirklichung eines vereinten Europas“ mit. Diese Staatszielbestimmung, die schon in der Präambel des Grundgesetzes niedergelegt ist („gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“), bringt nicht nur die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes zum Ausdruck, sondern richtet sich auch auf eine fortschreitende Integration der Staaten Europas.

Jedoch ist zu beachten, dass der Europäischen Union keine Staatsqualität zukommt. Denn ihr fehlen konstitutive Merkmale eines Staates, insbesondere die Befugnis, sich selbstständig neue Kompetenzen zu geben. Auch (und gerade) der Vertrag von Lissabon hat nichts daran geändert. Vielmehr wird die Union durch den Unionsvertrag (lediglich) als „neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ bezeichnet (Art. 1 Abs. 2 EUV). Das BVerfG hat bereits in seinem Maastricht-Urteil vom 12.10.1993 hierfür den Begriff des „Staatenverbundes“ geprägt, der von den Mitgliedern getragen werde und deren nationale Identität achte (BVerfGE 89, 155, 188). Vgl. R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 337.

Folgerichtig werden die Aufgaben der Europäischen Union ausschließlich durch den Unionsvertrag (EUV) normiert, der – wie der AEU-Vertrag (Art. 2 AEUV) – dem Prinzip der begrenzten Handlungsermächtigung (Einzelermächtigung) folgt (Art. 5 EUV). Der Union kommt also trotz der „Flexibilitätsklausel" (Art. 352 AEUV) keine „Kompetenz-Kompetenz“ zu, d.h. nicht die für die Annahme einer Staatsqualität erforderliche Befugnis, sich selbstständig neue Kompetenzen zu geben (dies ist der Unterschied zum verfassten Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland). Die Europäische Union kann ihre Aufgaben und Zuständigkeiten nicht selbst ausweiten, sondern nur solche in Anspruch nehmen, die ihr durch Vertragsergänzungen oder -änderungen eingeräumt worden sind („enumerative Handlungsermächtigung“, vgl. dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 338).

Unbeschadet der nicht gegebenen Staatsqualität besitzt die Europäische Union aber eine umfassende Rechtspersönlichkeit (vgl. Art. 1 Abs. 3, 47 EUV) und sie verfügt dementsprechend über Organe (u.a. Parlament, Rat, Kommission, aber auch Europäische Zentralbank und EuGH). Hinsichtlich des EuGH legt Art. 19 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Abs. 3 EUV die Befugnisse fest.

Von immenser theoretischer und praktischer Bedeutung ist das Rangverhältnis zwischen dem EU-Recht und dem nationalen Recht einschließlich des nationalen Verfassungsrechts.

Da weder in den Verträgen noch im Grundgesetz eine explizite Kollisionsregel vorhanden ist, stellt sich die Frage, welchem Rechtskreis bei einer Kollision der Vorrang gebührt. Widerspricht eine Vorschrift des nationalen Rechts trotz Bemühung, sie unionsrechtskonform auszulegen, dem EU-Recht (primäres Unionsrecht, aber auch sekundäres Unionsrecht wie Verordnung, Richtlinie), geht die ganz herrschende Meinung von einem Anwendungsvorrang des EU-Rechts aus (vgl. R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 355 mit Verweis auf EuGH NVwZ 2000, 497 ff.; BVerfGE 121, 1, 15 ff.; 126, 286, 302; BVerfG NJW 2010, 833, 835; NJW 2001, 1267; NJW 2016, 1149, 1150; BVerwG NVwZ 2000, 1039; Safferling, NStZ 2014, 545 ff.; F. Kirchhof, NVwZ 2014, 1537, 1538). Anwendungsvorrang bedeutet, dass das mit höherrangigem Recht kollidierende niederrangige Recht zwar nicht ungültig ist, allerdings in seiner Anwendung gesperrt wird (R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 355). Das Prinzip des Anwendungsvorrangs ist unmittelbare Folge der Gründungsverträge, der Verträge von Maastricht (EUV), Amsterdam, Nizza und Lissabon („Änderungsverträge“) sowie des sich aus diesen Verträgen ergebenden Prinzips der Sicherung und Funktionsfähigkeit der Union (Effet-utile-Prinzip), das beeinträchtigt würde, wenn nationale Bestimmungen im Kollisionsfalle dem Europäischen Recht vorgingen (R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 355).

Der Anwendungsvorrang greift auch dann, wenn dem Unionsrecht nicht nationales einfaches Recht, sondern Verfassungsrecht entgegensteht. Das betrifft im Kern die Kollision des EU-Rechts mit den Grundrechten des Grundgesetzes. Der EuGH geht seit der Costa/Enel-Entscheidung (EuGH Slg. 1964, 1251 ff.; vgl. auch EuGH Slg. 1970, 1125 ff. (Internationale Handelsgesellschaft), aufgegriffen in EuGH NJW 2013, 1215 ff. (Melloni)) vom Anwendungsvorrang des EU-Rechts vor jeglichem nationalen Recht (also auch vor nationalem Verfassungsrecht) aus und beansprucht gleichzeitig für sich eine ausschließliche Prüfungskompetenz (am Maßstab des EU-Primärrechts).

Auch das BVerfG erkennt den diesbezüglichen Anwendungsvorrang des EU-Rechts im Grundsatz an, begründet ihn aber nicht mit den Gründungsverträgen, sondern zum einen mit dem Anwendungsbefehl, der aus den Zustimmungsgesetzen zu den Verträgen folgt (vgl. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG), und zum anderen mit der Integrationsermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG a.F. bzw. des Art. 23 Abs. 1 GG i.d.F. von 1992 (R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Auflage 2016, Rn. 355 mit Verweis auf BVerfGE 89, 155 ff. (Maastricht); bestätigt in BVerfGE 102, 147 ff. (Bananenmarktordnung), BVerfGE 126, 286, 302 (Honeywell bzw. Mangold) und BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 (Identitätskontrolle)).

Das ist konsequent. Denn gibt ein Staat – verfassungsrechtlich legitimiert  – durch völkerrechtliche Verträge Hoheitsrechte an eine völkerrechtliche Institution ab und macht diese von den ihr übertragenen Hoheitsbefugnissen Gebrauch, ist der Staat daran gebunden, solange die Institution den ihr gesteckten Rahmen nicht verlässt.

Folgerichtig betont das BVerfG die Grenzen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts, die in den durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG für unveränderbar und integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung bestünden (vgl. BVerfGE 126, 286, 302 mit Bezugnahme auf BVerfGE 75, 223, 235 ff.; 113, 273, 296; 123, 267, 353 f.; vgl. auch BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 f. – Identitätskontrolle). Das sind namentlich die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze. Sollte also durch eine Maßnahme der EU ein durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärter Grundsatz aus Art. 1 GG oder Art. 20 GG berührt werden, muss folgerichtig umgekehrt das betreffende EU-Recht für unanwendbar erklärt werden, was nach der Rechtsprechung des BVerfG verfahrensrechtlich mittels Identitätskontrolle des BVerfG (Prüfung der Wahrung der verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland) geschieht (BVerfG NJW 2016, 1149, 1151).

Aber auch wenn Organe der EU ersichtlich (d.h. qualifiziert) die ihnen eingeräumten Handlungsbefugnisse überschreiten („Kompetenzüberschreitung“), sind vom Standpunkt des BVerfG aus daraus hervorgegangene Rechtsakte („Ultra-vires-Akte“) für deutsche Stellen nicht verbindlich. Für solche Rechtsakte könne dann kein Anwendungsvorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem (Verfassungs-)Recht bestehen, sodass Prüfungsmaßstab der fraglichen nationalen Norm, die aufgrund von sekundärem EU-Recht ergeht, wieder das Grundgesetz sei. In diesem Fall entscheide dann wieder das BVerfG im Rahmen einer „Ultra-vires-Kontrolle“ (BVerfGE 126, 286, 302 - Honeywell bzw. Mangold).

Der hier besprochenen Entscheidung des BVerfG lag folgende Konstellation zugrunde: Mehrere Verfassungsbeschwerden und ein Organstreitverfahren richteten sich gegen zwei am 6.9.2012 vom Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) beschlossene Programme zum Ankauf von börsengängigen Schuldtiteln durch das Europäische System der Zentralbanken („ESZB“), insbesondere Staatsanleihen von Mitgliedstaaten der Eurozone („OMT-Programm“ - Outright Monetary Transactions). Nach diesem Programm kann die EZB unbegrenzt Anleihen von „Krisenstaaten“ im EU-Währungsgebiet aufkaufen, um die Finanzstabilität des EU-Raums zu stützen, vgl. R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 16. Aufl. 2016, Rn 353c.

Dies könnte eine schwerwiegende und strukturell bedeutsame Überschreitung der der EU einge­räumten Hoheitsrechte auf dem Gebiet des Haushaltsrechts bedeuten und einen Verstoß gegen die Integrationsschranke des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 GG zur Folge haben. Da das BVerfG es in einer früheren Entscheidung aber auch für mög­lich hielt, durch eine einschränkende Auslegung des OMT-Be­schlusses im Lichte der Verträge zu einer Konformität mit dem Primärrecht zu gelangen, hatte es das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zur Entscheidung über die Frage nach der EU-Konformität vorgelegt (vgl. den Vorlagebeschluss des BVerfG NJW 2014, 907 ff.). Der EuGH hat die Vereinbarkeit mit EU-Primärrecht (d.h. mit Art. 127 und 123 AEUV) festgestellt. Das OMT-Programm gehöre in Anbetracht seiner Ziele und der zu ihrer Erreichung vorgesehenen Mittel zum Bereich der Währungspolitik und falle damit unter die Befugnisse des ESZB (EuGH NVwZ 2015, 1033 ff. – vgl. dazu etwa Ohler, NVwZ 2015, 1001 ff.). Ob sich das BVerfG dieser Rechtsauffassung anschließen wird oder es (wegen Überschreitung der gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Schutzgüter des Art. 20 GG – hier v.a. des Demokratieprinzips) eine Unvereinbarkeit des OMT-Beschlusses der EZB mit dem Grundgesetz feststellen würde, war mit Spannung erwartet worden (vgl. den Aktuelles-Beitrag des Verfassers v. 6.5.2016).

Das BVerfG hat heute geurteilt, dass die Entscheidung des EuGH, der Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm sei kompetenzgemäß und verstoße nicht gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, mit Blick auf

    die Erhebung des Sachverhalts,
    das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung
    und die gerichtliche Kontrolle der Europäischen Zentralbank bei der Bestimmung ihres Mandates

zwar erheblichen Bedenken ausgesetzt sei, sie sich aber noch innerhalb des dem EuGH von den Primärverträgen erteilten Mandates (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV) bewegt habe und daher im Ergebnis nicht zu beanstanden sei.

Seine o.g. Bedenken begründet das BVerfG im Wesentlichen wie folgt:

Die Bedenken hinsichtlich der Erhebung des Sachverhalts stützt das BVerfG auf den Umstand, dass der EuGH die Behauptung einer geldpolitischen Zielsetzung des OMT-Programms hinnehme, ohne die zugrunde liegenden tatsächlichen Annahmen zu hinterfragen oder zumindest im Einzelnen nachzuvollziehen und ohne diese Annahmen mit den Indizien in Beziehung zu setzen, die offensichtlich gegen einen geldpolitischen Charakter sprächen.

Auch sei der Umstand bedenklich, dass der EuGH für die kompetenzmäßige Zuordnung des OMT-Programms zur Währungspolitik trotz der von ihm selbst angenommenen Überschneidungen von Wirtschafts- und Währungspolitik im Wesentlichen auf die von dem zu kontrollierenden Organ angegebene Zielsetzung der Maßnahme und den Rückgriff auf das in Art. 18 ESZB-Satzung vorgesehene Instrument des Ankaufs von Staatsanleihen abstelle.

Schließlich beanstandet das BVerfG, das von ihm dem EuGH unterbreitete Problem, dass die der EZB eingeräumte Unabhängigkeit zu einer spürbaren Senkung des demokratischen Legitimationsniveaus ihres Handelns führe und daher Anlass für eine restriktive Auslegung und besonders strikte gerichtliche Kontrolle ihres Mandates sein müsse, sei ohne Antwort geblieben. Dies gelte umso mehr, wenn mit dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Volkssouveränität die Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats betroffen sei, zu deren Achtung die Europäische Union verpflichtet sei.

Trotz dieser Bedenken bewege sich der Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm in der vom EuGH vorgenommenen Auslegung jedoch nicht „offensichtlich“ außerhalb der der EZB zugewiesenen Kompetenzen im Sinne des Ultra-vires-Kontrollvorbehalts.

Zwar habe der EuGH die angegebenen Ziele nicht hinterfragt und er habe die Indizien, die gegen die behauptete Zielsetzung sprechen, jeweils isoliert betrachtet, anstatt sie auch in ihrer Gesamtheit zu bewerten. Dies könne jedoch noch hingenommen werden, weil der EuGH die vom BVerfG in seinem Vorlagebeschluss vom 14.1.2014 für möglich gehaltene einschränkende Auslegung des Grundsatzbeschlusses der Sache nach auf der Ebene der Kompetenzausübung vorgenommen habe.

In der durch den EuGH vorgenommenen Auslegung des Art. 18 ESZB-Satzung berge das OMT-Programm daher insgesamt kein verfassungsrechtlich relevantes Risiko für das Budgetrecht des Bundestages. Insofern sei auch eine Gefährdung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung durch eine etwaige Durchführung des OMT-Programms gegenwärtig nicht festzustellen.

Allerdings seien Bundesregierung und Bundestag aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung verpflichtet, eine etwaige Durchführung des OMT-Programms dauerhaft zu beobachten. Diese Beobachtungspflicht sei nicht nur darauf gerichtet, ob die oben formulierten Maßgaben eingehalten würden, sondern auch darauf, ob insbesondere aus dem Volumen und der Risikostruktur der erworbenen Anleihen, die sich auch nach ihrem Erwerb ändern könne, ein konkretes Risiko für den Bundeshaushalt erwachse.

Bewertung: Das BVerfG betont - wenngleich gegenüber seinem Beschluss v. 15.12.2015 (siehe dazu meinen Aktuelles-Beitrag v. 6.5.2016) in deutlich gemäßigteren Worten - einmal mehr die durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Schutzgüter des Art. 20 GG – hier v.a. das Demokratieprinzip und die Volkssouveränität, die eine haushaltsrechtliche Verantwortung des Parlaments (hier: des Bundestages) fordern. Des Weiteren macht es deutlich, dass die der EZB durch die Unionsverträge eingeräumte Unabhängigkeit (vgl. nur Art. 130 AEUV) zu einer spürbaren Senkung des demokratischen Legitimationsniveaus ihres Handelns führe, was nur durch eine restriktive Auslegung der Ermächtigungsgrundlagen und durch eine besonders strikte gerichtliche Kontrolle ihres Mandates aufgefangen werden könne. Dies gelte umso mehr, wenn mit dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Volkssouveränität die Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats betroffen sei, zu deren Achtung die Europäische Union verpflichtet sei (s.o.). Der EuGH sei dieser Aufgabe zwar nur bedingt nachgekommen. Dadurch, dass in der durch ihn vorgenommenen Auslegung das OMT-Programm aber insgesamt kein verfassungsrechtlich relevantes Risiko für das Budgetrecht des Bundestages darstelle, sei insofern auch eine Gefährdung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung durch eine etwaige Durchführung des OMT-Programms gegenwärtig nicht festzustellen.

Damit hat das BVerfG also im Ergebnis trotz Kritik an der EuGH-Entscheidung einen Verstoß gegen die durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 GG für integrationsfest erklärten Schutzgüter Demokratie und Volkssouveränität verneint. Dem ist beizupflichten, und zwar nicht nur wegen des anderenfalls kaum einschätzbaren Schadens für die Europäische Union, sondern weil die Entscheidung des EuGH auch in der Sache richtig ist. Methodisch korrekt und inhaltlich gut vertretbar hat der EuGH eine Vereinbarkeit des OMT-Programms mit Europäischem Primärrecht angenommen. Das wiederum bedeutet, dass der EuGH sein durch Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV eingeräumtes Mandat nicht verlassen hat. Ein „Ultra-vires-Akt“, der wegen Verstoßes gegen das unabänderbare und integrationsfeste Demokratieprinzip aus Art. 20 GG zur „Verwerfung“ in Form einer Unanwendbarkeitserklärung durch das BVerfG hätte führen können, lag damit nicht vor. Man kann sagen: Das BVerfG hat zwar (wieder einmal) gebellt, aber (erneut) nicht gebissen. Immerhin hat das BVerfG das Institut der „Identitätskontrolle“ etabliert, wenngleich sich das vorliegende Urteil in die Urteile über den Vertrag von Maastricht, den Vertrag von Lissabon und die Urteile über den ESM einreiht, in denen das BVerfG stets die Grenzen der Integrationsermächtigung aufzeigte, diese aber in keiner der genannten Entscheidungen als überschritten erklärte. 

Rolf Schmidt (21.6.2016)

 


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