Aktuelles 2019 Minder schweren Falls des Totschlags

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11.08.2019: Aktuelle Tendenzen bei der Annahme eines minder schweren Falls des Totschlags

BGH, Beschluss v. 16.01.2019 - 4 StR 580/18 (NStZ 2019, 408) und BGH, Beschluss v. 22.01.2019 – 1 StR 585/18 (NStZ 2019, 471)

Mit ihren Beschlüssen v. 16.01.2019 und 22.01.2019 haben der 4. und 1. Strafsenat des BGH überaus täterfreundlich minder schwere Fälle des Totschlags angenommen. Ob die Entscheidungen überzeugen, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Während es sich bei § 212 I StGB um einen Straftatbestand handelt,der die vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen mit einer Freiheitsstrafe von nicht unter fünf Jahren sanktioniert, stellt § 213 StGB weder einen Tatbestand noch eine unselbstständige Privilegierung zu § 212 StGB dar, sondern eine Strafzumessungsregel für einen minder schweren Fall des Totschlags. Ohne den Verbrechenscharakter der Tat zu ändern (ein Versuch ist somit auch ohne spezielle Strafandrohung möglich), ist nach dieser Vorschrift eine Strafmilderung obligatorisch, wenn das Opfer seine Tötung in bestimmter Weise provoziert hat (Var. 1) oder wenn die Gesamtbewertung der Tat einen „sonst minder schweren Fall“ (Var. 2) ergibt.

Nach h.M. ist ein minder schwerer Fall des Totschlags unter den Voraussetzungen der „Provokation“ stets gegeben. Auf eine Gesamtwürdigung der Tat (wie bei der Var. 2) kommt es demnach nicht an (BGH NStZ 2017, 163; NStZ 2008, 510; NStZ 2004, 500 f.; BGHSt 25, 224; Fischer, § 213 Rn. 2; LK-Jähnke, § 213 Rn. 2; siehe auch BGH NStZ 2019, 210, 211), wobei der BGH hinsichtlich der Beurteilung der „Schwere“ der Misshandlung bzw. Beleidigung durchaus eine Gesamtwürdigung aller, auch in der Vergangenheit liegenden Vorgänge vornimmt (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 2015, 218; BGH NStZ 2015, 582; BGH NStZ-RR 2017, 11).

In der Fallbearbeitung ist daher zunächst zu prüfen, ob ein Fall der provozierten Tötung vorliegt. Das Gesetz nennt folgende Voraussetzungen:

Der Täter muss von dem Getöteten durch
  • eine zugefügte Misshandlung (auch seelischer Art) oder
  • eine schwere Beleidigung (i.S.d. §§ 185 ff. StGB) gegenüber
    • dem Täter selbst oder
    • einem seiner Angehörigen (§ 11 I Nr. 1 StGB)
  • ohne eigene Schuld zum Zorn gereizt
  • und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden sein.
Zu den Voraussetzungen im Einzelnen (vgl. BGH NStZ 2019, 408, 409; NStZ 2019, 210, 211; NStZ 2015, 218, 219; 2013, 159, 160; 2009, 91, 92; 2008, 510; 2004, 500 f.; 1998, 84 u. 191 ff.; 1983, 554; 1981, 2311; 1987, 3134; SK-Horn, § 213 Rn. 2 ff.; Lackner/Kühl, § 213 Rn. 2 ff.; Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, § 213 Rn. 2 ff.; Fischer, § 213 Rn. 2 ff.): 
  • Als Misshandlung kommen körperliche oder seelische Angriffe in Frage. Ein körperlicher Angriff setzt keinen Körperverletzungserfolg voraus (BGH 12.6.2002 – 5 StR 221/02; BGH 28.5.2002 – 5 StR 196/02; Detter, NStZ 2003, 133). Allerdings muss die eingetretene oder drohende Körperverletzung mehr als nur geringfügig sein (BGH NStZ 2015, 582, 583). Seelische Angriffe kommen insb. bei einem fehlgeschlagenen Angriff auf Leib oder Leben in Betracht, etwa bei einem Messerstich ohne Verletzungsfolgen.
  • Der Begriff der Beleidigung ist nicht i.S.d. § 185 StGB zu verstehen, sondern objektiviert und provokationsspezifisch i.S.d. § 213 Var. 1 StGB. Der BGH führt dazu in ständiger Rechtsprechung aus: „Ob eine ‚schwere Beleidigung‘ vorliegt, beurteilt sich nach einem objektiven Maßstab. Die Handlung muss auf der Grundlage aller maßgeblichen Umstände unter objektiver Betrachtung und nicht nur aus der subjektiven Sicht des Täters als schwer beleidigend zu beurteilen sein (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis u.a. auf BGH NStZ-RR 2017, 11). (...). Maßgebend ist dafür der konkrete Geschehensablauf unter Berücksichtigung von Persönlichkeit und Lebenskreis der Beteiligten, der konkreten Beziehung zwischen Täter und Opfer sowie der tatauslösenden Situation“ (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis u.a. auf BGH NStZ 2015, 582), wobei die Anforderungen an die Schwere der Beleidigung nicht zu gering anzusetzen seien (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 2015, 582; BGH NStZ 2015, 218). Dabei macht der BGH deutlich, dass sich die Schwere der Beleidigung auch erst aus fortlaufenden, für sich allein noch nicht schweren Kränkungen ergeben könne, wenn die Beleidigung nach einer Reihe von Kränkungen gleichsam „der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte“ (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 2011, 339, 340; BGH NStZ 2015, 218; Fischer, § 213 StGB Rn. 5). Deswegen sei es geboten, in die erforderliche Gesamtwürdigung auch in der Vergangenheit liegende Vorgänge als mitwirkende Ursachen miteinzubeziehen (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 2015, 218; BGH NStZ 2015, 582; BGH NStZ-RR 2017, 11).
  • Die Misshandlung bzw. die schwere Beleidigung muss von dem Getöteten (also nicht von einem Dritten) ausgegangen sein, kann sich aber auf den Täter oder einen seiner Angehörigen (i.S.d. § 11 I Nr. 1 StGB) beziehen.
  • Ohne eigene Schuld wurde der Täter von dem (später) Getöteten zum Zorn gereizt, wenn er im gegebenen Augenblick „keine genügende Veranlassung“ zu der Misshandlung bzw. schweren Beleidigung (also zu der Provokation) gegeben hat oder jedenfalls die Misshandlung bzw. schwere Beleidigung nicht vorwerfbar veranlasst hat (BGH NStZ 2019, 471 m.w.N.; BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 1983, 554; BGH NStZ 1984, 216; BGH NStZ 1987, 555; BGH NStZ 1998, 191; Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, § 213 Rn. 7). Hat also der Täter das spätere Opfer zu dessen Verhalten herausgefordert (BGH NStZ 2008, 510; BGH NStZ 2019, 471), zur Zuspitzung eines Streits, dem die Tat folgt, beigetragen oder dem Opfer vor der Tat (auf sonstige Weise) schuldhaft Veranlassung zur Provokation gegeben (BGH NStZ 2019, 408, 409 mit Verweis auf BGH NStZ 1992, 588), wurde er nicht „ohne eigene Schuld“ gereizt und für § 213 Var. 1 StGB ist kein Raum. Das ist nach der Rechtsprechung des BGH der Fall, wenn das Vorverhalten dem Täter vorwerfbar ist und in qualitativer Hinsicht geeignet ist, die darauf fußende Provokation des Opfers als verständliche Reaktion erscheinen zu lassen (BGH NStZ 2019, 408, 409; siehe auch BGH NStZ 2019, 471). Gleichwohl ist der BGH in der Anwendung dieser Definition (neuerdings) sehr großzügig und gelangt – selbst in zweifelhaften Fällen – häufig zur Bejahung des Merkmals „ohne eigene Schuld“ und damit – zulasten des Opferschutzes – zu einem minder schweren Fall gem. § 213 Var. 1 StGB
Die Frage nach den Kriterien der Tatprovokation war Gegenstand der BGH-Entscheidung v. 16.01.2019 - 4 StR 580/18 (NStZ 2019, 408).Dieser lag folgender Sachverhalt zugrunde (abgewandelt, um das Problem zu fokussieren): T und seine Arbeitskollegin O waren einige Zeit zusammen. Weil O u.a. ihren früheren Lebensgefährten finanziell unterstützte, kam es öfter zum Streit zwischen T und O, woraufhin sich die beiden denn auch trennten. Gleichwohl besuchte T die O weiterhin. Nach einem Streit in der Wohnung der O, der eskalierte, ergriff O ein Küchenmesser mit ca. 14 cm langer Klinge und verletzte damit T mit einer Stichbewegung leicht an der Beugeseite des rechten Unterarms. T schlug ihr das Messer aus der Hand. Auch durch den Messerangriff nunmehr „rasend vor Wut“ entschloss sich T, O zu töten. Er ergriff das Messer und stach es O in den Hals. Dann warf er O rücklings aufs Bett und stach weitere 17 Mal auf sie ein. Der dadurch bewirkte Blutverlust war bereits tödlich. T ergriff nun aber noch eine metallene Schnur, knotete sie um den Hals der O und würgte sie kräftig. Auch dieses Vorgehen war für sich genommen tödlich.

Die Entscheidung des BGH: Das Landgericht verneinte einen minder schweren Fall nach § 213 Var. 1 StGB und verurteilte T wegen Totschlags gem. § 212 I StGB. Der BGH hob das Urteil auf. Die Urteilsgründe belegten nicht hinreichend, dass T selbst den tatauslösenden Messerangriff des Tatopfers vorwerfbar veranlasst habe. Allgemein führt der BGH zu dem § 213 Var. 1 StGB konstituierenden Merkmal „ohne eigene Schuld“ negativ formulierend aus, dass es daran (nur dann) fehle, wenn der Täter dem Opfer vor der Tat schuldhaft genügende Veranlassung zur Provokation gegeben habe (BGH NStZ 2019, 408, 409 mit Verweis auf BGH NStZ 1992, 588). Sei das Vorverhalten dem Täter vorwerfbar und in qualitativer Hinsicht geeignet, die darauf fußende Provokation des Opfers als verständliche Reaktion erscheinen zu lassen, sei die Tatprovokation nicht „ohne eigene Schuld“ (BGH NStZ 2019, 408, 409). „Ohne eigene Schuld“ liege nicht vor, wenn die dem Täter zugefügte Misshandlung ihrerseits Ausfluss einer angemessenen Reaktion des Opfers auf die ihm zuvor durch den Täter zuteilgewordene Behandlung gewesen sei. Fehle es an der Proportionalität zwischen vorangegangenem Fehlverhalten des Täters und der nachfolgenden Opferreaktion, sei die Schuld des Täters an der Provokation mangels genügender Veranlassung zu verneinen (BGH NStZ 2019, 408, 409).

Dem BGH fehlten Feststellungen des Landgerichts hierüber. Das Landgericht habe sich mit der Frage, ob der Messerangriff der O auf T noch eine angemessene Reaktion auf den vorangegangenen Streit war, nicht auseinandergesetzt. Eine Erörterung hätte sich hier aber aufgedrängt, da ein zu einer Schnittverletzung führender Angriff mit einem Messer mit 14 cm langer Klinge jedenfalls nicht ohne weiteres als verständliche oder als angemessene Reaktion auf einen verbalen Streit angesehen werden kann.

Bewertung: Es mag sein, dass ein zu einer Schnittverletzung führender Angriff mit einem Messer mit einer Klingenlänge von 14 cm nicht ohne weiteres als verständliche oder als angemessene Reaktion auf einen verbalen Streit angesehen werden kann mit der Folge, dass eine Tatprovokation durch O naheliegt. Gleichwohl liegt ein vom BGH nicht erwähnter, aber entscheidender Umstand vor: Nachdem T der O das Messer aus der Hand geschlagen hatte, lag dieses auf dem Boden und wurde von T aufgehoben. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte sich T besinnen müssen, zumal er die von O ausgehende Provokation nicht unwesentlich mitverursacht hatte. Schließlich wird man das Merkmal „auf der Stelle“ (dazu sogleich im nächsten Fall) in Frage stellen müssen, worauf der BGH auch nicht eingegangen ist. Jedenfalls aber erfolgte das anschließende Erdrosseln nicht mehr „auf der Stelle“ und ist nicht als minder schwerer Fall i.S.d. § 213 StGB anzusehen. 

Ergebnis: Nach der hier vertretenen Auffassung lag kein Fall des § 213 Var. 1 StGB vor. T hat sich jedenfalls in Bezug auf das Erdrosseln gem. § 212 I StGB strafbar gemacht.

Wie bereits aus dem obigen Fall deutlich geworden ist, muss der Täter schließlich auf der Stelle zur Tat hingerissen worden sein. Auf der Stelle zur Tat hingerissen wurde der Täter, wenn die Tötung auf einem auf die Provokation zurückzuführenden Affekt (affektiver Erregungszustand) beruht und in einem engen zeitlichen Zusammenhang zur Provokation steht (vgl. BGH NStZ 2015, 582, 583; NStZ 2013, 341; NStZ 2011, 339, 340; NStZ 2004, 500 f.; NStZ 2002, 542), wobei der BGH es neuerdings genügen lässt, wenn zwischen der Tatprovokation und der Tötung des Provokateurs eine gewisse raumzeitliche Zäsur besteht, sofern zwischen beiden Ereignissen nur ein „motivationsspezifischer Zusammenhang“ gegeben ist. Das ist mit der gesetzlichen Formulierung „auf der Stelle“ schwerlich vereinbar und daher abzulehnen. Daher war auch im obigen Fall nach der hier vertretenen Auffassung § 213 Var. 1 StGB abzulehnen. Auch die im BGH-Beschluss v. 22.01.2019 (1 StR 585/18 - NStZ 2019, 471) vertretene Rechtsauffassung überzeugt nicht.

Diesem lag folgender Sachverhalt zugrunde (abgewandelt, um das Problem zu fokussieren): T war Gast in einer Pension und nahm an einer Silvesterfeier teil, die in den Kellerräumen der Pension stattfand. Dort benahm er sich, unter Alkoholeinfluss stehend, verbal und durch Gesten sexuell ausfällig. So sagte er manchen Frauen, er wolle mit ihnen „ins Bett gehen“, und machte dies durch entsprechende Körperbewegungen deutlich. Gegenüber einer anderen Frau äußerte er, sie habe einen blöden Freund, den er am liebsten umbringen wolle, und er würde es ihr dann „ordentlich besorgen“. Ein anderes Paar belästigte er mit den Worten, wenn nicht der Mann der Frau in den „Mund ficken“ wolle, würde er das tun. Die Aufforderung des O, dies zu unterlassen, ignorierte T, woraufhin O dem T einen Faustschlag auf das linke Auge versetzte. Nunmehr schlugen und traten die beiden hinzugekommenen Brüder des O sowie O selbst auf T ein, selbst nachdem dieser bereits zu Boden gegangen war. Dadurch erlitt T mehrere Einblutungen am Kopf und Oberkörper.
Nachdem die drei Angreifer von T abgelassen hatten, begab dieser sich in sein Zimmer im zweiten Obergeschoss, holte von dort ein Küchenmesser und kam wenige Minuten später gegen 22.00 Uhr in den Flur vor dem Partyraum zurück. Er war wütend und fühlte sich wegen des „Rauswurfs“ gedemütigt; für die Tritte und Schläge wollte er sich rächen. Auf halber Höhe der Kellertreppe stieß er auf einen der beiden Brüder des O, der ihn aufforderte, das Messer wegzulegen. Als O zusammen mit seiner schwangeren Lebenspartnerin L hinzukam, sagte T, er werde L nicht wehtun, er habe ein Problem mit O und dessen Brüdern. O trat in Richtung der rechten Hand des T, in der dieser das Messer hielt, traf sie jedoch nicht. Unvermittelt trat T auf O zu und stach diesem sechsmal u.a. in die linke Achselhöhle, in den Oberbauch und in die rechte Brustkorbseite, wobei er den Herzbeutel traf und die Aorta durchtrennte. Dadurch verstarb O.

Die Entscheidung des BGH: Der BGH ist der Auffassung, dass die Annahme des Landgerichts, T habe sich nicht „ohne eigene Schuld“ zum Zorn reizen und hierdurch zum Totschlag hinreißen lassen, sodass § 213 Var. 1 StGB nicht anwendbar sei, durchgreifenden Bedenken begegne. Ob die Auffassung überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden:

Der Tatbestand des § 212 I StGB ist erfüllt. T hat vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft O getötet. Fraglich ist allein, ob ihm wegen der vorangehenden Attacken der drei Brüder der Strafmilderungsgrund aus § 213 Var. 1 StGB zugutekommt. T könnte nämlich ohne eigene Schuld durch eine ihm zugefügte Misshandlung von O zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zu dessen Tötung hingerissen worden sein.

T ist vor seiner Tat von O und dessen beiden Brüdern körperlich misshandelt worden. Diese hatten zu seinem Nachteil eine gefährliche Körperverletzung (§ 224 I Nr. 4 StGB) begangen. Hierdurch wurde T zum Zorn gereizt und zur Tat hingerissen. Fraglich ist aber, ob dies „ohne eigene Schuld“ des T geschah und ob die Tat des T „auf der Stelle“ erfolgte. 

Ohne eigene Schuld wurde der Täter von dem (später) Getöteten zum Zorn gereizt, wenn er im gegebenen Augenblick „keine genügende Veranlassung“ zu der Misshandlung bzw. schweren Beleidigung (also zu der Provokation) gegeben hat oder jedenfalls die Misshandlung bzw. schwere Beleidigung nicht vorwerfbar veranlasst hat (BGH NStZ 2019, 471 m.w.N.; BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 1983, 554; BGH NStZ 1984, 216; BGH NStZ 1987, 555; BGH NStZ 1998, 191; Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, § 213 StGB Rn. 7). Umgekehrt formuliert handelt der Täter nicht „ohne eigene Schuld“, wenn er das spätere Opfer zu seinem Verhalten herausfordert. Das ist nach Auffassung des BGH nicht schon bei jeder Handlung des Täters der Fall, die ursächlich für die ihm zugefügte Misshandlung gewesen ist. Vielmehr müsse er dem Opfer genügende Veranlassung gegeben haben; dessen Verhalten müsse eine verständliche Reaktion auf vorangegangenes Tun des Täters gewesen sein. Dabei sei die Verständlichkeit auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zu prüfen (BGH NStZ 2019, 471 m.w.N.).

Sodann stellt der BGH zutreffend fest, dass die Schläge und Tritte der drei Brüder nicht verhältnismäßig waren. Sie seien nicht erforderlich gewesen, um T von weiteren Belästigungen abzuhalten. Als milderen Eingriff nennt der BGH das Herausdrängen des T – gegebenenfalls unter Zerren und Schieben – aus dem Keller. Das Einschlagen und Treten auf den am Boden liegenden T habe nichts mehr mit dem Unterbinden weiterer Ausfälligkeiten zu tun, sondern habe sich selbst als Rache für die vorangegangene „sexuelle Anmache“ dargestellt. Insbesondere hätten sich die Brüder nicht auf § 32 StGB stützen können, da zum Zeitpunkt der Attacke kein Angriff seitens des T vorgelegen habe. Das kann man sicherlich so sehen, jedenfalls aber waren die Schläge und Tritte auf den am Boden liegenden T nicht geboten i.S.d. § 32 I StGB (BGH NStZ 2019, 471).

Wurde T demnach „ohne eigene Schuld“ zum Zorn gereizt, stellt sich schließlich die Frage, ob die Tat des T „auf der Stelle“ erfolgte. Der BGH meint, der zeitliche Abstand von wenigen Minuten habe den motivationspsychologischen Zusammenhang zwischen der Provokation durch die Tritte und Schläge auf der einen und den Messerstichen auf der anderen Seite nicht unterbrochen. Das ist zweifelhaft. Denn T ging zwischenzeitlich in sein Zimmer im zweiten Obergeschoss, fasste offenbar dort erst den Tatentschluss, griff ein Küchenmesser und ging wenige Minuten später in den Flur vor dem Partyraum zurück. Diese Zeitspanne von auch nur wenigen Minuten ist – in Verbindung mit der räumlichen Entfernung – nach der hier vertretenen Auffassung nicht für die Annahme geeignet, T sei auf der Stelle zur Tat hingerissen worden. Für die Bejahung des Merkmals „auf der Stelle zur Tat hingerissen“ reicht es nicht, wenn die Tötung auf einem auf die Provokation zurückzuführenden Affekt (affektiver Erregungszustand) beruht, sondern die Tötung muss zusätzlich auch in einem engen zeitlichen Zusammenhang zur Provokation stehen (Vgl. BGH NStZ 2015, 582, 583; NStZ 2013, 341; NStZ 2011, 339, 340; NStZ 2004, 500 f.; NStZ 2002, 542). 

Ergebnis: Die überaus tätergünstige Rechtsprechung des BGH ist mit der gesetzlichen Formulierung „auf der Stelle“ schwerlich vereinbar und daher abzulehnen. Nach der hier vertretenen Auffassung lag gerade kein Fall des § 213 Var. 1 StGB vor. T handelte im Zorn, nahm bedacht Rache und übte Selbstjustiz. Er hat sich wegen der tödlichen Messerstiche gem. § 212 I StGB strafbar gemacht.



Rolf Schmidt (11.08.2019)




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