Aktuelles 2019 Manipulation am EAN- bzw. GTIN-Code im Kaufhaus als Betrug und Urkundenfälschung

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02.09.2019: Manipulation am EAN- bzw. GTIN-Code im Kaufhaus als Betrug und Urkundenfälschung?

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 13.03.2019 – 1 Rv 3 Ss 691/18

Mit Beschluss v. 13.03.2019 hat das OLG Karlsruhe (1 Rv 3 Ss 691/18) entschieden, dass das Austauschen des EAN- bzw. GTIN-Codes im Freizeitmarkt als Betrug und Urkundendelikt zu werten sei. Ob der Beschluss überzeugt und welche Voraussetzungen für die genannten Straftaten vorliegen müssen, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Wie bei R. Schmidt, Strafrecht Besonderer Teil II, 20. Aufl. 2018, Rn. 70 ff. ausgeführt, setzt die Tathandlung des Diebstahlstatbestands (§ 242 I StGB) den Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams voraus. Insbesondere die Frage, ob neuer Gewahrsam begründet wird, richtet sich nach den tatsächlichen Umständen unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung bzw. nach sozial-normativen Gesichtspunkten. Allgemein wird die Begründung neuen Gewahrsams mit folgender Formel beschrieben:  „Neuer Gewahrsam wird begründet, wenn der Täter die tatsächliche Sachherrschaft derart erlangt hat, dass er sie ohne Behinderung durch den bisherigen Gewahrsamsinhaber ausüben kann“ (BGH NStZ 2014, 41; vgl. auch BGH NStZ 2008, 624, 625; LG Zwickau NJW 2006, 166; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 38; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 15).
Geht es um kleine, leicht zu transportierende Sachen wie Schmuck oder Bargeld, lässt die h.M. auf der Basis der Apprehensionstheorie ein zum Gewahrsamswechsel führendes Ergreifen (und Festhalten) der fremden Sache genügen. Hintergrund ist, dass der bisherige Gewahrsamsinhaber die vom Täter durch das Ergreifen und Festhalten geschaffene Gewahrsamssphäre seinerseits aufheben müsste, um Gewahrsam wiederzuerlangen. Schwierigkeiten bereiten regelmäßig die Fälle, in denen der Täter während des Ergreifens der fremden Sache sich noch im Machtbereich des bisherigen Gewahrsamsinhabers befindet. Im Besonderen geht es um Diebstahl in Kaufhäusern und Selbstbedienungsläden. So genügt bei kleinen, unauffälligen, leicht beweglichen Sachen nach der Verkehrsauffassung für die vollendete Wegnahme schon ein Ergreifen und Festhalten der Sache (so ausdrücklich BGH 6.3.2019 – 5 StR 593/18). Speziell in den Kaufhausfällen dürfte daher auch ein Ergreifen und Festhalten (und natürlich erst recht ein Einstecken in die Tasche) bspw. von USB-Sticks oder Speicherkarten zur Vollendung des objektiven Diebstahlstatbestands führen. Bei handlichen, leicht zu transportierenden Gegenständen ist sowohl nach der Verkehrsauffassung als auch nach sozial-normativer Zuordnung (bereits) das Einstecken in die eigene Kleidung, in die mitgeführte Hand-, Einkaufs- oder Aktentasche, einen mitgeführten Beutel oder Rucksack oder eine mitgeführte Sporttasche etc. auch innerhalb des fremden Herrschaftsbereichs als Vollendung anzusehen. Die h.M. bezeichnet dies als Gewahrsamswechsel im „Tabubereich“ oder als „Schaffung einer Gewahrsamsenklave“. Hinsichtlich des Einsteckens in die Kleidung wird zur Begründung angeführt, dass die Körpersphäre mit einem Tabu umgeben sei (Persönlichkeitsrecht). Wollte der alte Gewahrsamsinhaber die Sache zurückerlangen, müsste er wiederum ggf. mit Gewalt in den fremden Tabubereich eindringen, wobei er erfahrungsgemäß auf heftigen Widerstand stoßen würde. Und in Bezug auf Beutel, Taschen oder Rucksäcke außerhalb des Tabubereichs wird angeführt, dass solche Behältnisse i.d.R. geeignet seien, einen unproblematischen Abtransport der Beute zu ermöglichen und zudem den Berechtigten von einem ungehinderten Zugriff auf seine Ware auszuschließen; dieser müsste seinerseits in die Herrschaftsgewalt des Täters eingreifen, um wieder über den Gegenstand verfügen zu können (BGH 6.3.2019 – 5 StR 593/18: Zwei Flaschen Bacardi in mitgeführte Sporttasche). Aus diesem Grund tritt in solchen Fällen der Gewahrsamswechsel mit der Begründung einer Gewahrsamsenklave ein (vgl. BGH 6.3.2019 – 5 StR 593/18). Dies hat beispielsweise in den Kaufhausfällen die Konsequenz, dass derjenige, der ein Zigarettenpäckchen, eine kleinere Spirituosenflasche („Magenbitter“), Speichersticks, Süßigkeiten u.Ä., aber auch Spirituosenflaschen in Normalgröße (BGH 6.3.2019 – 5 StR 593/18) oder ein Notebook (BGH NStZ 2015, 276) auf die oben beschriebene Weise an sich bringt, die Wegnahme und damit den Diebstahl noch vor Erreichen der Kasse bzw. des Ausgangs vollendet, und zwar unabhängig davon, ob er dabei beobachtet oder erst später am Ausgang durch einen alarmauslösenden (elektromagnetischen) Sicherheitsmechanismus ertappt wird. Wegen der Vollendung ist auch ein strafbefreiender Rücktritt durch freiwillige Rückgabe noch vor der Kasse (oder durch Zurücklegen ins Regal) ausgeschlossen (vgl. § 24 StGB); ein Strafaufhebungsgrund der tätigen Reue ist vom Gesetz bei § 242 StGB nicht vorgesehen (freilich wird in der Praxis in so einem Fall der Inhaber des Ladens wohl keine Strafanzeige stellen). Vor allem aber ist der Zeitpunkt der Vollendung wichtig, wenn der Täter im Zusammenhang mit dem Diebstahl gegen eine Person Gewalt verübt oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben anwendet. Dann kann Raub oder räuberische Erpressung vorliegen.

Von nicht unerheblicher Relevanz sind auch die Fälle, in denen der Täter am Preisetikett manipuliert, die Ware umverpackt oder Verpackungen mit zusätzlichen Waren versieht. Denkbar (und gerichtlich entschieden) sind in diesem Zusammenhang etwa
  • Der Täter öffnet die Packung und legt weitere Ware (Zubehör o.Ä.) hinein.
  • Der Täter tauscht den gesamten Inhalt (gegen höherwertigere Ware) aus.
  • Der Täter labelt Ware um.
  • Der Täter versieht Ware mit einem anderen EAN- bzw. GTIN-Code.
Legt der Täter die so manipulierte Ware an der Kasse vor und scannt der Kassierer/die Kassiererin das Produkt, ohne dass ihm oder ihr die Manipulation auffällt, stellt sich die Frage, ob hierin ein Diebstahl oder ein Betrug zu sehen ist. Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass in all den genannten Fällen der Täter zunächst (d.h. vor Erreichen der Kasse) mangels Schaffung einer Gewahrsamsenklave noch keinen Gewahrsam an den fraglichen Artikeln begründet. Der Gewahrsamswechsel findet erst an der Kasse statt. Nicht eindeutig ist in diesem Zusammenhang, ob die Artikel dann im Wege der Wegnahme (= § 242 StGB) oder der täuschungsbedingten Verfügung (= § 263 StGB) erlangt werden. Das war auch die Frage im vorliegend zu besprechenden Fall des OLG Karlsruhe. Der Entscheidung lag folgender (abgewandelter) Sachverhalt zugrunde:

In einem Freizeitmarkt werden u.a. Gartenschlauchtrommeln als Set angeboten. Als Einheit zusammengebaut werden Trommel, Schlauch und Spritzdüse mit Duschkopf zu einem – in Abhängigkeit der jeweiligen Qualitätsstufe – Gesamtpreis von 39,90 € bis 59,90 € angeboten. Am Duschkopf ist mittels Schlaufe ein Label angebracht. Auf dem Label aufgedruckt ist die 13-stellige EAN bzw. GTIN nebst Strichcode. Zweck dieses Identifikationsverfahrens ist u.a., dass an der Kasse lediglich der Strichcode gescannt werden muss, um den Preis aufzurufen und den Verkauf im Warenwirtschaftssystem zu verbuchen. T hat Interesse an dem teuersten Set, fasst dabei aber den Entschluss, den (lediglich gesteckten) Duschkopf des günstigsten Sets abzuziehen und auf den Schlauch des teuersten Sets aufzustecken. Sodann begibt er sich zum Kassenbereich und legt das Set auf das Kassenband. Die Kassiererin scannt das Label und nennt T einen Preis von 39,90 €. Nach Bezahlung begibt sich T in Richtung Ausgang, wo er aber von der Kaufhausdetektivin D, die das Geschehen beobachtete, abgefangen wird.

Lösung: Durch das beschriebene Verhalten könnte in vermögensrechtlicher Hinsicht T Betrug oder Diebstahl begangen haben.  
  • Denkbar wäre es, an der Kasse einen Diebstahl anzunehmen, indem man wie bei den Trickdiebstählen an einen erschlichenen Gewahrsamswechsel denkt: Überlässt bspw. jemand einem anderen einen Gegenstand lediglich zur Ansicht bzw. Anprobe, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er damit zugleich den Gewahrsam daran aufgeben wollte (siehe dazu etwa BGH NStZ 2016, 727). Es findet vielmehr lediglich eine Gewahrsamslockerung statt, die vom Täter ausschließlich zu dem Zweck erschlichen wurde, den Gegenstand in die Hände zu bekommen, um damit das Weite zu suchen. Daher kann regelmäßig nicht von einer Vermögensverfügung seitens des Personals gesprochen werden. Es liegt mithin eine (die Gewahrsamslockerung ausnutzende) Wegnahme vor (siehe den Fall bei R. Schmidt, Strafrecht BT II, Rn. 593). Diese Überlegung ist auf den vorliegenden Fall aber nicht übertragbar. Denn das Kassenpersonal möchte i.d.R. nicht lediglich den Gewahrsam lockern, sondern diesen aufgeben. Folglich scheidet insoweit ein Diebstahl aus. Möglicherweise gelangt man aber zur Wegnahme, indem man mit der Lehre vom bedingten Einverständnis operiert. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass sich das Einverständnis des Kassierers/der Kassiererin zur Gewahrsamsübertragung nur auf den ordnungsgemäßen Inhalt der Verpackung bzw. die Ordnungsgemäßheit der Preisauszeichnung oder des EAN-/GTIN-Codes beziehe (das Einverständnis zum Gewahrsamswechsel ist bedingt durch die Ordnungsgemäßheit der zum Gewahrsamswechsel führenden Umstände, dazu R. Schmidt, Strafrecht BT II, Rn. 63 f.). Da es daran fehlt, gelangt dieser Ansatz zu dem Ergebnis, dass es am Verfügungswillen i.S.d. § 263 StGB und damit am Einverständnis des Gewahrsamswechsels fehlt, was in der Folge zur Annahme eines Gewahrsamsbruchs i.S.d. § 242 StGB führt (Für Diebstahl im Falle des ergänzten Inhalts Vitt, NStZ 1994, 133, 134; Wessels/Hillenkamp/Schur, Strafrecht BT 2, Rn. 635; Roßmüller/Rohrer, Jura 1994, 471, 473 f.; dagegen soll auch nach diesen Stimmen Betrug anzunehmen sein, wenn der Täter, statt nur den Inhalt zu ergänzen, den Inhalt komplett ausgetauscht hat; dann sei von einer irrtumsbedingten Vermögensverfügung auszugehen, sodass für § 242 StGB kein Raum sei).
  • Richtigerweise wird man in solchen Fällen aber einen Betrug annehmen müssen. An der Kasse kommt es nämlich – wie oben beschrieben – zu einem willentlichen Gewahrsamswechsel durch den Kassierer/die Kassiererin: Er/sie verfügt (täuschungsbedingt) in der Weise, wie das Produkt/der Karton in sein/ihr Blickfeld gerät, also als Ganzes und als Einheit. Zur Irrtumsbejahung genügt die Vorstellung, dass mit dem Gegenstand „alles in Ordnung“ ist (wie hier OLG Düsseldorf NJW 1988, 922; Fahl, JuS 2004, 885, 886 und NStZ 2014, 244, 247).
Im vorliegenden Fall hat das OLG Karlsruhe zutreffend entschieden, dass die Kassiererin die Schlauchtrommel im Zuge des Bezahlvorgangs freiwillig an T ausgehändigt und damit den Gewahrsam an dieser Ware übertragen habe. Der Verfügungswille der Kassiererin sei bei der Gewahrsamsübertragung auf die Schlauchtrommel konkretisiert gewesen. Durch die Übereignung und Übergabe des Trommelsets hat der Betreiber des Freizeitmarktes auch einen Vermögensschaden erlitten, der im Differenzbetrag besteht. Im Ergebnis ist daher T wegen Betrugs strafbar.

Neben dem verwirklichten Betrug kommt Urkundenfälschung gem. § 267 I Var. 2 StGB in Betracht. Nach allgemeiner Auffassung ist Urkunde die verkörperte (d.h. mit einer Sache fest verbundene) Gedankenerklärung, die geeignet und bestimmt ist, im Rechtsverkehr Beweis zu erbringen, und die ihren Aussteller (den Erklärenden) erkennen lässt (vgl. BGHSt 3, 82, 84 f.; 4, 248, 285; 13, 235, 239; OLG Köln NJW 2002, 527; OLG Düsseldorf NJW 1997, 1793, 1794; Hecker, JuS 2002, 224, 225). Bei dem Trommelset könnte es sich um eine zusammengesetzte Urkunde handeln. Von zusammengesetzten Urkunden spricht man, wenn die verkörperte Gedankenerklärung (Beweiszeichen) mit einem anderen Gegenstand (Augenscheinsobjekt; Bezugsobjekt) fest zu einer Beweiseinheit verbunden wird und gerade dadurch erst die Urkundeneigenschaft erlangt (MüKo-Erb, § 267 Rn. 53 ff.; Sch/Sch-Heine/Schuster, § 267 Rn. 36a; Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, Rn. 896; Lackner/Kühl-Heger, § 267 Rn. 8; AG Waldbröl NJW 2005, 2870). Im Wirtschaftsverkehr ist die Beweiseinheit von wortvertretendem Symbol (Beweiszeichen, s.o.) und Bezugsobjekt relevant. Beispiele hierfür sind die Plombe am Stromzähler, der Prüfstempel des Fleischbeschauers, das mit amtlichem Siegel versehene Kennzeichen am Kfz und das Lichtbild im Ausweis. Diese Beweiszeichen bilden zusammen mit dem jeweiligen Bezugsobjekt Urkunden. So ist das Preisetikett an einem Artikel isoliert betrachtet ein praktisch bedeutungsloses Zeichen, da es lediglich einen Preis aufzeigt. Wird es allerdings (etwa durch ein Kunststoffband oder durch Einschweißen in eine Klarsichtfolie) fest mit der Ware verbunden, bedeutet diese Verbindung, dass der Hersteller (Garantiefunktion) für die Ware einen bestimmten Preis festgesetzt hat (Perpetuierungs- und Beweisfunktion). Vertauscht nun bspw. ein Kunde das Preisschild einer teuren Ware (hier: grüne Hose) mit dem Preisschild einer billigen (hier: blaue Hose), verfälscht er gem. § 267 I Var. 2 StGB die zusammengesetzte Urkunde (grüne Hose mit Preisschild). Bezüglich der blauen Hose, an der kein Interesse besteht, wird § 267 I Var. 2 StGB mangels Täuschungsabsicht im Rechtsverkehr nicht verwirklicht. Durch die Entfernung der beiden Preisschilder kommt außerdem eine Urkundenunterdrückung gem. § 274 I Nr. 1 StGB in Betracht. Sie ist im ersten Fall (das Entfernen des Preises an der grünen Hose) zu bejahen und tritt als subsidiär zurück. Bezüglich der blauen (billigen) Hose, an der das Schild der teuren Ware angebracht wurde, fehlt es an der subjektiv erforderlichen Absicht des § 274 I Nr. 1 StGB. Ferner kommt eine Strafbarkeit wegen (versuchten) Betrugs und (vollendeter) Sachbeschädigung in Betracht (siehe R. Schmidt, Strafrecht BT I Rn. 1264).
Ähnliches gilt für den Fall, dass der Täter die Ware mit einem anderen EAN- bzw. GTIN-Code versieht. So bildeten auch im vorliegenden Fall das Beweiszeichen (der Sticker mit dem GTIN-Code) und das Trommelset (Bezugsobjekt) eine Beweiseinheit. Die feste Verbindung führte zur Urkundeneigenschaft (Im Originalfall fehlte es an der festen Verbindung des von T zusammengesetzten Sets, sodass lediglich eine Urkundenunterdrückung am Originalset gem. § 274 I Nr. 1 StGB vorlag). Mithin hat T durch das Auswechseln des Beweiszeichens den Tatbestand des § 267 I Var. 2 StGB erfüllt.

Rolf Schmidt (02.09.2019)







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