Aktuelles 2019 Strafklageverbrauch

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15.09.2019: Zur Weite des prozessualen Tatbegriffs beim Strafklageverbrauch

Im Fernsehkrimi „Der kleine Mann“ von Ferdinand von Schirach, ausgestrahlt im ZDF am 13.9.2019, ging es um den sog. Strafklageverbrauch, d.h. um den verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf (Art. 103 III GG). So konnte im Fall der Täter eines schweren Betäubungsmitteldelikts (hier: § 30a BtMG, der eine Mindeststrafe von 5 Jahren Freiheitsstrafe vorsieht) nicht wegen dieses Delikts angeklagt bzw. verurteilt werden, weil andere Taten, die der Täter in diesem Zusammenhang ebenfalls verwirklicht hatte, bereits rechtskräftig geworden waren. Das Verfahren war daher einzustellen. Im Folgenden soll näher untersucht werden, ob dem gefolgt werden kann. 

Ausgangslage: Gemäß Art. 103 III GG darf niemand „wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden“. Das durch diese Norm verfassungsrechtlich verankerte sog. Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem crimen iudicetur - sog. Strafklageverbrauch) bedeutet materielle Rechtskraft und bezieht sich auf den Inhalt der strafgerichtlichen Entscheidung. Es besagt, dass eine Tat, die bereits Gegenstand eines durch Sachurteil (oder Strafbefehl) abgeschlossenen Verfahrens war, nicht noch einmal Gegenstand eines Strafverfahrens und eines Sachurteils werden darf. Daher wäre es an sich auch treffender, von einem Doppelbestrafungs- und Doppelverfolgungsverbot zu sprechen.

Nach diesem Grundsatz stellt eine rechtskräftige Entscheidung für ein späteres Verfahren über die gleiche Tat ein (unbehebbares) Verfahrenshindernis dar; das Verfahren ist dann gem. § 260 III StPO einzustellen. Dies betrifft sowohl den Fall der Verurteilung als auch den eines Freispruchs. Entscheidend für den Strafklageverbrauch ist also die Frage, was unter „Tat“ zu verstehen ist. Der Tatbegriff ist aber auch aus anderen Gründen entscheidend, sodass sich insgesamt folgender Überblick ergibt (siehe Hartmann/Schmidt, StrafProzR, 7. Aufl. 2018, Rn. 18):

  • Nach dem Anklagegrundsatz (Akkusationsprinzip) darf das Gericht nur im Rahmen der angeklagten Tat tätig werden (§§ 151, 155 I StPO), sodass sich der Eröffnungsbeschluss nur auf das Verhalten beziehen darf, das dem Beschuldigten in der Anklageschrift vorgeworfen wird. Der Tatbegriff begrenzt also den Verhandlungsstoff.
  • Nur die im Eröffnungsbeschluss (§ 207 StPO) bezeichnete Tat ist Gegenstand der Urteilsfindung durch das Gericht (§ 264 I StPO). Ergeben sich in der Hauptverhandlung neue, in der Anklageschrift und im Eröffnungsbeschluss nicht bedachte Aspekte, ist zu unterscheiden, ob es sich nur um neue rechtliche Momente der angeklagten Tat oder um eine andere Tat handelt. Liegt eine andere Tat im Sinne des Strafprozessrechts vor, ist zu deren Einbeziehung in den Stoff der Hauptverhandlung eine Nachtragsanklage erforderlich (§ 266 StPO). Ändert sich lediglich die rechtliche oder tatsächliche Betrachtungsweise im Hinblick auf die angeklagte Tat, genügt ein rechtlicher Hinweis nach § 265 I und II StPO. Dieser rechtliche Hinweis muss im Protokoll vermerkt werden; schweigt das Protokoll, gilt er als nicht erfolgt (Beweiskraft des Protokolls).
  • Der Tatbegriff beschreibt des Weiteren die Rechtskraft und den Strafklageverbrauch. Ob der Grundsatz ne bis in idem (Art. 103 III GG) durch eine erneute Strafverfolgung verletzt wird, hängt davon ab, ob in einem neuen Verfahren „dieselbe Tat“ im Sinne des Strafprozessrechts verfolgt wird.
Zwar normiert Art. 103 III GG den Strafklageverbrauch mit seinen weit reichenden Auswirkungen (s.o.), die Bestimmung enthält aber keine Definition des Tatbegriffs. Klar ist nur, dass es um ein prozessuales Verständnis geht. Eine Übertragung des Tatbegriffs, der im materiellen Strafrecht in der Konkurrenzlehre (§§ 52, 53 StGB) geläufig ist, ist damit nicht ohne weiteres möglich (aber auch nicht ausgeschlossen).

Nach der Definition des BGH (BGHSt 32, 215, 216; 35, 60, 62; 41, 292, 298; 43, 252, 255; 45, 211, 212. Vgl. auch OLG Oldenburg StraFo 2006, 412; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1999, 304; BVerfGE 56, 22, 28) umfasst eine Tat im prozessualen Sinne das gesamte Verhalten des Beschuldigten, soweit es mit dem durch die Strafverfolgungsorgane (in der Anklage, im Eröffnungsbeschluss oder im Urteil) bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis „nach der allgemeinen Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang bildet“. In einer anderen Entscheidung des BGH heißt es: „...liegt eine Tat im prozessualen Sinne vor, wenn zwischen den einzelnen Verhaltensweisen des Täters eine innere Verknüpfung dergestalt besteht, dass ihre getrennte Aburteilung in verschiedenen erstinstanzlichen Verfahren als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würde“ (BGHSt 41, 385, 388. Vgl. auch BGH NStZ-RR 2009, 289).

Damit steht zumindest fest, dass der BGH den Begriff der prozessualen Tat (sehr viel) weiter versteht als den der materiellen Tat. Wann aber ein „einheitlicher Lebensvorgang“, der zu einer Tat im prozessualen Sinne führt, anzunehmen ist, ist wiederum ebenso unklar wie die Frage, wann eine unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs anzunehmen ist. Dabei können die Bejahung bzw. Verneinung große Auswirkungen, insbesondere für den Beschuldigten hinsichtlich des Strafklageverbrauchs, haben. Entscheidende Kriterien sind nach dem BGH Tatort, Tatzeit, Tatobjekt sowie als normatives Kriterium die Angriffsrichtung der Tat.

Dem zu besprechenden Kriminalfall „Der kleine Mann“ von Ferdinand von Schirach (ausgestrahlt im ZDF am 13.9.2019) lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Der stellvertretende Supermarktleiter T wird wegen seiner geringen Körpergröße von anderen bestenfalls ignoriert, meistens belächelt, manchmal auch verhöhnt. Als er eines Tages zufällig Zeuge eines Drogendeals wurde und sah, wie der Drogenkäufer einen Rucksack mit 5 kg Kokain unter einem Abfallcontainer des Supermarktes deponierte, begab er sich – nachdem er sich „Mut angetrunken hatte“ – am späten Abend dorthin und nahm den Rucksack an sich. Noch bevor er den Bereich verlassen konnte, erschien der Drogenkäufer, um die Ware abzuholen. T ergriff sofort die Flucht und erreichte sein Auto. Die weitere Flucht mit dem Auto konnte er aber nur ermöglichen, indem er dem ihn verfolgenden Drogenkäufer Pfefferspray ins Gesicht sprühte, sodass dieser „gefechtsunfähig“ wurde. Auf der Fluchtfahrt verlor er infolge überhöhter Geschwindigkeit und seiner BAK von 1,6 ‰ die Kontrolle über sein Fahrzeug und kam auf einer Verkehrsinsel zum Stehen.

Lösung: Hier hat T zunächst den Tatbestand des § 30a II Nr. 2 BtMG verwirklicht. Er hat sich Betäubungsmittel in nicht geringer Menge verschafft und dabei mit dem Pfefferspray einen sonstigen Gegenstand mit sich geführt, der seiner Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt ist (Anm.: Hätte es sich um ein „Tierabwehrspray“ gehandelt, wäre wegen der anderen Zweckbestimmung das Merkmal des „Bestimmtseins“ und damit der Tatbestand des § 30a BtMG zu verneinen gewesen). Wegen des Pfeffersprayeinsatzes hat er den Tatbestand des § 224 I Nr. 2 Var. 2 StGB (Pfefferspray als gefährliches Werkzeug) bzw. § 224 I Nr. 1 Var. 2 StGB (Pfefferspray als gesundheitsschädlicher Stoff) verwirklicht. Sodann hat T mit der Fluchtfahrt den Tatbestand des § 315c I Nr. 1a StGB (jedenfalls aber den des § 316 StGB) verwirklicht.

Wegen der Schwere des Betäubungsmitteldelikts und der damit verbundenen Annahme einer Fluchtgefahr (nach § 30a BtMG beträgt die Strafandrohung „Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren“, wodurch regelmäßig Fluchtgefahr i.S.d. § 112 II Nr. 2 StPO angenommen wird) wird gem. § 112 I StPO Untersuchungshaft angeordnet. Während der Untersuchungshaft ergeht vom Amtsgericht außerdem ein Strafbefehl wegen des Pfeffersprayeinsatzes und der Trunkenheitsfahrt (siehe § 407 StPO). T verzichtet auf die Einlegung eines Einspruchs (§ 410 StPO), wodurch der Strafbefehl rechtskräftig wird.

Besteht auf der Basis der BGH-Rechtsprechung nun zwischen den einzelnen Verhaltensweisen des T (BtM-Delikt, Pfeffersprayeinsatz, Trunkenheitsfahrt) eine innere Verknüpfung dergestalt, dass ihre getrennte Aburteilung in verschiedenen erstinstanzlichen Verfahren als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würde, liegt eine Tat im prozessualen Sinne vor. Folge wäre, dass durch die eingetretene Rechtskraft des Strafbefehls Strafklageverbrauch eingetreten wäre. Der Eröffnung der Hauptverhandlung wegen des BtM-Delikts stünde ein Verfahrenshindernis entgegen. Das Strafverfahren wäre gem. § 260 III StPO zwingend einzustellen.

Stellungnahme: Im oben erwähnten Fall „Der kleine Mann“ wurde eine Tat im prozessualen Sinne bejaht. Das mag erstaunen und dem „natürlichen Rechtsgefühl“ widersprechen, ist aber nachvollziehbar, wenn man die vom BGH aufgestellten Grundsätze heranzieht und überlegt, dass der Pfeffersprayeinsatz und die Trunkenheitsfahrt in engem Sachzusammenhang mit dem BtM-Delikt standen. Denn ohne das BtM-Delikt wäre es zum einen zu diesen Taten nicht gekommen und zum anderen standen sie in engem räumlichem, zeitlichem und innerem Zusammenhang mit dem BtM-Delikt. Freilich eine andere Frage ist es, ob man die Rechtsprechung des BGH zur Weite des prozessualen Tatbegriffs nicht prinzipiell ablehnen möchte und den Begriff der prozessualen Tat wie den der materiellen Tat versteht. Denn beim materiellen Tatbegriff sind mehraktige Geschehensabläufe immer dann separat zu beurteilen, wenn die einzelnen Geschehnisse keine natürliche Handlungseinheit darstellen. Eine natürliche Handlungseinheit liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn eine Aufspaltung in Einzeltaten wegen eines außergewöhnlich engen zeitlichen und situativen Zusammenhangs, etwa bei Messerstichen innerhalb weniger Sekunden oder bei einem gegen eine aus der Sicht des Täters nicht individualisierte Personenmehrheit gerichteten Angriff, willkürlich und gekünstelt erschiene (BGH NStZ 2016, 594, 595; NStZ 2006, 284, 286). Bei mehreren Handlungen, die sich gegen verschiedene Rechtsgüter richten, ist zudem niemals von nur einer Tat zu sprechen. So liegt es im oben erwähnten Fall „Der kleine Mann“: Das BtM-Delikt, die gefährliche Körperverletzung und die Trunkenheitsfahrt sind verschiedene Taten; sie richten sich gegen verschiedene Rechtsgüter. Nach der hier vertretenen Auffassung erstreckt sich der Strafklageverbrauch nicht auf Handlungen, die sich gegen andere Rechtsgüter richten. Daher erstreckte sich der Strafklageverbrauch in Bezug auf die gefährliche Körperverletzung und die Trunkenheitsfahrt nicht auf das BtM-Delikt. Dem steht auch Art. 103 III GG nicht entgegen, da diese Verfassungsbestimmung nicht zu der weiten Interpretation des Tatbegriffs zwingt, wie sie vom BGH angenommen wird. Denn Art. 103 III GG spricht schließlich von „derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze“, wodurch eine Inbezugnahme auf den materiellen Tatbegriff jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheint.

Rolf Schmidt (15.09.2019)







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