Aktuelles 2020 Aufhebbarkeit von im Ausland geschlossenen Ehen mit Minderjaehrigen

Beiträge 2020


17.08.2020: Zur Aufhebbarkeit von im Ausland geschlossenen Ehen mit Minderjährigen


BGH, Beschl. v. 22.07.2020 – XII ZB 131/20

Mit Beschluss v. 22.07.2020 (XII ZB 131/20) hat der BGH entschieden, dass sich die Aufhebbarkeit einer Auslandsehe, die mit einem Ehegatten geschlossen worden ist, der bei Eheschließung zwar das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte, nach §§ 1313 ff. BGB in der aktuell geltenden Fassung richtet. Die Überleitungsvorschriften der Art. 229 § 44 I und II EGBGB seien auf solche Ehen nicht – auch nicht entsprechend – anzuwenden. Bei der Frage, ob eine Minderjährigenehe bei Vorliegen des Aufhebungsgrundes des § 1314 I Nr. 1 BGB aufzuheben sei, komme dem Richter ein eingeschränktes Ermessen zu. Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen Aufbereitung – untersucht werden
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I. Sachverhalt (leicht verändert)

Die Ehegatten, damals beide libanesische Staatsangehörige muslimischen Glaubens, schlossen vor rund 19 Jahren im Libanon die Ehe. Zum Zeitpunkt der Ehe­schließung war der Mann (M) 21 Jahre alt, die Frau (F) stand rund zwei Monate vor ihrem 17. Geburtstag. 2 Jahre später immigrierte das Ehepaar nach Deutschland. In der Folgezeit wurden vier Kinder geboren. Vor ca. 2 Jahren trennten sich die Eheleute. Seit der Trennung leben die vier Kinder im Haushalt der F, die einen neuen Lebensgefährten hat. Die Ehegatten sind inzwischen nach islamischem Recht geschieden. Anlässlich einer standesamtlichen Beurkundung teilte F auf Nachfrage der Standesbeamtin mit, die Ehe nicht fortsetzen zu wollen. Daraufhin beantragte die Standesbehörde beim Amtsgericht, die Ehe aufzuheben, weil F bei der Eheschließung minderjährig gewesen sei.


II. Rechtliche Ausgangslage

Aufgrund des Umstands, dass eine Ehe sowohl besondere personenrechtliche als auch vermögensrechtliche Verpflichtungen beinhaltet, die (jedenfalls, was die vermögens­rechtlichen Verpflichtungen betrifft) auch nach einer Scheidung fortwirken können (man denke an Zugewinnausgleich, Unterhaltsansprüche, Versorgungsausgleich, Erb­rechte etc.), ver­steht es sich von selbst, dass die Rechtsordnung nur solche Eheschlie­ßungen zulassen kann, bei denen die Eheschließungswilligen die Tragweite ihrer Ent­scheidung auch ab­sehen können. Es erschiene geradezu paradox, wenn z.B. ein Min­derjähriger nicht am allgemeinen Rechtsverkehr teilnehmen, aber die Ehe schließen dürfte. Daher setzt eine Eheschließung Ehemündigkeit der Ehewilligen voraus. Diese ist vom Gesetzgeber an die auch sonst maßgebliche Volljährigkeit, also an die Voll­endung des 18. Lebensjahres (§ 2 BGB) gekoppelt (§ 1303 BGB).


Die bislang bestehende Möglichkeit, dass das Familiengericht auf An­trag eine Befreiung von dem erforderlichen Mindestalter erteilen kann, wenn der Antrag­steller das 16. Le­bensjahr vollendet hat und sein künftiger Ehepartner volljährig ist (§ 1303 II BGB a.F.), wurde mit Wirkung zum 22.7.2017 abgeschafft (BGBl I 2017, S. 2429). Diese ana­chronistische Regelung, die offenbar dem Umstand geschuldet war, eine schwangere minderjährige Frau verheiraten zu können, damit diese nicht ein „uneheliches“ Kind gebären muss, mag bis Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Berechtigung gehabt haben, ist aber in einer modernen Gesellschaft, in der sowohl die unverheiratete Mutter als auch das nichteheliche Kind den gleichen Schutz genießen wie verheiratete Mütter und ehe­liche Kinder (vgl. Art. 6 IV und V GG), nicht mehr erforderlich; im Übrigen sind die ur­sprünglichen Beweggründe für diese Re­gelung auch nicht mehr gewichtig genug, um die Argumente, die eine Ehemündigkeit be­gründen, zu tragen.


Ein weiterer Grund für die Knüpfung der Ehemündigkeit an die Volljährigkeit besteht darin, dass im Zuge der Migration von Flüchtlingen junge Frauen in die Bundesrepublik Deutsch­land eingereist sind, die teilweise bereits mit einem Alter von unter 14 Jahren (zwangsweise) verheiratet worden sind. Bei derart jungen Mädchen wird man kaum annehmen können, sie hätten die Tragweite ihrer Entscheidung erfasst oder gar eine Wahl gehabt. Richtig ist daher der Vorstoß des Gesetzgebers, eine Aufhebbarkeit bzgl. Ehen, die entgegen § 1303 S. 1 BGB mit Minderjährigen geschlossen worden sind, die zum Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr vollendet hatten, anzuordnen, und sogar eine Unwirksamkeit bzgl. solcher Ehen anzuordnen, die mit Minder­jährigen geschlossen worden sind, die noch nicht das 16. Le­bensjahr vollendet haben (§ 1303 S. 2 BGB).


Ist die Unwirksamkeitsanordnung bzgl. solcher Ehen, die mit Minder­jährigen ge­schlossen worden sind, die noch nicht das 16. Le­bensjahr vollendet haben (§ 1303 S. 2 BGB), noch so sehr zu begrüßen, darf nicht übersehen werden, dass sie auch Pro­bleme mit sich bringen kann, etwa für den Fall des Vor­handenseins von Kindern, die bei einer Unwirksamkeitserklärung in Bezug auf die Ehe ohne juristischen Vater da­stünden. Zwar hat der Gesetzgeber mit der Regelung in Art. 229 § 44 I S. 1 EGBGB eine Über­leitungsvorschrift geschaffen, wonach die Neu­rege­lung (d.h. § 1303 S. 2 BGB n.F.) für Ehen, die vor Inkraft­treten der Neurege­lung geschlossen worden sind, nicht anzuwenden ist. An die Stelle der Unwirksamkeit tritt die Aufhebbarkeit nach den Rege­lungen, die vor Inkrafttreten der Neuregelung bestanden, Art. 229 § 44 I S. 2 EGBGB. Jedoch ist zu beachten, dass sich die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 44 I EGBGB aufgrund der ausdrücklichen Bezugnahme auf § 1303 S. 2 BGB nur auf im Inland ge­schlossener Ehen beziehen kann (BGH 22.7.2020 – XII ZB 131/20 Rn. 20 unter Berufung auf BT-Drs. 18/12086 S. 24; BR-Drs. 275/17 S. 26). Bezüglich im Ausland ge­schlossener Ehen mit Per­sonen, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, gilt die Regelung des Art. 229 § 44 IV EGBGB, der auf Art. 13 III Nr. 1 EGBGB ver­weist (BGH 22.7.2020 – XII ZB 131/20 Rn. 20).


In Bezug auf eine Ehe, die mit einem Minderjährigen geschlossen worden ist, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, greift die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 44 EGBGB nicht. So bezieht sich Art. 229 § 44 I EGBGB lediglich auf eine Ehe, die mit einer Person geschlossen worden ist, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Zudem betrifft Art. 229 § 44 I EGBGB lediglich Inlandsehen (s.o.). Art. 229 § 44 II EG­BGB bezieht sich zwar auch auf § 1303 S. 1 BGB, knüpft aller­dings an den Umstand an, dass die Ehe unter Befreiung vom Erfordernis der Voll­jährig­keit nach § 1303 II-IV BGB a.F. (das sind die oben genannten Fälle) ge­schlossen worden ist. Das impliziert zugleich, dass es sich zwingend um Inlandsehen handeln muss, denn hinsichtlich Aus­landsehen konnte es keine Befreiung vom Erfordernis der Voll­jährig­keit nach § 1303 II-IV BGB a.F. geben. Daher gilt in Bezug auf eine Ehe, die mit einem Minderjährigen ge­schlossen worden ist, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, die Regelung des § 1303 S. 1 BGB mit der Mög­lichkeit der Aufhebung nach § 1314 I Nr. 1 BGB. Das gilt auch für Ehen, die im Ausland geschlossen worden sind. Denn nach Art. 13 III Nr. 2 EGBGB ist die Ehe, auch wenn die Ehemündigkeit eines Verlobten nach Art. 13 I EGBGB aus­ländischem Recht unterliegt, aufhebbar, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschlie­ßung das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte. Die auf den ersten Blick freilich nicht leicht zu überblickende Regelung war Gegenstand des vorliegend besprochenen BGH-Be­schlusses.


III. Die Entscheidung des BGH
Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Ehe könnten gem. § 1314 I Nr. 1 BGB vor­liegen. Danach kann eine Ehe aufgehoben werden, wenn sie entgegen § 1303 S. 1 BGB mit einem Minderjährigen geschlossen worden ist, der im Zeitpunkt der Eheschlie­ßung das 16. Lebensjahr vollendet hatte. Jedoch könnte sich etwas anderes aus der Über­leitungsvorschrift des Art. 229 § 44 I S. 1 EGBGB ergeben, wonach die Neuregelung (d.h. § 1303 S. 1 und § 1314 I Nr. 1 BGB n.F.) für Ehen, die vor Inkrafttreten der Neuregelung geschlossen worden sind, nicht anzuwenden ist. Die vorliegend zu beur­teilende Ehe fällt in diese zeitliche Ebene. Allerdings greift die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 44 EGBGB nicht. So bezieht sich Art. 229 § 44 I EGBGB lediglich auf eine Ehe, die mit einer Person geschlossen worden ist, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. F war zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits 16 Jahre alt. Zudem betrifft Art. 229 § 44 I EGBGB lediglich Inlandsehen (s.o.). Art. 229 § 44 II EGBGB bezieht sich zwar auch auf § 1303 S. 1 BGB (und damit auf Ehen, bei denen einer der Eheschließenden das 16., aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat), knüpft allerdings an den Um­stand an, dass die Ehe unter Befreiung vom Erfordernis der Volljährigkeit nach § 1303 II-IV BGB a.F. (das sind die oben genannten Fälle) geschlossen worden ist. Das impliziert zugleich, dass es sich zwingend um Inlandsehen handeln muss, denn hinsicht­lich Auslandsehen konnte es keine Befreiung vom Erfordernis der Volljährigkeit nach § 1303 II-IV BGB a.F. geben. Daher gilt in Bezug auf eine Ehe wie die vorliegend zu beurteilende, die mit einem Minderjährigen geschlossen worden ist, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, die Regelung des § 1303 S. 1 BGB mit der Möglichkeit der Aufhebung nach § 1314 I Nr. 1 BGB. Das gilt auch für Ehen, die im Ausland geschlossen worden sind. Denn nach Art. 13 III Nr. 2 EGBGB ist die Ehe, auch wenn die Ehemündigkeit eines Verlobten nach Art. 13 I EGBGB ausländischem Recht unterliegt, aufhebbar, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr voll­endet hatte.


Der BGH greift bei Rn. 21-24 seines Beschlusses noch die Auffassung auf, die eine ana­loge Anwendung des (wie aufgezeigt nur für Inlandsehen geltenden) Art. 229 § 44 II EGBGB auf vor dem 22.7.2017 geschlossene Auslandsehen von Minderjährigen annimmt. Zu Recht folgt der BGH dieser Auffassung nicht. Der Gesetzgeber habe klar formuliert, dass die Regelung, die zur Aufhebbarkeit von Ehen getroffen wurde, die mit einer Person geschlossen worden sind, die bei Eheschließung das 16., nicht aber das 18. Lebensjahr vollendet hatte, auch für nach ausländischem Recht wirksam geschlossene Ehen gelten soll (Rn. 23 des Beschlusses mit Verweis auf BT-Drs. 18/12086 S. 1 f.; BR-Drs. 275/17 S. 1 f.). Für eine Analogie fehlt daher bereits die Planwidrigkeit einer etwaigen Regelungslücke.


Zwischenergebnis: Insoweit bleibt festzuhalten, dass die zwischen M und F geschlossene Ehe der Aufhebungsmöglichkeit des § 1314 I Nr. 1 BGB unterliegt.

 

Dem könnte allerdings der Ausschlussgrund des § 1315 I S. 1 Nr. 1 BGB entgegen­stehen. Danach ist bei einem Verstoß gegen § 1303 S. 1 BGB eine Aufhebung der Ehe ausge­schlossen, wenn der minderjährige Ehegatte, nachdem er volljährig geworden ist, zu er­kennen gegeben hat, dass er die Ehe fortsetzen will (Bestätigung), oder aufgrund außer­gewöhn­licher Umstände die Aufhebung der Ehe eine so schwere Härte für den minder­jährigen Ehegatten darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahms­weise ge­boten erscheint.


F hat nicht zu erkennen gegeben, dass sie die Ehe fortsetzen will. Im Gegenteil, sie hat ausdrücklich zu verstehen gegeben, die Ehe nicht fortsetzen zu wollen. Außergewöhn­liche Umstände, nach denen die Aufhebung der Ehe eine so schwere Härte für F darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahms­weise ge­boten erscheint, sind ebenfalls nicht ersichtlich. Der Ausschlusstatbestand des § 1315 I S. 1 Nr. 1 BGB greift also nicht.


Mithin bleibt es also bei der Aufhebbarkeit nach § 1314 I Nr. 1 BGB. Das wirft aber die Frage auf, ob bei Vorliegen dieses (oder eines anderen) Aufhebungsgrundes die Ehe auch aufgehoben werden muss. Dagegen spricht der klare Wortlaut des § 1314 I Nr. 1 BGB, wo von „kann aufgehoben werden“ die Rede ist. Der Wortsinn dieser Formulierung deutet also auf ein Ermessen hin. Gleichwohl wird insbesondere in der Literatur die Auffassung vertreten, dass das Familiengericht bei Vorliegen eines Aufhebungsgrundes die Ehe auch aufheben muss (der BGH verweist bei Rn. 35 seines Beschlusses auf Coester-Waltjen, IPrax 2017, 429, 434; Erbarth, FamRB 2018, 296, 297; Löhnig, FamRZ 2018, 749, 750; Onwuagbaizu, NZFam 2019, 465, 467; Rauscher, NJW 2018, 3421, 3422). Das „kann“ in § 1314 BGB stelle die Aufhebung einer Ehe lediglich in den Machtbereich des Gerichts, nicht in dessen Ermessen (Hahn, in: BeckOK, § 1314 Rn. 1 (54. Edition, Stand: 1.5.2020) mit Verweis auf Löhnig, FamRZ 2018, 749. Auch bei Brudermüller, in: Palandt, 79. Aufl. 2020, § 1314 Rn. 1, heißt es: „ermöglichen soll“, was nicht auf ein Ermessen des Gerichts hindeutet.). Diese Auffassung versteht das Wort „kann“ also als „Kompetenz-Kann“, nicht als „Ermessens-Kann“. Der BGH ist dieser Auffassung entgegengetreten (Rn. 37 des Beschlusses). Er hat beschlossen, dass dem Familiengericht ein Ermessen bei der Entscheidung über die Aufhebung zusteht. Zwar sprächen die Erwägungen des Gesetzgebers in den Gesetzesmaterialien eher gegen die Annahme, dass § 1314 I Nr. 1 BGB dem Familiengericht bei einem Verstoß gegen das Ehemündigkeitsalter durch Eheschließung eines 16 oder 17 Jahre alten Minderjährigen bei der Aufhebungsentscheidung ein Ermessen einräume (Rn. 38 des Beschlusses mit Verweis auf den Willen des Gesetzgebers). Der Gesetzgeber führe aus, die Aufhebung habe „grundsätzlich immer zu erfolgen“ (BT-Drs. 18/12086 S. 2; BR-Drs. 275/17 S. 1) bzw. solle „den Regelfall darstellen“ (BT-Drs. 18/12086 S. 15; BR-Drs. 275/17 S. 15), gleichwohl spreche der Wortlaut des § 1314 BGB für die Einräumung eines Ermessens; anderenfalls hätte es „muss“ lauten müssen (Rn. 39 des Beschlusses). Die Verneinung eines gerichtlichen Ermessens würde in den Fällen der Eheaufhebung wegen Verstoßes gegen das Erfordernis der Ehemündigkeit zudem zur Verfassungswidrigkeit der Norm führen, weshalb sie verfassungskonform ausgelegt werden müsse (Rn. 42 ff. des Beschlusses). Denn eine – außer bei Vorliegen eines Aufhebungsausschlusses – zwingende Eheaufhebung würde eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung sowohl mit nach deutschem Recht geschlossenen Ehen als auch mit Auslandsehen darstellen, bei denen ein Ehegatte bei Eheschließung jünger als 16 Jahre gewesen sei (Rn. 46 des Beschlusses). Die Annahme einer zwingenden Eheaufhebung unter Ausschluss eines gerichtlichen Ermessens wäre zudem unvereinbar mit dem von Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 GG gebotenen Schutz des Kindeswohls (Rn. 47 des Beschlusses). Schließlich verstieße eine Auslegung, nach der § 1314 I Nr. 1 BGB dem Gericht bei Vorliegen des Eheaufhebungsgrundes kein Ermessen gewährt, auch gegen Art. 6 I GG unter dem Gesichtspunkt des aus Art. 20 III GG abgeleiteten Vertrauensschutzes (Rn. 48 des Beschlusses). Dem sei mit einer Gesetzesauslegung zu begegnen, nach der das Gericht von einer Eheaufhebung ausnahmsweise absehen könne, wenn feststehe, dass die Aufhebung in keiner Hinsicht unter Gesichtspunkten des Minderjährigenschutzes geboten sei, sondern vielmehr gewichtige Umstände gegen sie sprächen (Rn. 50 des Beschlusses). Im zu entscheidenden Fall führe diese Ermessensausübung zum Absehen von der Eheaufhebung. Umstände, die eine Eheaufhebung zum Schutz der bei Eheschließung fast 17-jährigen Ehefrau gebieten würden, lägen nicht vor. Vielmehr sei sie inzwischen 35 Jahre alt, habe die fast 14 Jahre des ehelichen Zusammenlebens mit dem Antragsgegner ausschließlich in Deutschland verbracht und nach Erreichen der Volljährigkeit mit diesem zusammen vier eheliche Kinder gezeugt. Eine Eheaufhebung würde mithin in krassem Gegensatz zu der langjährig bewusst im Erwachsenenalter gelebten Familienwirklichkeit stehen. Soweit die Ehefrau die Aufhebung der langjährig gelebten Ehe wünsche, führe dies zu keinem anderen Ergebnis der Ermessensausübung, weil die Ehefrau über die Aufhebung der Ehe nicht disponieren könne. Vielmehr stehe ihr insoweit die Scheidung der Ehe offen (Rn. 52 des Beschlusses).


Stellungnahme: Der BGH begründet seine Auffassung ausführlich und zeigt auf, warum nicht nur das Wortlautargument für die Annahme einer gerichtlichen Ermessensentscheidung spricht, sondern auch eine verfassungskonforme Auslegung zu diesem Ergebnis zwingt. Zwar hat der Gesetzgeber bereits mit § 1315 I Nr. 1 BGB Ausschlussgründe formuliert, dabei aber nicht die Kindeswohlinteressen berücksichtigt, die einer Eheauflösung entgegenstehen könnten. Und auch für die Frau, die sich aus der Ehe lösen möchte, könnte die Aufhebung, über die sie ja nicht disponieren kann, unzumutbare Folgen bewirken, denn das nacheheliche Unterhaltsrecht, der Versorgungsausgleich und der Zugewinnausgleich knüpfen an die Scheidung an. § 1318 BGB ordnet zwar die Geltung der meisten, aber nicht aller Scheidungsfolgenrechte an. Der BGH-Beschluss führt also richtigerweise dazu, dass trotz Vorliegens eines Aufhebungsgrundes (§ 1314 BGB) und Nichtvorliegens eines Ausschlussgrundes (§ 1315 BGB) die Aufhebung nicht die zwingende Rechtsfolge ist. Vielmehr ist dem Gericht ein Ermessen einzuräumen, um den Grundrechten der Beteiligten auf Rechtsfolgenseite hinreichend Rechnung tragen zu können. Daher kann das Familiengericht etwa auch die Aufhebung der Ehe versagen, wenn sie mit Kindeswohlinteressen nicht vereinbar wäre.


Rolf Schmidt (17.08.2020)

 


 



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