Aktuelles 2020 Zur Strafbarkeit des sog. Stealthing

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14.08.2020: Zur Strafbarkeit des sog. Stealthing



KG, Beschl. v. 27.07.2020 – 4 Ss 58/20; 161 Ss 48/20 
 

Mit Beschluss v. 27.07.2020 (4 Ss 58/20) hat das Kammergericht (so lautet die Bezeichnung des Oberlandesgerichts Berlin) entschieden, dass das sog. Stealthing (also das heimliche Abstreifen des Kondoms beim Geschlechtsverkehr) jedenfalls dann den Tatbestand des
sexuellen Übergriffs gem. § 177 I StGB erfüllt, wenn der Täter das Opfer nicht nur gegen dessen Willen in ungeschützter Form penetriert, sondern im weiteren Verlauf dieses ungeschützten Geschlechtsverkehrs darüber hinaus in den Körper des bzw. der Geschädigten ejakuliert. Auch liege unter diesen Voraussetzungen das Regelbeispiel des § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB (Vergewaltigung) vor. Ob das auch gilt, wenn es nicht zu einer Ejakulation gekommen wäre, und ob die Entscheidung generell überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen Aufbereitung – untersucht werden.



I. Sachverhalt (leicht verändert)

Zwischen dem zum Tatzeitpunkt 36 Jahre alten Täter T (einem Bundespolizisten) und dem zum Tatzeitpunkt 20 Jahre alten Opfer O (einer Polizeianwärterin, welche er zuvor auf einer Internetplattform kennengelernt hatte), kam es bei einem Treffen zunächst einvernehmlich zu sexuellen Handlungen. Vor dem eigentlichen Geschlechtsverkehr hatte das spätere Opfer jedoch mehrfach deutlich und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie auf keinen Fall Geschlechtsverkehr ohne Kondom haben wolle. Daraufhin zog der spätere Täter vor dem Eindringen ein Kondom über seinen Penis. Während des Geschlechtsakts streifte der Täter dann jedoch das Kondom im Zuge eines Stellungswechsels heimlich ab und ejakulierte anschließend in die Vagina der Geschädigten.



II. Rechtliche Ausgangslage

Als Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung werden die im 13. Abschnitt des StGB genannten Straftatbestände der §§ 174 bis 184j bezeichnet. Bei diesen geht es um die strafrechtliche Sanktionierung von unterschiedlichen Verhaltensweisen, die unterschiedliche Rechtsgüter verletzen. Allen gemeinsam ist der Sexualbezug der Tathandlungen. Es steht die sexuelle Handlung im Mittelpunkt der Strafnormen. Diese liegt gemäß der Legaldefinition des § 184h Nr. 1 StGB vor, wenn die Handlung im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit ist. Als erheblich in diesem Sinne sind nach dem BGH solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts bedeuten. Dazu bedürfe es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut (BGH NStZ 2018, 91, 92 m.w.Nachw. aus der Rspr. des BGH).

 

1. Sexueller Übergriff (§ 177 I StGB)
Den Grundtatbestand innerhalb der Strafnorm des § 177 StGB bildet § 177 I StGB. Danach macht sich strafbar, wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vor­nehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt. Schutzgut der Vorschrift ist nach allgemeiner Auffassung die sexuelle Selbstbestimmung. Darunter ist die Freiheit zu verstehen, über Zeitpunkt, Art und Form der sexuellen Betätigung und den Partner dafür selbst zu entscheiden (KG 27.7.2020 – 4 Ss 58/20). Die Strafandrohung liegt bei sechs Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe, ist gem. § 12 II StGB also ein Vergehen.



Maßgebliches Tatbestandsmerkmal ist der entgegenstehende erkennbare Wille des Op­fers. Ein sexuellen Handlungen entgegenstehender Wille liegt vor, wenn die betroffene Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen nicht bereit ist, wenn also die Freiwilligkeit nicht vorliegt. Der innerlich gebildete entgegenstehende Wille muss (aus der Sicht eines objektiven Dritten) auch erkennbar sein. „Erkennbar“ soll nach Auffassung des Gesetzgebers der entgegenstehende Wille sein, wenn das Op­fer ihn zum Tatzeitpunkt entweder ausdrücklich (verbal) erklärt oder zumindest konkludent (etwa durch Weinen oder Abwehren der sexuellen Handlung) zum Ausdruck bringt (BT-Drs. 18/9097, S. 22 f.; siehe auch BGH NStZ 2019, 516, 517). Damit folgt der Gesetzgeber der sog. „Nein-heißt-nein-Lösung“.



2. Ausnutzen besonderer Umstände; sexuelle Nötigung (§ 177 II StGB)

Gemäß § 177 II StGB wird ebenso bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt. Diese Vorschrift, die eine Er­kennbarkeit des entgegenstehenden Willens nicht voraussetzt, erfasst nach dem Willen des Gesetzgebers Konstellationen, in denen (1) dem Opfer das Erklären eines entgegenstehenden Willens entweder nicht zumutbar ist, sodass selbst eine ge­äußerte Zustimmung nicht tragfähig wäre, oder (2) ihm das Erklären eines entgegenstehenden Willens objektiv nicht möglich ist (vgl. BT-Drs. 18/9097, S. 23). Hinzukommen muss aber die Verwirklichung eine der in der Vorschrift genannten Nummern.



3. Strafbarkeit des Versuchs (§ 177 III StGB)

§ 177 III StGB ordnet die Strafbarkeit des Versuchs an und bezieht sich systematisch auf die Tatbestände der Absätze I und II des § 177 StGB. Bei diesen Tatbeständen handelt es sich um Vergehen gem. § 12 II StGB, da die Mindeststrafe unter einem Jahr Freiheitsstrafe liegt. Da nur der Versuch eines Verbrechens, also gem. § 12 I StGB einer rechtswidrigen Tat, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist, stets strafbar ist und der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich anordnet (siehe § 23 I StGB), bedurfte es einer Strafbarkeitsandrohung, die der Gesetzgeber mit § 177 III StGB vorgenommen hat. Freilich sind damit nicht die Probleme gelöst, die sich bei einem Vergewaltigungsversuch ergeben können, siehe hierzu Punkt 6a.



4. Sexueller Missbrauch kranker oder behinderter Menschen (§ 177 IV StGB)

§ 177 IV StGB qualifiziert die Tat (nach § 177 I StGB oder § 177 II StGB) zu einem Verbrechen und ist verwirklicht, wenn die Unfähigkeit des Opfers, einen Willen zu bilden oder zu äußern, auf einer Krankheit oder Behinderung beruht. Vorausgesetzt wird also eine Krankheit oder Behinderung, die die Willensbildung oder -äußerung ausschließt. Zur Definition des Be­griffs „Behinderung“ stellt der Gesetzgeber auf § 2 I S. 1 SGB IX ab, wonach eine Behinderung ge­geben ist, wenn die körperliche Funktion, die geistige Fähigkeit und/oder die seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher die Teilhabe des Betroffenen am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt ist. Hinsichtlich des Begriffs „Krankheit“ verweist der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung der Sozialgerichte, wonach Krankheit als ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand definiert wird, der Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge habe (BT-Drs. 18/9097, S. 26). Verwirklicht ist § 177 IV StGB, wenn der Täter an einem kranken oder behinderten Menschen eine Tathandlung i.S.d. § 177 I oder § 177 II StGB begeht. Das Mindeststrafmaß des § 177 IV StGB liegt bei einem Jahr Freiheitsstrafe. Wegen § 38 II StGB liegt das Höchstmaß bei 15 Jahren.



5. Sexuelle Nötigung; Ausnutzung von Schutzlosigkeit (§ 177 V StGB)

Ebenfalls eine Tatbestandsqualifikation mit der Einstufung als Verbrechen normiert § 177 V StGB, wenn der Täter mindestens eine der in der Vorschrift genannten Handlungen vornimmt. So erfasst Nr. 1 den Fall, dass der Täter Gewalt anwendet. Erforderlich ist eine gegen den Körper gerichtete Kraftentfaltung zur Überwindung eines Widerstands. Dazu zählen bspw. das Festhalten des Opfers, dessen Fesselung oder Betäubung (etwa mit K.-o.-Tropfen). Nr. 2 sanktioniert den Fall, dass der Täter dem Opfer mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht, und nach Nr. 3 macht sich der Täter schließlich strafbar, wenn er eine Lage ausnutzt, in der das Opfer seiner Einwirkung schutzlos ausgeliefert ist, was etwa der Fall ist, wenn der Täter das Opfer zunächst einsperrt und dann aufgrund eines neuen Tatentschlusses sexuell missbraucht. Das Mindeststrafmaß des § 177 V StGB liegt (wie das des § 177 IV StGB) bei einem Jahr Freiheitsstrafe. Wegen § 38 II StGB liegt das Höchstmaß ebenfalls bei 15 Jahren.   



6. Besonders schwere Fälle (§ 177 VI StGB)

a. Rechtsnatur des § 177 VI StGB als Strafzumessungsvorschrift

Bei § 177 VI StGB handelt es nicht um einen Tatbestand, sondern um eine sog. Strafzumessungsvorschrift mit zwei Regelbeispielen besonders schwerer Fälle:



  • Der Täter vergewaltigt das Opfer (Nr. 1)
  • Die Tat wird von mehreren gemeinschaftlich begangen (Nr. 2)



Mit den Vorschriften über besonders schwere Fälle möchte der Gesetzgeber dem erhöhten Unrechts- und Schuldgehalt einer Tat gerecht werden und dem Tatgericht eine flexible Möglichkeit geben, das begangene Unrecht adäquat zu sanktionieren, ohne sich des Instruments der Tatbestandsqualifikation zu bedienen. Das wirft die Frage nach dem Zweck dieser Regelungstechnik auf, denn dem erhöhten Unrechts- und Schuldgehalt einer Tat könnte der Gesetzgeber ja auch mit Tatbestandsqualifikationen begegnen. Die Regelungstechnik der besonders schweren Fälle wird aber nachvollziehbar, wenn man folgende Überlegungen verinnerlicht:



Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Begriff des „besonders schweren Falls“ um einen höchst unbestimmten Rechtsbegriff (Gesetzesbegriff) handelt. Um daher dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot (Art. 103 II GG), das nicht nur für Straftatbestände, sondern selbstverständlich auch für die Vorschriften über besonders schwere Fälle gilt, gerecht zu werden, hat der Gesetzgeber in den meisten Vorschriften über besonders schwere Fälle (so auch bei § 177 VI StGB) Regelbeispiele genannt, die eine widerlegliche Vermutung für das Vorliegen eines besonders schweren Falls aussprechen. Die Verwirklichung eines Regelbeispiels hat also Indizwirkung zur Annahme eines besonders schweren Falls: Bei Vorliegen eines Regelbeispiels besteht eine widerlegliche Vermutung dafür, dass die Tat insgesamt als besonders schwer einzustufen ist und damit der in der Vorschrift genannte strengere Strafrahmen Anwendung findet. Bestehen also keine Anhalts­punkte, die den erhöhten Unrechts- und Schuldgehalt kompensieren, ist der Täter – in Bezug auf § 177 StGB – aus dem im Vergleich zu § 177 I oder II StGB höheren Strafrahmen des § 177 VI S. 1 StGB (2-15 Jahre Freiheitsstrafe) zu bestrafen.



Diese Vorgehensweise ist nicht zufällig, sondern hat mit Blick auf § 12 III StGB und § 22 StGB ganz bestimmte Auswirkungen:



  • Zunächst bleibt die Tat wegen § 12 III StGB ein Vergehen, wenn es sich bei dem Grunddelikt um ein Vergehen handelt. In Bezug auf die Vergewaltigung bedeutet das: Handelt es sich bei der Grundtat lediglich um einen sexuellen Übergriff gem. § 177 I StGB bzw. eine sexuelle Nötigung gem. § 177 II StGB (der Täter hat also nicht noch einen der Verbrechenstatbestände des § 177 IV, V, VII oder VIII StGB verwirklicht), bleibt auch die Vergewaltigung trotz der angedrohten Mindeststrafe von zwei Jahren ein Vergehen i.S.d. § 12 II StGB.



            Zum gesetzessystematischen Hintergrund: Gemäß § 12 III StGB bleiben Schärfungen oder Milderungen, die für

            besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind, für die Einteilung in Verbrechen und Vergehen außer

            Betracht (s.o.). So bleibt der sexuelle Übergriff i.S.d. § 177 I StGB auch dann ein Vergehen i.S.d. § 12 II StGB, wenn ein

            besonders schwerer Fall gem. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB (Vergewaltigung) vorliegt.



  • Auf den ersten Blick hat das zwar keine Auswirkungen auf die Versuchsstrafbarkeit, da § 177 III StGB die Strafbarkeit des Versuchs des § 177 I bzw. II StGB anordnet. Jedoch ist gesetzessystematisch – wie sich aus § 22 StGB ergibt – ein Versuch lediglich bei Tatbeständen denkbar, nicht auch bei Strafzumessungsvorschriften wie § 177 VI StGB. Jedoch ist zumindest in einigen Konstellationen anerkannt, die straferhöhende Wirkung des Regelbeispiels bei der Versuchsstrafbarkeit zu berücksichtigen. Es lassen sich drei Konstellationen unterscheiden:



  • Grundtatbestand erfüllt – Regelbeispiel „versucht“
  • Grundtatbestand versucht – Regelbeispiel „versucht“
  • Grundtatbestand versucht – Regelbeispiel erfüllt



In der ersten Konstellation macht die überwiegende Auffassung die straferhöhende Wirkung des Regelbeispiels von dessen vollständiger Verwirklichung abhängig. Die Versuchsregeln der §§ 22, 23 StGB könnten auf die Regelbeispiele (Strafzumessungsregeln) nicht übertragen werden, da diese gerade keine Tatbestände darstellten. Danach kann ein „versuchtes“ Regelbeispiel nur im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Tat zu einem unbenannten besonders schweren Fall führen oder bei der Strafzumessung des Grunddelikts berücksichtigt werden. In Bezug auf § 177 StGB bedeutet das: Der Täter verwirklicht einen der Tatbestände des § 177 I oder II StGB, scheitert aber bei dem Versuch der Vergewaltigung. Da der Gesetzgeber die Vergewaltigung nicht als Tatbestand eingestuft hat, sondern ihr nur mit dem Mittel einer Strafzumessungsregel begegnet, kann es rechtskonstruktiv keine versuchte Vergewaltigung bzw. keinen Vergewaltigungsversuch geben. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB ist insofern nicht anwendbar. Das im Vergleich zu § 177 I bzw. II StGB gesteigerte Unrecht kann lediglich im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Tat zu einem unbenannten besonders schweren Fall führen oder im Rahmen der Strafzumessung des § 177 I bzw. II StGB Berücksichtigung finden. Das Wort „Vergewaltigungsversuch“ findet sich aber nicht im Urteilstenor wieder, weswegen schon allein deshalb deutlich wird, dass die Einstufung der Vergewaltigung als Regelbeispiel dem Opferschutz nicht gerecht wird.



In der zweiten Konstellation stellt sich die gleiche Frage, nämlich, ob das gewollte, aber nicht verwirklichte Regelbeispiel zur Annahme eines Versuchs in einem besonders schweren Fall führen kann. Folgt man der aus gesetzessystematischer Sicht allein richtigen Auffassung, ist ein Täter, der einen der Tatbestände des § 177 I oder II StGB versucht, um das Opfer zu vergewaltigen, nicht aus §§ 177 I oder II, 22, 23 I, 12 II i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB strafbar, sondern (lediglich) aus §§ 177 I oder II, 22, 23 I, 12 II StGB. Freilich ist auch hier denkbar, aufgrund einer Gesamtbewertung der Tat einen unbenannten besonders schweren Fall (§§ 177 I oder II, 22, 23 I, 12 II i.V.m. § 177 VI S. 1 StGB) anzunehmen. Das Wort „Vergewaltigungsversuch“ findet sich aber auch hier nicht im Urteilstenor wieder, weswegen erneut deutlich wird, dass die Einstufung der Vergewaltigung als Regelbeispiel dem Opferschutz nicht gerecht wird.



 Die dritte Konstellation ist im Rahmen einer Vergewaltigung nicht vorstellbar. Denn es müsste ja ein Fall vorliegen,

in dem der Täter keinen der Tatbestände des § 177 I oder II StGB objektiv erfüllt, gleichwohl aber das Opfer vergewaltigt.



  • Schließlich kann der nach ganz h.M. für Strafzumessungsvorschriften geltende Aufbaugrundsatz, dass sie zwingend nach der Schuld des Grunddelikts zu prüfen sind, misslich sein, wenn der Täter bspw. schuldunfähig ist. Denn dann kann insbesondere der Erschwernisgrund der Vergewaltigung nicht mehr geprüft werden.



b. Keine Änderung an der Rechtsnatur durch die letzte Sexualstrafrechtsreform 2017

Die Strafandrohung von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gesetzgeber leider auch in der jüngsten Gesetzesreform 2017 offenbar nach wie vor keine Veranlassung gesehen hat, die Vergewaltigung als Tatbestandsqualifikation einzustufen. Der Vergewaltigung und der gemeinschaftlichen Tat­ausübung lediglich mit Strafzumessungsvorschriften (und nicht mit eigenen Tatbeständen) zu begegnen, wird – wie aus den obigen Ausführungen deutlich geworden sein sollte – weder dem Unrechtsgehalt noch dem Opferschutz gerecht. Davon abgesehen gilt aber:



c. Vergewaltigung

§ 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB erfasst die Vergewaltigung, die gemäß der in der Vorschrift formulierten Legaldefinition vorliegt, wenn der Täter (nach § 177 I oder § 177 II StGB), ggf. unter Verwirklichung einer Qualifikation nach § 177 IV, V, VII oder VIII StGB) mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper (also mit einer Penetration) verbunden sind.



  • Unter Beischlaf ist das Eindringen des Gliedes in die Scheide zu verstehen. Eindringen anderer Körperteile in die Scheide und das Eindringen des Gliedes in andere Körperöffnungen sind zwar ebenfalls Formen der Penetration, aber keine des Beischlafs; sie stellen aber ähnliche sexuelle Handlungen dar, wozu gerade das Einführen des Gliedes in Mund oder Anus (siehe dazu auch BGH NStZ 2019, 516, 517 – Versuch der Analpenetration), das Einführen anderer Körperglieder (wie z.B. Finger) in Scheide, Mund oder Anus und das Einführen körperfremder Gegenstände in Scheide, Mund oder Anus zählen.
  • Eine besondere Erniedrigung liegt vor, wenn das Opfer in gravierender, über die Verwirklichung der Tatbestände des § 177 I oder II StGB hinausgehender Weise zum bloßen Objekt sexueller Willkür des Täters herabgewürdigt wird und dies gerade in der Art und Ausführung der sexuellen Handlung zum Ausdruck kommt (vgl. Fischer, § 177 Rn. 150). Ein Eindringen in den Körper stellt gemäß der gesetzlichen Formulierung (siehe § 177 VI S. 2 Nr. 1 a.E. StGB) stets eine besondere Erniedrigung dar. Das Einführen des Gliedes in Mund oder Anus, das Einführen anderer Körperglieder in Scheide, Mund oder Anus und das Einführen körperfremder Gegenstände in Scheide, Mund oder Anus erfüllen dieses Kriterium regelmäßig.



d. Eine von mehreren gemeinschaftlich begangene Sexualstraftat

Das Regelbeispiel der Nr. 2 verlangt, dass eine Sexualstraftat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird, was im vorliegenden Zusammenhang jedoch keine Rolle spielt.



III. Zum Ausgangsfall

Das im Sachverhalt beschriebene, als Stealthing bezeichnete Phänomen dürfte, da der ungeschützte Geschlechtsverkehr nicht konsentiert war, jedenfalls den Straftatbestand des § 177 I StGB verwirklichen, da er der ungeschützte Geschlechtsverkehr dem erkennbaren Willen der O zuwiderlief. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass O das Stealthing (erst) später bemerkte. Denn zum Zeitpunkt des Beginns der Ausübung des Geschlechtsverkehrs ging sie davon aus, dass T ein Kondom benutzt. Das heimliche Abstreifen des Kondoms verletzte O in ihrem sexuellen Selbstbestimmungsrecht (So bereits R. Schmidt, StrafR BT I, 21. Aufl. 2019, Rn. 567f; vgl. später auch die vorliegend besprochene Entscheidung KG 27.7.2020 – 4 Ss 58/20). Denn sie machte die Zustimmung zum Geschlechtsverkehr von der Benutzung eines Kondoms abhängig. Irrelevant ist daher auch ein Ausbleiben einer Schwangerschaft oder einer Geschlechtskrankheit. Denn die Motive, auf die Benutzung eines Kondoms zu bestehen, sind unbedeutend.



Das Kammergericht (KG) ist bzgl. der Annahme des § 177 I StGB etwas zurückhaltender. Es hat entschieden, dass das Stealthing jedenfalls dann den Tatbestand des sexuellen Übergriffs gem. § 177 I StGB erfüllt, wenn der Täter das Opfer nicht nur gegen dessen Willen in ungeschützter Form penetriert, sondern im weiteren Verlauf dieses ungeschützten Geschlechtsverkehrs darüber hinaus in den Körper des bzw. der Geschädigten ejakuliert. Denn in diesem Fall weise das Verhalten des Täters im Vergleich zum konsentierten Verkehr mit Kondom eine andere (sexualstraf-)rechtliche Qualität von strafbarkeitsbegründender Erheblichkeit auf, sodass dieser Geschlechtsverkehr als tatbestandsmäßige sexuelle Handlung im Sinne des § 177 I StGB anzusehen sei (KG 27.7.2020 – 4 Ss 58/20). Mit Blick gerade auf diese Begründung wird man davon ausgehen müssen, dass das KG wohl keinen Fall des § 177 I StGB angenommen hätte, wenn es nicht zu einer Ejakulation in den Körper des Opfers gekommen wäre. Das wäre aber abzulehnen. Denn wie aufgezeigt, umfasst das Recht der sexuellen Selbstbestimmung auch die Entscheidung, nur geschützten Geschlechtsverkehr auszuüben. Denn die Benutzung eines Kondoms soll nicht nur vor ungewollten Schwangerschaften schützen, sondern auch vor der Übertragung von Geschlechtskrankheiten. Daher kann es bei § 177 I StGB nicht darauf ankommen, ob der Täter in den Körper des Opfers ejakuliert. Der Tatbestand des § 177 I StGB ist stets erfüllt, wenn der Täter absprachewidrig das Kondom abstreift und in einer die sexuelle Selbstbestimmung verletzenden Weise den Geschlechtsverkehr fortsetzt. Das Ejakulieren in den Körper des Opfers ist also nicht strafbarkeitsbegründend (das ist allein das Stealthing), sondern führt zu einer Erhöhung der Strafbemessung (§ 177 I StGB lässt eine Bestrafung von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu).

 

Ergebnis zu § 177 I StGB: Beim Stealthing verwirklicht der Täter den Tatbestand des § 177 I StGB. Denn er missachtet die Entscheidung des Opfers, Geschlechtsverkehr nur mit Kondom auszuüben, und verletzt damit dessen sexuelles Selbstbestimmungsrecht. Dabei spielt es keine Rolle, ob

 

  • das Opfer das Abziehen des Kondoms zunächst nicht bemerkt und der Täter dann ohne Kondom den Geschlechtsverkehr fortsetzt,
  • das Opfer das Abziehen des Kondoms bemerkt und der Täter dann unter Missachtung des erkennbaren entgegenstehenden Willens ohne Kondom den Geschlechtsverkehr fortsetzt,
  • der Täter in den Körper des Opfers ejakuliert.

 

Weiterhin ist zu klären, inwieweit das Stealthing auch die Strafzumessungsvorschrift des § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB (Vergewaltigung) verwirklicht. Da das KG bereits bei § 177 I StGB danach unterscheidet, ob der Täter in den Körper des Opfers ejakuliert, müsste das KG nach seiner hier abgelehnten Auffassung diese Unterscheidung bei § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB erst recht vornehmen. Sollte das Abstreifen des Kondoms dem Opfer nicht verborgen bleiben und hält dieses an dem Willen, keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr ausüben zu wollen, fest, dürfte an der Annahme des § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB kein Zweifel bestehen, wenn der Täter den Geschlechtsverkehr fortsetzt. Auf eine Ejakulation in den Körper des Opfers kommt es dann nicht an; dies spielt ebenfalls nur bei der Strafbemessung eine Rolle. Fraglich ist aber, ob § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB auch angenommen werden kann, wenn das Opfer das Abstreifen des Kondoms erst nach dem Geschlechtsverkehr (und der Ejakulation in seinen Körper) bemerkt. Eine Annahme des § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB erscheint mit Blick auf die Mindeststrafandrohung von zwei Jahren und damit vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht unproblematisch, zumal das Opfer in dieser Konstellation von dem Abstreifen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs nichts mitbekam. Für eine Verneinung des § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB spricht auch der Umstand, dass die Möglichkeit der Annahme eines minder schweren Falls (§ 177 IX StGB) sich gerade nicht auf § 177 VI StGB erstreckt (siehe bereits R. Schmidt, StrafR BT I, 20. Aufl. 2018; kritisch später auch Hoffmann, NStZ 2019, 16, 17 f.). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der Täter um des eigenen Sexualgenusses willen sich über den entgegenstehenden Willen des Opfers hinwegsetzt. Ist der eindeutige Wille des Opfers, nur geschützten Geschlechtsverkehr auszuüben, für den Täter zu Beginn des Geschlechtsverkehrs erkennbar, ist ihm – in Ermangelung entgegenstehender Anhaltspunkte – auch bewusst, dass sich an dieser Entscheidung zum Zeitpunkt des Abziehens des Kondoms nichts geändert hat. Man muss sogar von einem Täuschungsmoment ausgehen: Indem der Täter z.B. einen Stellungswechsel dazu nutzt, für das Opfer unbemerkt das Kondom abzustreifen, liegt ab diesem Moment kein konsentierter Geschlechtsverkehr mehr vor. Das Opfer ging davon aus, der Täter benutze nach wie vor ein Kondom. Dieses Verhalten ignoriert den erkennbaren entgegenstehenden Willen des Opfers und erfüllt die Strafzumessungsregel des § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB. Auf eine Ejakulation in den Körper des Opfers kann es auch hierbei nur im Rahmen der Strafbemessung ankommen. In außergewöhnlichen Fällen bleibt dem Tatgericht aber die Möglichkeit, trotz Verwirklichung des Regelbeispiels des § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB einen besonders schweren Fall zu verneinen. Denn die Regelbeispiele entfalten nur eine Indizwirkung. Indizwirkung bedeutet, dass bei Vorliegen eines Regelbeispiels eine widerlegliche Vermutung dafür besteht, dass die Tat insgesamt als besonders schwer einzustufen ist und damit der in der Vorschrift genannte strengere Strafrahmen Anwendung findet. Bestehen aber ausnahmsweise Anhaltspunkte, die den erhöhten Unrechts- und Schuldgehalt kompensieren, ist die Indizwirkung widerlegt und der Täter nur nach dem Grundtatbestand zu bestrafen.

 

Ergebnis zu § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB: Beim Stealthing verwirklicht der Täter regelmäßig auch die Strafzumessungsregel des § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB, die Vergewaltigung. Denn er dringt konsenswidrig ungeschützt in den Körper des Opfers ein und missachtet damit in besonderem Maße das sexuelle Selbstbestimmungsrecht des Opfers. Er erhebt seine Sexualinteressen über die des Opfers. Dabei spielt es ebenfalls keine Rolle, ob

 

  • das Opfer das Abziehen des Kondoms zunächst nicht bemerkt und der Täter dann ohne Kondom den Geschlechtsverkehr fortsetzt,
  • das Opfer das Abziehen des Kondoms bemerkt und der Täter dann unter Missachtung des erkennbaren entgegenstehenden Willens ohne Kondom den Geschlechtsverkehr fortsetzt,
  • der Täter in den Körper des Opfers ejakuliert.



Raum für eine Widerlegung der Indizwirkung des Regelbeispiels der Vergewaltigung besteht allenfalls dann, wenn der mit der Verwirklichung des Regelbeispiels indizierte Un­rechts- und Schuldgehalt durch mildernde Umstände kompensiert und damit die Indiz­wir­kung widerlegt wird (Gegenschlusswirkung – auch „umgekehrte Indizwirkung“ ge­nannt). Hierzu ist eine umfassende Abwägung aller Erschwernisgründe und Entlastungs­gründe er­forderlich. Überwiegen die Entlastungsgründe, findet nur der Strafrahmen des Grunddelikts Anwendung (strafverfahrensrechtlich ist die Verurteilung aus dem Grundstrafrahmen trotz Verwirklichung eines Regelbeispiels im Urteil als Ausnahme gem. § 267 III S. 3 Halbs. 1 StPO näher zu begründen). Hat bspw. das Opfer das Abziehen des Kondoms zunächst nicht bemerkt und hat der Täter von einer Ejakulation in den Körper des Opfers abgesehen, wäre Raum für die Annahme einer umgekehrten Indizwirkung.  



Rolf Schmidt (14.08.2020)

 



 





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