Aktuelles 2019 Prüfung von Akten deutscher öffentlicher Gewalt am Maßstab von Unionsgrundrechten

Beiträge 2019


01.12.2019: Prüfung von Akten deutscher öffentlicher Gewalt am Maßstab von Unionsgrundrechten (d.h. von Grundrechten der EU-Grundrechtecharta) durch das BVerfG

BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 („Recht auf Vergessenwerden II“)

Mit Beschluss v. 06.11.2019 hat der Erste Senat des BVerfG (1 BvR 276/17) entschieden, dass es Akte deutscher Stellen, die unionsrechtlich vollständig vereinheitlichte Regelungen des Unionsrechts anwenden, am Maßstab der Unionsgrundrechte prüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden. In seinem Parallelbeschluss vom selben Tage (1 BvR 16/13 – „Recht auf Vergessenwerden I“) grenzt es diese Konstellation von derjenigen ab, in der es um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht geht, welches das BVerfG primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüft, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Ob diese Rechtsprechung (d.h. der „Recht auf Vergessenwerden II“-Beschluss mit Blick auf den angewendeten Prüfungsmaßstab) überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Sachverhalt: K wandte sich gegen die Veröffentlichung eines NDR-Fernsehbeitrags im Internet. Sie verlangte vom Suchmaschinenbetreiber Google, die Verknüpfung ihres Namens mit einem Fernsehbeitrag aufzuheben. Sie hatte für den Beitrag des Fernsehmagazins „Panorama“ mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ ein Interview gegeben. Der Beitrag stellte die Kündigung eines damaligen Mitarbeiters eines Wirtschaftsunternehmens dar, das sie als Geschäftsführerin leitete. K macht geltend, sie habe solche Tricks niemals angewandt. Das Suchergebnis rufe eine negative Vorstellung über sie als Person hervor und verletze sie in ihren Persönlichkeitsrechten.

I. Problemaufriss: Im vorliegenden Fall könnte eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG vorliegen. Dazu müsste jedoch dieses Grundrecht (generell: die Grundrechte des Grundgesetzes) zunächst als Prüfungsmaßstab zur Verfügung stehen. Das ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG nicht der Fall, wenn das Unionsrecht über einen vergleichbaren Grundrechtsschutz verfügt und den Sachverhalt einheitlich für die gesamte EU regelt. Dem liegt folgende Überlegung zugrunde: Überträgt die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte auf die EU (siehe Art. 23 I S. 2 GG) und schafft die EU einen effektiven, dem Grundgesetz ebenbürtigen Grundrechtsschutz, werden die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt, wenn die EU in Ausübung der ihr übertragenen Rechtsetzungskompetenz eine Materie wie z.B. Aspekte des Datenschutzes einheitlich und abschließend für die gesamte Union regelt. Folgerichtig sind dann nach der Rechtsprechung des BVerfG bei der Prüfung von vollvereinheitlichten Materien des Unionsrechts die deutschen Grundrechte nicht anwendbar (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn. 47).

II. Anwendungsvorrang des EU-Rechts: Dass in einem solchen Fall die deutschen Grundrechte nicht anwendbar sind, ist Ausfluss des (generellen) Anwendungsvorrangs des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht der Mitgliedstaaten. In Abgrenzung zum Geltungsvorrang, bei dem bei einer Kollision mit höherrangigem Recht das niederrangige Recht seine Geltung verliert, bedeutet Anwendungsvorrang, dass das mit höherrangigem Recht kollidierende niederrangige Recht zwar nicht ungültig, allerdings in seiner Anwendung gesperrt ist. Anwendungsvorrang liegt aber auch dann vor, wenn das höherrangige Recht schlicht einen Sachverhalt speziell und abschließend regelt. Ließe man in einem solchen Fall das niederrangige Recht ebenfalls zur Anwendung kommen, liefe man ggf. Gefahr, die speziellen und abschließenden Regelungen des höherrangigen Rechts auszuhöhlen.

Das trifft auf das Verhältnis zwischen EU-Recht und nationalem Recht zu. In Ermangelung einer Übertragung eines Geltungsvorrangs (einer Übertragung eines Geltungsvorrangs stünden wohl auch Art. 23 I S. 3 GG i.V.m. Art. 79 III GG i.V.m. den Prinzipien des Art. 20 I-III GG entgegen) kann sich lediglich ein Anwendungsvorrang ergeben: Das mit Unionsrecht unvereinbare nationale Recht ist nicht ungültig, aber in seiner Anwendung gesperrt; es wird nicht beachtet.
Der Anwendungsvorrang greift auch dann, wenn dem Unionsrecht nicht nationales einfaches Recht, sondern Verfassungsrecht entgegensteht. Das betrifft im Kern die Kollision des EU-Rechts mit den Grundrechten des Grundgesetzes. Der EuGH geht seit der Costa/Enel-Entscheidung (EuGH Slg. 1964, 1251 ff.; vgl. auch EuGH Slg. 1970, 1125 ff. – Internationale Handelsgesellschaft, aufgegriffen in EuGH NJW 2013, 1215 ff. – Melloni) vom Anwendungsvorrang des EU-Rechts vor jeglichem nationalen Recht (also auch vor nationalem Verfassungsrecht) aus und beansprucht gleichzeitig für sich eine ausschließliche Prüfungskompetenz (in Bezug auf die Vereinbarkeit von nationalem Recht mit Unionsrecht). Auch das BVerfG erkennt den Anwendungsvorrang des EU-Rechts im Grundsatz an, begründet ihn aber nicht mit den Gründungsverträgen, sondern zum einen mit dem Anwendungsbefehl, der aus den Zustimmungsgesetzen zu den Verträgen folgt (vgl. Art. 59 II S. 1 GG), und zum anderen mit der Integrationsermächtigung des Art. 24 I GG a.F. bzw. des Art. 23 I GG i.d.F. von 1992 (BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht; bestätigt in BVerfGE 102, 147 ff. – Bananenmarktordnung; BVerfGE 126, 286, 302 – Honeywell bzw. Mangold; BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 – Identitätskontrolle).

Das ist konsequent. Überträgt die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte auf die EU (siehe Art. 23 I S. 2 GG) und macht diese von den ihr übertragenen Hoheitsbefugnissen Gebrauch, ist der Staat daran gebunden, solange die EU den ihr gesteckten Rahmen nicht verlässt. Das hat dann die genannte Folge, dass der Anwendungsvorrang des EU-Rechts unabhängig davon greift, ob das nationale Recht einschließlich des Verfassungsrechts dem Unionsrecht entgegensteht. Regelt also die EU in Ausübung der ihr übertragenen Rechtsetzungskompetenz eine Materie wie z.B. Aspekte des Datenschutzes einheitlich und abschließend für die gesamte Union (BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17), muss das auf diese Weise geschaffene Rechtsregime jedenfalls dann vorgehen, wenn es eine Materie vollständig determiniert und den Mitgliedstaaten insoweit keine Gestaltungsspielräume lässt. Ob das niederrangige Recht dem entgegensteht, spielt dabei keine Rolle. In diesem Fall bleiben die Grundrechte des Grundgesetzes nach der Rechtsprechung des BVerfG hinter den Unionsgrundrechten „ruhend in Kraft“  mit der Folge, dass das BVerfG das durch deutsche Stellen angewendete Unionsrecht (d.h. das sekundäre Unionsrecht) auch nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüft, sondern am Maßstab der Unionsgrundrechte.  Die Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte entspricht freilich nicht dem Regelungsgehalt des Art. 93 GG, der dem BVerfG allein das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab vorgibt, und wird deswegen vom Verfasser auch kritisiert.

III. Grenzen des Anwendungsvorrangs: Der Anwendungsvorrang hat aber auch Grenzen. Verletzt EU-Recht ein durch Art. 23 I S. 3 i.V.m. Art. 79 III GG i.V.m. Art. 1 und 20 GG für integrationsfest erachtetes Verfassungsprinzip, ist es nicht anwendbar und kann daher nicht seinerseits Anwendungsvorrang beanspruchen (Kernaussage BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 ff. – Identitätskontrolle; vgl. auch BVerfG NJW 2016, 2473, 2475 ff. – OMT-Programm der EZB). In Fällen der Kompetenzüberschreitung sind nach der Rechtsprechung des BVerfG daraus hervorgegangene Rechtsakte („Ultra-vires-Akte“) für deutsche Stellen nicht verbindlich (BVerfGE 89, 155, 188 – Maastricht), sodass Prüfungsmaßstab der fraglichen nationalen Norm, die aufgrund von kompetenzüberschreitendem sekundärem EU-Recht ergeht, wieder das Grundgesetz sei. In diesem Fall entscheide dann wieder das BVerfG im Rahmen einer „Ultra-vires-Kontrolle“ (BVerfGE 126, 286, 302 – Honeywell bzw. Mangold).
Das BVerfG entscheidet aber nicht nur im Fall einer Kompetenzüberschreitung eines Organs der EU, sondern auch dann, wenn durch eine Maßnahme der EU in Art. 79 III GG genannte unabänderbare und damit integrationsfeste Verfassungsprinzipien aus Art. 1 GG und Art. 20 GG, die zudem durch Art. 4 II EUV geschützt sind, missachtet würden (vgl. BVerfGE 126, 286, 302 mit Bezugnahme auf BVerfGE 75, 223, 235 ff.; 113, 273, 296; 123, 267, 353 f.; vgl. auch BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 f. – Identitätskontrolle). Sollte durch eine Maßnahme der EU also ein durch Art. 79 III GG für unantastbar erklärter Grundsatz aus Art. 1 GG oder Art. 20 GG berührt werden, findet der Anwendungsvorrang der EU seine Grenzen. In der Annahme einer „Ausnahme“ von seinem Solange-II-Vorbehalt (siehe Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 20. Aufl. 2019, Rn. 358 ff.) erklärt sich das BVerfG dann für zuständig und erklärt den betreffenden EU-Rechtsakt im Rahmen einer „Identitätskontrolle“ (Kontrolle der Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland – vgl. BVerfGE 126, 286, 321; fortgeführt bspw. in BVerfG NJW 2014, 907, 908 ff. und äußerst deutlich gemacht in BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 f. – Identitätskontrolle) für unanwendbar (BVerfG NJW 2016, 1149, 1151 – Identitätskontrolle). Insoweit lässt sich auch von einer „Solange-III-Entscheidung“ sprechen.

Kein Fall des Anwendungsvorrangs besteht, wenn es um die Prüfung von unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht geht. So hat das BVerfG in seinem Parallelbeschluss v. 6.11.2019 (1 BvR 16/13 – „Recht auf Vergessenwerden I“) entschieden, dass es Akte deutscher Gewalt primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüft, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Das ist folgerichtig, da hier das Unionsrecht gerade keine abschließende Regelung trifft.

IV. Prüfung nationaler Akte am Maßstab des Unionsrechts, wenn kein Grundrechtsschutz besteht: Ging es bisher ausschließlich um die Frage, ob das BVerfG für die Prüfung von EU-Recht, von Maßnahmen von Organen der EU oder von auf Rechtsakten der EU ergangenen nationalen Akten am Maßstab des Grundgesetzes zuständig ist, gilt es nunmehr der Frage nachzugehen, ob das BVerfG Akte deutscher Gewalt am Maßstab der Unionsgrundrechte prüfen darf. Grundsätzlich ist das wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und der Entscheidungskompetenz des EuGH nicht der Fall. Denn der Anwendungsvorrang sorgt nicht nur dafür, dass die Grundrechte des Grundgesetzes hinter den Unionsgrundrechten „ruhend in Kraft“ bleiben (mit der Folge, dass das BVerfG eine Prüfung von Unionsrecht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes nicht vornimmt, solange die Unionsgrundrechte in gleicher Weise wie die Grundrechte des Grundgesetzes die Menschen und ihre Grundrechte in den Mittelpunkt ihrer Ordnung stellen und den Wesensgehalt und Menschenwürdekern für unantastbar erklären), sondern auch dafür, dass die Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte dem EuGH zusteht. Auch das BVerfG erkennt dies an, solange auf Unionsebene ein dem Grundgesetz vergleichbarer Grundrechtsstandard gewährleistet ist. Den Grundrechten des Grundgesetzes komme insoweit nur eine Reservefunktion zu.

Werden demzufolge die Grundrechte des Grundgesetzes durch die Unionsgrundrechte verdrängt, d.h. in ihrer Anwendbarkeit gesperrt, kann das BVerfG auch nicht die Vereinbarkeit von Unionsrecht und Maßnahmen innerstaatlicher Stellen, die Unionsrecht anwenden, am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüfen.

Die hinter dem Paradigmenwechsel stehende Dogmatik ist klar: Verdrängen Grundrechte der EU diejenigen des Grundgesetzes, können Letztere nicht Prüfungsmaßstab sein. Und für Prüfung von Akten am Maßstab der Unionsgrundrechte ist der EuGH zuständig. Folgerichtig erklärte sich das BVerfG bislang auch nicht zuständig , es sei denn, eine Handlung eines Organs oder einer Einrichtung der EU beruhte auf einer Kompetenzüberschreitung oder sie betraf den nicht übertragbaren Bereich der durch Art. 23 I S. 3 i.V.m. Art. 79 III GG geschützten Verfassungsidentität des Grundgesetzes, freilich mit dem Grundgesetz als Prüfungsmaßstab (s.o.).

Stand ein solcher Fall im Raum, wurde das BVerfG tätig und prüfte im Rahmen der „Ultra-vires-Kontrolle“, ob der fragliche EU-Akt noch von der Kompetenzübertragung gedeckt war (BVerfGE 126, 286, 304 - „Ultra-vires-Kontrolle“), oder im Rahmen der „Identitätskontrolle“, ob der fragliche Rechtsakt eines Organs oder einer Einrichtung der EU ein gem. Art. 23 I S. 3 i.V.m. Art. 79 III GG unveränderliches Verfassungsprinzip aus Art. 1 und 20 GG verletzt hatte (BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 f. - „Identitätskontrolle“; siehe auch BVerfG NJW 2017, 2894, 2895 ff. - Anleihenkaufprogramm der EZB).

Mit dem vorliegend zu besprechenden Beschluss 1 BvR 276/17 („Recht auf Vergessenwerden II“) distanziert sich das BVerfG von seiner bisherigen Rechtsprechung. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Grundrechte des Grundgesetzes nicht Prüfungsmaßstab sein können, wenn Unionsgrundrecht greift. Und für Prüfung von Akten am Maßstab der Unionsgrundrechte ist der EuGH zuständig (Art. 263 AEUV). Gemäß Art. 19 I S. 2 EUV ist es Aufgabe des EuGH, über Auslegung und Anwendung der Verträge (also des EUV und des AEUV) zu entscheiden. So entscheidet gem. Art. 19 III EUV der EuGH nach Maßgabe der Verträge (insbesondere der Art. 263 ff. AEUV)
  • über Klagen eines Mitgliedstaats, eines Organs oder natürlicher oder juristischer Personen (Vertragsverletzungsverfahren, Nichtigkeits-, Untätigkeits- und Schadensersatzklagen sowie Streitigkeiten in Beamtensachen und Klagen aufgrund von Schiedsklauseln),
  • im Wege der Vorabentscheidung auf Antrag der einzelstaatlichen Gerichte über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Organe,
  • in allen anderen in den Verträgen vorgesehenen Fällen.
Für Individualbeschwerden in Bezug auf nationale Rechtsakte besteht keine Zuständigkeit. Ein Unionsbürger hat also keine Möglichkeit, direkt vor dem EuGH die Verletzung eines Unionsgrundrechts durch nationale Stellen zu rügen. Und da nach dem Gesagten die Grundrechte des Grundgesetzes nicht anwendbar sind, kann auch schon deshalb nicht die Verletzung von Grundrechten des Grundgesetzes vor dem BVerfG geltend gemacht werden. Das führt zu einer Rechtsschutzlücke, die das BVerfG nunmehr geschlossen hat. Es nimmt für sich eine Prüfungskompetenz dahingehend in Anspruch, dass es das durch deutsche Stellen angewendete Unionsrecht (d.h. das sekundäre Unionsrecht) am Maßstab der Unionsgrundrechte prüft (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn. 50). Das entspricht freilich nicht dem Regelungsgehalt des Art. 93 GG und dem der Art. 18 und 21 IV GG sowie 100 I GG, die dem BVerfG allein das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab aufzeigen. Das BVerfG versucht seine Vorgehensweise damit zu rechtfertigen, dass es ja nicht Unionsrecht prüfe, sondern nur die Anwendung von Unionsrecht durch deutsche Stellen. Zwar habe die Bundesrepublik Deutschland über Art. 23 I S. 2 GG Hoheitsrechte auf die EU übertragen. Das bedeute jedoch keinen Rückzug der deutschen Staatsgewalt aus der Verantwortung für die der Union übertragenen Materien, sondern sehe vielmehr eine Mitwirkung der Bundesrepublik an deren Entfaltung vor. In Bezug genommen werde damit ein eng verflochtenes Miteinander der Entscheidungsträger, wie es dem Inhalt der Unionsverträge entspricht. Danach obliege die Umsetzung des Unionsrechts nicht nur den Institutionen der Union, sondern in weitem Umfang auch den Mitgliedstaaten. Innerstaatlich werde dabei das Unionsrecht grundsätzlich nach Maßgabe der grundgesetzlichen Staatsorganisation zur Geltung gebracht. Für die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union trügen alle Staatsorgane auch in diesem Sinne Integrationsverantwortung (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn. 55). Das gelte auch für die Gerichte. Unmittelbar anwendbares Unionsrecht und nationales Umsetzungsrecht seien von den Gerichten nach den Regeln der Prozessordnungen anzuwenden – unabhängig davon, ob es sich um unmittelbar anwendbare Vorschriften der Union selbst oder um unionsrechtlich veranlasstes innerstaatliches Recht handele. Danach obliege es dem BVerfG, bei seiner Kontrolle der Rechtsprechung der Fachgerichte erforderlichenfalls auch die Unionsgrundrechte in seinen Prüfungsmaßstab einzubeziehen (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn. 57). Diese seien nach Maßgabe des Art. 51 I GRC innerstaatlich anwendbar und bildeten zu den Grundrechten des Grundgesetzes ein Funktionsäquivalent (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn. 59). Ohne Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab des BVerfG bliebe danach der Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung nach dem heutigen Stand des Unionsrechts unvollständig. Dies gelte insbesondere für Regelungsmaterien, die durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlicht seien. Da hier die Anwendung der deutschen Grundrechte grundsätzlich ausgeschlossen sei, sei ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz nur gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung die Unionsgrundrechte zum Prüfungsmaßstab nehme. Würde es sich hier aus dem Grundrechtsschutz herausziehen, könnte es diese Aufgabe mit zunehmender Verdichtung des Unionsrechts immer weniger wahrnehmen. Entsprechend verlange ein vollständiger Grundrechtsschutz die Berücksichtigung der Unionsgrundrechte auch dann, wenn das Schutzniveau der Charta außerhalb vollvereinheitlichter Regelungsmaterien ausnahmsweise Anforderungen stelle, die die grundgesetzlichen Grundrechte nicht abdeckten (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn 60). Der europäische Grundrechtsschutz könne diese Grundrechtsschutzlücke nicht füllen. Denn es bestehe keine Möglichkeit Einzelner, die Verletzung von Unionsgrundrechten durch die mitgliedstaatlichen Fachgerichte unmittelbar vor dem EuGH geltend zu machen (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn 61).

VI. Zusammenfassung: Das gesamte Unionsrecht genießt im Kollisionsfall Anwendungsvorrang vor dem einfachen nationalen Recht und grds. auch vor dem nationalen Verfassungsrecht. Das folgt aus europäischer Sicht aus der in Art. 4 III EUV verankerten Unionstreue, aus nationaler Sicht aus dem Anwendungsbefehl, der aus den Zustimmungsgesetzen zu den Verträgen folgt (vgl. Art. 59 II GG), sowie aus der Integrationsermächtigung des Art. 24 I GG a.F. bzw. des Art. 23 I GG i.d.F. von 1992. Der Anwendungsvorrang greift aber nicht, wenn eine Handlung eines Organs oder einer Einrichtung der EU
  • auf einer Kompetenzüberschreitung beruht (was im Rahmen einer „Ultra-vires-Kontrolle“ geprüft wird)
  • oder sie den nicht übertragbaren Bereich der durch Art. 23 I S. 3 i.V.m. Art. 79 III GG geschützten Verfassungsidentität des Grundgesetzes betrifft (was im Rahmen einer „Identitätskontrolle“ geprüft wird).
  • Nach der hier vertretenen Auffassung greift der Anwendungsvorrang auch nicht, wenn Individualrechtsschutz vor dem EuGH nicht besteht. In diesem Fall leben die Grundrechte des Grundgesetzes wieder auf und stehen dem BVerfG als Prüfungsmaßstab zur Verfügung (a.A. freilich BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17, das in diesem Fall für sich die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab in Anspruch nimmt). 
In der künftigen Rechtsanwendung wird man auf der Basis der soeben besprochenen Entscheidung BVerfG 1 BvR 276/17 hinsichtlich des anwendbaren Prüfungsmaßstabs exakt differenzieren müssen:
  • Akte deutscher Stellen, die unionsrechtlich vollständig determinierte Regelungen des Unionsrechts anwenden, werden am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden. Zu den unionsrechtlich vollständig determinierenden Regelungen wird man etwa die betreffenden Regelungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zählen müssen (dann wären Prüfungsmaßstab von nationalen Maßnahmen die betreffenden Bestimmungen der DSGVO und letztlich Art. 7 und 8 GRC). Auf Richtlinienebene sind vollharmonisierende Regelungen des zivilistischen Verbraucherschutzrechts zu nennen, etwa die Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU, die – im Übrigen nicht auf den Verbrauchsgüterkauf beschränkt – eine Vollharmonisierung auf EU-Ebene insbesondere im Fernabsatzrecht erreichen möchte (siehe Erwägungsgründe 2, 4, 5, 7 und 9 sowie Art. 4 der RL). Eine weitgehende Vollharmonisierung besteht auch hinsichtlich der Warenkaufrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/771), deren Zweck es ist, zum ordnungsgemäßen Funktionieren des (digitalen) Binnenmarkts beizutragen und gleichzeitig für ein hohes Verbraucherschutzniveau zu sorgen (siehe Art. 1 der RL i.V.m. ihren Erwägungsgründen 1 und 3), und hinsichtlich der Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen (Richtlinie (EU) 2019/770), die gemeinsame Vorschriften für bestimmte Anforderungen an Verträge zwischen Unternehmern und Verbrauchern über die Bereitstellung digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen festlegt und in ihren Kernbereichen (wie die Warenkaufrichtlinie) eine weit reichende Vollharmonisierung vorsieht; abweichende nationale Bestimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 4 der RL i.V.m. Erwägungsgrund 11; lediglich einzelne Materien wie die Verjährungsregelung sind einer abweichenden Regelung zugänglich, siehe Erwägungsgrund 58). Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit nationaler Regelungen werden danach also grundsätzlich am Maßstab der Unionsgrundrechte zu entscheiden sein.
  • Geht es um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht, ist dieses am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu prüfen, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Als Anwendungsfelder seien diejenigen Vorschriften der DSGVO genannt, die den Mitgliedstaaten Spielräume lassen, wie z.B. Art. 85 II DSGVO („Medienprivileg“) oder Art. 88 DSGVO in Bezug auf den Beschäftigtendatenschutz. Auch die „Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz“ (Richtlinie (EU) 2016/680) determiniert nicht vollständig das nationale Recht, da sie lediglich Mindeststandards setzt, den Mitgliedstaaten Spielräume lässt und Abweichungsbefugnisse enthält. Des Weiteren ist § 6a ATDG zu nennen, der ebenfalls kein (zwingendes) Unionsrecht umsetzt, da die Richtlinie 2002/58/EG („ePrivacy“-Richtlinie), die Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres) und die Richtlinie (EU) 2017/541 (Terrorismusbekämpfungs-Richtlinie) nur Grundsätze und Mindeststandards festlegen. In diesen Fällen sind die Grundrechte des Grundgesetzes nicht in ihrer Anwendung gesperrt und das BVerfG prüft innerstaatliches Recht, das der Durchführung von Unionsrecht dient, am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, freilich in richtlinienkonformer Auslegung, was bedeutet, dass die Unionsgrundrechte zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten sind.
  • Rein nationale Akte sind von der vorstehenden Problematik nicht berührt. Für diese gelten von vornherein ausschließlich die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab. 
Betrachtet man die beiden zuerst genannten Konstellationen, ist – von der dogmatischen Problematik abgesehen – die Überlegung auf die Frage zu fokussieren, ob das betreffende Unionsrecht das nationale Recht nun vollständig determiniert oder diesem Spielräume oder Abweichungsbefugnisse lässt, was – bei unklarem Wortlaut – letztlich durch Auslegung (freilich durch den EuGH am Maßstab des EU-Primärrechts) zu ermitteln ist. Im Extremfall kann es sogar sein, dass ein Teil einer Vorschrift des Sekundärrechts das nationale Recht vollständig determiniert und ein anderer Teil derselben Vorschrift dem Mitgliedstaat Spielräume bzw. Abweichungsbefugnisse lässt. Die daraus resultierende Rechtsfolge ist so vorhersehbar wie ambivalent: Der eine Teil der Vorschrift muss sich an Unionsgrundrechten messen lassen, der andere Teil an den nationalen Grundrechten. Wenn sich wenigstens noch sagen ließe, in den meisten Fällen sei das jeweilige Schutzniveau (Grundrecht des Grundgesetzes, Grundrecht der EU-Grundrechtecharta) vergleichbar, sodass sich die gespaltene Prüfung materiell-rechtlich im Ergebnis nicht auswirke. Dem ist aber nicht so, da sich die Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen von Grundrechten der GRC im Hinblick auf die Gewichtung öffentlicher Interessen oder auf die Verarbeitung von Wertungskonflikten bei Grundrechtskollisionen sowie auf die Prüfungsdichte (d.h. die Dichte gerichtlicher Kontrolle von staatlichen Maßnahmen am Maßstab der Grundrechte) von den Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen von Grundrechten des Grundgesetzes unterscheiden (BVerfG, „Recht auf Vergessenwerden II“). Daher wird der Rechtsanwender nicht umhinkommen, seiner Grundrechtsprüfung zunächst eine (umfangreiche) Anwendbarkeitsprüfung voranzustellen, denn es muss ja der Prüfungsmaßstab feststehen. Ist demnach ein Grundrecht der EU-Grundrechtecharta anwendbar, muss man folgerichtig auch die hier hierzu ergangene Rechtsprechung des EuGH beachten.

Anwendungsgebiete werden nicht nur Umweltschutzbestimmungen bieten, sondern auch Datenschutz- und Verbraucherschutzbestimmungen, ist die EU bekanntermaßen ja sehr aktiv auf diesen Gebieten. Virulent wird dies bei den bereits erwähnten Richtlinien (EU) 2019/771 (Warenkaufrichtlinie – WKRL) und (EU) 2019/770 (Digitale-Inhalte-Richtlinie – DIRL). Beide sehen eine weit reichende Vollharmonisierung vor; abweichende nationale Bestimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 1 WKRL i.V.m. ihren Erwägungsgründen 1 und 3 und Art. 4 DIRL i.V.m. deren Erwägungsgrund 11). Nationale Umsetzungsakte werden also unionsrechtlich vollständig determiniertes Recht darstellen mit der Folge, dass Streitigkeiten über deren Rechtmäßigkeit am Maßstab der Unionsgrundrechte zu entscheiden sein werden. 

Aber auch hinsichtlich des Datenschutzrechts kann die Abgrenzung zwischen unionsrechtlich vollständig determinierenden und unionsrechtlich nicht vollständig determinierenden Regelungen des Unionsrecht schwierig sein.  Art. 85 DSGVO („Medienprivileg“) und Art. 88 DSGVO ( Beschäftigtendatenschutz) wurden bereits als unionsrechtlich nicht vollständig determinierenden Regelungen des Unionsrecht genannt.  Für den Bereich der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit ist die Datenschutz-Grundverordnung nicht anwendbar ist (siehe Art. 2 II lit. d) DSGVO). Daher stellt sich die Frage, ob die vom europäischen Parlament und dem Rat erlassene Richtlinie (EU) 2016/680 („Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz“) eine unionsrechtlich vollständig determinierende Regelung darstellt. Wäre dies der Fall, dürften nationale Maßnahmen, die in Umsetzung dieser Richtlinie erlassen wurden, am Maßstab der Richtlinie und letztlich am Maßstab der Art. 7 und 8 GRC, nicht am Maßstab des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG zu messen sein. Der Maßstab des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG wäre nur dann eröffnet, wenn die Richtlinie unionsrechtlich nicht vollständig determinierte, sie also Spielräume ließe und die nationalen Maßnahmen lediglich diese Spielräume ausfüllten. Ob die Richtlinie Spielräume lässt, ist anhand ihres Zwecks und Regelungsinhalts zu ermitteln. Hilfestellung geben die Erwägungsgründe.
Der Zweck der Richtlinie besteht in „der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ (siehe Art. 1 I und die Erwägungsgründe 7 und 11). Da die Richtlinie insbesondere gemäß ihrem Erwägungsgrund 33 lediglich Mindeststandards im Datenschutz vorsieht, dürfen nationale Bestimmungen ein noch höheres Schutzniveau aufweisen. Im Rahmen der Gegenstände des Art. 38 der Richtlinie dürfen nationale Regelungen auch abweichen.
Aus alledem folgt, dass die Richtlinie (EU) 2016/680 kein vollständig determiniertes Unionsrecht darstellt. Prüfungsmaßstab für nationale Akte ist damit folgerichtig Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG, freilich in richtlinienkonformer Auslegung.
Mithin gilt: Sämtliche polizeilichen Maßnahmen der Informationsbeschaffung mit Bezug zu personenbezogenen Daten sind am Maßstab des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG zu prüfen und im Lichte der „Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz“ (Richtlinie (EU) 2016/680) vorzunehmen.  

VII. Hinweis für die Fallbearbeitung: Man kann u.a. auf die Konstellation treffen, in der sich der Kläger durch einen Rechtsakt deutscher Behörden in Anwendung von nicht vollvereinheitlichtem Unionsrecht in seinen Grundrechten des Grundgesetzes verletzt sieht und hiergegen vor dem zuständigen deutschen Verwaltungsgericht klagt. Da das deutsche Verwaltungsgericht zwar deutsches untergesetzliches Regelwerk (bestimmte Rechtsverordnungen und Satzungen), nicht aber Unionsrecht für nicht anwendbar erklären kann (hierzu ist nur der EuGH befugt), kann bzw. muss es für den Fall, dass es Sekundärrecht für mit Primärrecht unvereinbar hält, das Verfahren aussetzen und die fragliche Europarechtsnorm dem EuGH vorlegen, sog. Vorabentscheidung (vgl. Art. 256 III, 267 AEUV – vgl. dazu etwa den Vorlagebeschluss des BVerfG NJW 2014, 907 ff.).
Es kann aber auch vorkommen, dass sich ein Bürger gegen einen Akt einer deutschen staatlichen Stelle wendet, die vollvereinheitlichtes Unionsrecht (wie z.B. Aspekte des Datenschutzrechts) anwendet (vorliegende Konstellation). Da ihm in diesem Fall nicht die Direktklage vor dem EuGH offensteht (siehe Art. 263 IV AEUV, der von Handlungen und Rechtsakten der Union ausgeht), kommen nur der nationale Rechtsweg und – nach dessen Erschöpfung – Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG in Betracht. Hierbei ist dann das Problem zu lösen, dass dem BVerfG an sich nur das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab offensteht, vorliegend es sich jedoch um vollvereinheitlichtes Unionsrecht handelt (das lediglich von nationalen Stellen angewendet wird). Während das BVerfG in diesem Fall eine Überprüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte vornimmt (weil die Grundrechte des Grundgesetzes nicht anwendbar seien), sind nach der hier vertretenen Auffassung die Grundrechte des Grundgesetzes sehr wohl anwendbar. Nach dem hier vertretenen Standpunkt stehen die Unionsgrundrechte – wie sich aus Art. 23 und 93 GG ergibt – dem BVerfG in keinem Fall als Prüfungsmaßstab zur Verfügung. Da aber die Individualverfassungsbeschwerde zu den in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätzen (hier: Demokratie und Rechtsstaat) und damit zur „Verfassungsidentität“ gehört, kann das BVerfG staatliche Maßnahmen – auch wenn sie vollvereinheitlichtes Unionsrecht anwenden – am Maßstab des Grundgesetzes prüfen. Man wird sogar sagen müssen: Lässt das Unionsrecht Rechtsschutzlücken, kann es insoweit auch keinen Anwendungsvorrang für sich beanspruchen. Kann also ein Verstoß gegen Unionsgrundrechte nicht vom EuGH geprüft werden, bleibt es bei der Anwendung der nationalen Gerichtsbarkeit, freilich mit den nationalen Grundrechten als Prüfungsmaßstab. Auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen, heißt das: Das BVerfG prüft unionsrechtlich determinierte Akte deutscher öffentlicher Gewalt am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Die vom BVerfG mit Blick auf Art. 23 I GG postulierte „Integrationsverantwortung“ vermag sich nicht über Art. 93 GG hinwegzusetzen, der das Grundgesetz als dem BVerfG zur Verfügung stehenden Prüfungsmaßstab vorgibt.

VIII. Prüfungsschema: Sollte man gleichwohl die (für die Praxis freilich bindende) Auffassung des BVerfG teilen, ergibt sich hinsichtlich vollvereinheitlichten Unionsrechts folgendes Prüfungsschema

1. Prüfung des Determinationsgrades
Hier ist zu prüfen, ob der fragliche Akt deutscher öffentlicher Gewalt
  • eine unionsrechtlich vollständig determinierte Regelung umsetzt,
  • lediglich unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht darstellt
  • oder es sich bei ihm gar um einen rein nationalen Akt ohne Unionsrechtsbezug handelt.
Ausschließlich Akte deutscher Stellen, die unionsrechtlich vollständig vereinheitlichte Regelungen des Unionsrechts anwenden, werden am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden. Im Übrigen greifen die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab, freilich in europarechtskonformer Auslegung, sofern unionsrechtlich beeinflusst. Welche der drei Konstellationen vorliegt, ist mitunter anhand einer umfangreichen Prüfung des Unionsrechts zu ermitteln und ggf. durch Entscheidung des EuGH zu klären.

2. Prüfung der Maßnahme am Maßstab des anwendbaren Grundrechts
Steht demnach der Prüfungsmaßstab fest, ist die staatliche Maßnahme am Maßstab des auf den Sachverhalt anwendbaren Grundrechts zu prüfen.
  • So gelten für die Prüfung der fraglichen staatlichen Maßnahme am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes die allgemeinen Grundrechtslehren, die spezifischen grundrechtlichen Anforderungen und auch die übrigen vom BVerfG entwickelten Grundsätze.
  • Für die Prüfung der fraglichen staatlichen Maßnahme am Maßstab der Unionsgrundrechte gelten die allgemeinen Grundrechtslehren, die spezifischen grundrechtlichen Anforderungen und auch die übrigen vom EuGH entwickelten Grundsätze. Diese können, müssen aber nicht identisch sein mit denen einer Grundrechtsprüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes.  

Rolf Schmidt (01.12.2019)




Share by: