Aktuelles 2022 Pflicht um Nachweis einer Masern-Impfung verfassungsgemäß

Beiträge 2022


27.08.2022: Pflicht zum Nachweis einer Masern-Schutzimpfung von Kindern, die in einer Gemeinschaftseinrichtung betreut werden, ist verfassungsgemäß


BVerfG, Beschl. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 u.a.



Mit Beschluss vom 21.7.2022 hat der 1. Senat des BVerfG entschieden, dass die Pflicht zum Nachweis einer Masernschutzimpfung von Kindern, die in einer Gemeinschaftseinrichtung betreut werden (sollen), verfassungsgemäß ist.


Dem Beschluss lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: § 20 Abs. 8 S. 1 Nr. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) verlangt für Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung i.S.v. § 33 Nr. 1-3 IfSG (etwa Kindertageseinrichtung oder erlaubnispflichtige Kindertagespflege) betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder eine Immunität gegen Masern. Sofern ein Impfschutz pflichtig ist, gilt dieser auch, wenn ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, d.h. Impfstoffe, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten (§ 20 Abs. 8 S. 3 IfSG). § 20 Abs. 9 S. 1 Nr. 1 IfSG verlangt bei Betreuung in Kindertageseinrichtungen oder der Kindertagespflege einen im Gesetz konkretisierten Nachweis über die Impfung oder die Masernimmunität. Auf Anforderung ist gem. § 20 Abs. 12 S. 1 Nr. 1 IfSG der Nachweis dem Gesundheitsamt vorzulegen, das bei ausbleibender Vorlage das Betreten bestimmter Gemeinschaftseinrichtungen untersagen kann. Für die betreffenden Kinder auferlegt § 20 Abs. 13 S. 1 IfSG den sorgeberechtigten Eltern, die Nachweis- und Vorlagepflicht zu erfüllen. Wird für Kinder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres kein derartiger Nachweis vorgelegt, dürfen sie nicht in Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden (§ 20 Abs. 9 S. 6 IfSG).


Die Beschwerdeführer (nicht gegen Masern geimpfte und über keine Immunität verfügende Kinder, bei denen keine medizinische Kontraindikation zu einer Masernschutzimpfung besteht, die sie vom Nachweis einer Impfung befreien würde, sowie sorgeberechtigte Eltern) machen verschiedene Grundrechtsverletzungen geltend. So sei das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG) der beschwerdeführenden Kinder verletzt. Auch werde in unverhältnismäßiger Weise in das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) eingegriffen. 


Ob die Entscheidung des BVerfG überzeugt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.



A. Einführung


Um es vorab klarzustellen: Es gibt (anders als in der (auch juristischen) Berichterstattung oft genannt) keine Impfpflicht, weder in Bezug auf COVID-19 noch in Bezug auf Masern. Es geht um die Pflicht für bestimmte Personen zur Erbringung eines Impfnachweises, damit bestimmte Einrichtungen (etwa Kindertagesstätten) aufgesucht werden können. Das mag zwar faktisch von den Betroffenen als Impfpflicht gesehen werden, ist es aber juristisch nicht. Gegenstand der Prüfung ist also die Verfassungsmäßigkeit des Nachweises einer Schutzimpfung, um bestimmte Einrichtungen aufsuchen zu können. Virulent wird dabei das Spannungsverhältnis zwischen den Grundrechten der Beschwerdeführer, die der Staat zu wahren hat, und der staatlichen Schutzpflicht, die vorliegend darin besteht, andere Menschen, insbesondere vulnerable Menschen (hier wiederum insbesondere Säuglinge und Personen, bei denen bei einer Impfung Kontraindikationen bestehen), vor Infektionen zu schützen. Bereits an dieser Stelle ist zu betonen, dass das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten Einschätzungs-, Gestaltungs- und Prognosespielraum bei der Gesundheitsvorsorge und der Bekämpfung von Pandemien zuspricht. Das hat Auswirkungen auf die Abwägung der widerstreitenden Verfassungsgüter und die verfassungsgerichtliche Überprüfung: Ergreift der Staat Maßnahmen zur Erfüllung seiner staatlichen Schutzpflicht und verfolgt ein nachvollziehbares Konzept zur Pandemiebekämpfung, treten Individualgrundrechte von Impfverweigerern tendenziell hinter die Grundrechte der zu schützenden Menschen und der Gemeinschaftsgüter jedenfalls dann zurück, wenn aufgrund von belastbarem Tatsachenmaterial die Vorteile einer Schutzimpfung deren Nachteile überwiegen, zumal die Gefahr von (schweren) Impfschäden denkbar gering ist.       



B. Prüfung des Falls


Im Folgenden gilt es, die gesetzlichen Vorschriften über die Pflicht zum Nachweis einer Masernschutzimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot in bestimmten Einrichtungen am Maßstab der betroffenen Grundrechte zu prüfen. Bemerkenswert ist der vom BVerfG gewählte Prüfungsaufbau. Statt strikt nach Grundrechten zu gliedern und die betroffenen Grundrechte nacheinander jeweils komplett durchzuprüfen (Schutzbereich, Eingriff, verfassungsrechtliche Rechtfertigung), prüft das Gericht zunächst den Schutzbereich des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und den Eingriff in dieses Grundrecht (Rn. 66-76), um sodann den Schutzbereich der körperlichen Unversehrtheit der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG zu prüfen und den diesbezüglichen staatlichen Eingriff festzustellen (Rn. 77-82). Ab Rn. 83 prüft das BVerfG dann die verfassungsrechtliche Rechtfertigung in Bezug auf beide Grundrechte. Diese Vorgehensweise ist elegant; sie hat den Charme einer systematischen Geschlossenheit, müssen unterschiedliche Prüfungspunkte ja nicht mehrfach (also bei jedem Grundrecht) separat behandelt werden. Im Rahmen der juristischen Ausbildung (und v.a. im Rahmen von Prüfungsarbeiten) ist der vom BVerfG gewählte Aufbau gleichwohl nicht zu empfehlen. Zum einen entspricht er nicht den schulmäßigen Aufbauregeln und zum anderen birgt er die Gefahr einer nicht hinreichend nach Prüfungsmaßstäben differenzierten Prüfung in sich. Daher werden im Folgenden die für die juristische Ausbildung anerkannten Aufbauregeln befolgt. Vom BVerfG nicht geprüft wurde die gesetzliche Regelung am Maßstab des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Das erstaunt (jedenfalls auf den ersten Blick). Denn die Entscheidung eines Menschen (hier: der Kinder, vertreten durch ihre Eltern), sich nicht impfen zu lassen, ist gerade Ausdruck der Persönlichkeit. Wenn man jedoch bedenkt, dass das Grundgesetz die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zwischen Eltern und Staat aufteilt und sie nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG in erster Linie den Eltern zugeweist (so BVerfG Rn. 79), wird deutlich, dass vom BVerfG die Aspekte des Persönlichkeitsrechts im Rahmen der Prüfung am Maßstab des Elternrechts abgearbeitet wurden. Einer separaten Prüfung bedurfte es insoweit also nicht.     



I. Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG)


1. Eröffnung des Schutzbereichs


Relativ kurz (da eindeutig) stellt das BVerfG fest, dass das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers schützt (BVerfG Rn. 78 mit Verweis auf BVerfG 1 BvR 2649/21 Rn. 111). Träger dieses Rechts sei „jeder“, mithin auch ein Kleinkind (BVerfG Rn. 78 mit Verweis zum Recht auf Leben BVerfGE 115, 118, 139).



2. Eingriff in den Schutzbereich


Beschwerdegegenstand sind die Vorschriften des § 20 Abs. 8 S. 1-3, Abs. 9 S. 1 und 6, Abs. 12 S. 1 und 3, Abs. 13 S. 1 IfSG über die Pflicht zum Nachweis einer Masernschutzimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot in bestimmten Einrichtungen. In diesen Vorschriften über die Nachweispflicht und das Betreuungsverbot im Fall des nicht vorgelegten Nachweises könnte ein Eingriff zu sehen sein.


Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff immer dann vor, wenn ein Rechtsakt final und unmittelbar freiheitsverkürzend in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreift – sog. enger Eingriffsbegriff, der auf die Imperativität des staatlichen Handelns abstellt (vgl. nur BVerfG NVwZ 2018, 1224; BVerfGE 105, 252 ff. und 279 ff.; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG, Vorb. Art. 1-19 Rn 51a; siehe auch BVerwG NJW 2018, 716, 719). Da es für den belasteten Menschen aber keinen Unterschied macht, ob er durch eine zielgerichtete, also unmittelbar wirkende, oder lediglich faktisch-mittelbar wirkende Maßnahme in seinen Grundrechten beeinträchtigt wird, ist anerkannt, dass auch bei faktischen oder mittelbaren Maßnahmen grds. Eingriffsqualität anzunehmen ist, solange sie nur in ihrer Wirkung einem unmittelbaren staatlichen Eingriff entsprechen (sog. weiter Eingriffsbegriff – vgl. nur BVerfGE 105, 252, 273 Osho; 110, 177, 191; BVerfG NVwZ 2018, 1224 f.; BVerwG NJW 2018, 716, 720; BVerfG NJW 2019, 827, 828 ff.; BVerfG NJW 2020, 905, 908).


Im vorliegenden Fall spricht das BVerfG von einem in die körperliche Unversehrtheit der Kinder „zielgerichtet mittelbar“ eingreifenden Akt (BVerfG Rn. 80). Damit scheint das Gericht also einen neuen Eingriffsbegriff kreiert zu haben, der zwischen dem final-unmittelbaren und dem faktisch-mittelbaren Eingriffsakt einzuordnen sein könnte. Das Gericht führt aus: „Die Masernschutzimpfung wirkt durch das Einbringen eines Stoffes und die damit verbundenen Nebenwirkungen auf die körperliche Integrität der Kinder ein. Zwar hindert das Infektionsschutzgesetz Eltern nicht daran, auf die Masernschutzimpfung bei ihren Kindern zu verzichten. Dadurch wäre eine gegenständliche Einwirkung auf die körperliche Integrität vermieden. Allerdings sind mit dieser Disposition über die körperliche Unversehrtheit der Kinder erhebliche nachteilige Folgen für diese verbunden. Wegen des in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG angeordneten Betreuungsverbots verlieren sie ihren eingeräumten Anspruch auf frühkindliche oder vorschulische Förderung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII oder können diesen jedenfalls nicht mehr durchsetzen“ (BVerfG Rn. 81). Das BVerfG erkennt also den nicht unerheblichen Druck, der auf die Eltern ausgeübt wird, möchten diese nicht auf die frühkindliche Betreuung verzichten. Werde eine solche Betreuung und Förderung ‒ wie vorliegend ‒ von den sorgeberechtigten Eltern gewünscht, gehe von den bei Ausbleiben des Impfnachweises eintretenden Folgen ein starker Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs einzuwirken. Dieser vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in bestimmter Weise auszuüben, komme in seiner Wirkung dem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gleich (BVerfG Rn. 81).


Der Eingriffsbegriff „zielgerichtet mittelbar“ ist demnach also wie folgt zu verstehen: „Zielgerichtet“ ist der verfolgte Zweck, nämlich die Bekämpfung von Masern mittels Schutzimpfung, die einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt. „Mittelbar“ ist der Weg, nämlich die Bekämpfung von Masern über die Verwehrung des Zugangs zu Betreuungseinrichtungen, sollten sich die Eltern weigern, ihre Kinder impfen zu lassen. 



3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs 

     

a. Rechtsgrundlage für die „zielgerichtet mittelbar“ wirkende Maßnahme


(Staatliche) Eingriffe sind nur dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn sie den von der Verfassung geforderten formellen und materiellen Anforderungen genügen (allg. Auffassung spätestens seit BVerfGE 6, 32, 41).



b. Formelle Verfassungsmäßigkeit der Norm


In formeller Hinsicht bestehen keine Bedenken. Der Bund hat gem. Art. 74 I Nr. 19 GG die Gesetzgebungskompetenz zur Regelung der Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten beim Menschen. Das BVerfG führt aus: „Die Masernerkrankung ist eine Infektionskrankheit, die durch das Masernvirus hervorgerufen wird und damit eine übertragbare Krankheit, die auch einen gewissen Grad an Schwere der Erkrankung mit sich bringt und sogar zum Tode führen kann“ (BVerfG Rn. 86).

Auch die fehlende Zustimmung des Bundesrates führt nicht zur Verfassungswidrigkeit. Zwar bedürfen gem. Art. 104a Abs. 4 GG Bundesgesetze, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen und von den Ländern als eigene Angelegenheit oder nach Art. 104a Abs. 3 S. 2 GG im Auftrag des Bundes ausgeführt werden, der Zustimmung des Bundesrates, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind. Jedoch sind laut BVerfG bloße Änderungen bereits bestehender Geld-, Sach- oder Dienstleistungsgesetze nach Art. 104a Abs. 4 GG nicht zustimmungspflichtig, wenn hierdurch keine Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründet, sondern im Gegenteil Leistungen nach einem bestehenden zustimmungspflichtigen Gesetz gestrichen oder gemindert werden (Rn. 89). Da es sich somit lediglich um ein sog. Einspruchsgesetz handelt, war die fehlende Zustimmung des Bundesrates unschädlich.


Das Zitiergebot gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG ist gewahrt; die Ermächtigung zum Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist in § 20 Abs. 14 IfSG genannt. 



c. Materielle Verfassungsmäßigkeit der Norm


Die Vorschriften des § 20 Abs. 8 S. 1-3, Abs. 9 S. 1 und 6, Abs. 12 S. 1 und 3, Abs. 13 S. 1 IfSG über die Pflicht zum Nachweis einer Masernschutzimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot in bestimmten Einrichtungen müssten auch materiell verfassungsgemäß sein. So fordert zunächst Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG ein Gesetz, das den Grundrechtseingriff zulässt (Gesetzesvorbehalt). Ein solches Gesetz könnte § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG darstellen. Die Vorschrift ist jedoch relativ weit formuliert. Die Beschwerdeführer rügen, dass die Norm auch gelte, wenn nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stünden, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten. Folgte man dem, stünde die Vorschrift in der Tat außerhalb der Ermächtigung und verstieße gegen den Gesetzesvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. Das BVerfG ist dem jedoch entgegengetreten. § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG könne verfassungskonform so ausgelegt werden, dass die daraus resultierende Pflicht zum Nachweis einer Masernimpfung bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gelte, wenn es sich dabei um solche handele, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthielten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Mit diesem Verständnis würden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nicht überschritten. Zwar enthalte der Wortlaut von § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoffkomponenten in einem Mehrfachimpfstoff enthalten sein dürften. Durch die verfassungskonforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfachimpfstoffkombinationen werde jedoch dem Gesetz weder ein entgegengesetzter Sinn verliehen noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt (BVerfG Rn. 99). Damit ist zugleich der Bestimmtheitsgrundsatz gewahrt.


Um verhältnismäßig zu sein, müsste das Gesetz einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein (allg. Auffassung).


Legitimer Zweck: Legitim ist der Zweck, wenn er auf das Wohl der Allgemeinheit gerichtet ist bzw. wenn ein öffentliches Interesse verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist (BVerfGE 124, 300, 331). Die in § 20 Abs. 8, 9 und 12 IfSG festgelegten Pflichten verfolgen ebenso wie das bei Ausbleiben des Nachweises eintretende Betreuungsverbot (§ 20 Abs. 9 S. 6 IfSG) den Zweck, vulnerable Personen (insbesondere Säuglinge und Personen, bei denen bei einer Impfung Kontraindikationen bestehen) vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung zu schützen (BVerfG Rn. 106). Dem gleichen Zweck dient die Übertragung der Erfüllung der Nachweispflicht von Kindern auf ihre Eltern in § 20 Abs. 13 S. 1 IfSG (BVerfG Rn. 103). Die Annahme des Gesetzgebers, von Personen, die keinen ausreichenden Impfschutz und auch keine Immunität gegen Masern aufweisen, könnten Gefahren für das Leben und die Gesundheit insbesondere von Personen ausgehen, die sich selbst nicht durch eine Impfung vor einer Masernerkrankung zu schützen vermögen, beruhe auf zuverlässigen Grundlagen und halte auch der strengen verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Innerhalb seines allerdings wegen der gesicherten Erkenntnislage und des Gewichts der Grundrechtseingriffe engen Einschätzungsspielraums habe der Gesetzgeber in Einklang mit dem Verfassungsrecht von einer Gefahrenlage durch eine Masernerkrankung für verletzliche Personen, insbesondere Säuglinge oder andere Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung schützen können, ausgehen können (BVerfG Rn. 106-111). Mithin ist der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck legitim.


Geeignetheit der Maßnahme: Darüber hinaus müssten die gesetzliche Pflicht zum Nachweis einer Masernschutzimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot in bestimmten Einrichtungen geeignet sein. Das ist der Fall, wenn mit der gesetzlichen Regelung das angestrebte Ziel erreicht bzw. gefördert werden kann (vgl. nur BVerfGE 81, 156, 192; 96, 10, 21; 115, 276, 308; 126, 112, 144; 134, 204, 226; 141, 82, 100; 148, 40, 56 f.; BVerfG NVwZ 2017, 1111, 1123; BVerfG NJW 2018, 2542, 2543 f.; BVerfG NJW 2019, 827, 830; BVerfG NJW 2020, 905, 913; BVerfGE 156, 63, 140). Maßgeblich ist allein, dass die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht. Auf Fragen nach der Effektivität oder geeigneteren Mitteln kommt es (noch) nicht an. Nur, wenn die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck in keiner Weise fördern kann oder sich sogar gegenläufig auswirkt, ist sie nicht mehr geeignet und damit verfassungswidrig (BVerfG Rn. 113; BVerfG NJW 2022, 1999, 2010 – COVID-19-Schutzimpfung; BVerfGE 158, 282, 336 – Vollverzinsung; 67, 157, 173 – Überwachung des Brief- und Telefonverkehrs).

 

Auch bei der Frage nach der Geeignetheit räumt das BVerfG dem Gesetzgeber einen Beurteilungs- und Prognosespielraum ein (vgl. nur BVerfG NJW 2018, 2542, 2543 f. – Befristung von Arbeitsverträgen m.w.N.), „der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen“ (BVerfG NJW 2022, 1999, 2010 – COVID-19-Schutzimpfung). Dabei sei der Umfang des Beurteilungs- und Prognosespielraums nicht starr, sondern hänge „einzelfallbezogen etwa von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter ab“ (BVerfG NJW 2022, 1999, 2010 – COVID-19-Schutzimpfung). Somit wird deutlich: Solange zuverlässige Grundlagen (gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse; Ergebnisse quantitativer und qualitativer empirischer Forschungen) bestehen, auf denen die gesetzgeberischen Entscheidungen beruhen, ist die Geeignetheit nur bei evidenter Untauglichkeit der gesetzlichen Regelung zu verneinen (insoweit besteht eine Parallele zum sog. Beurteilungsspielraum, der in bestimmten Fällen auch der Exekutive eingeräumt worden ist – vgl. R. Schmidt, AllgVerwR, Rn. 283 ff.). Das gilt selbst bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen. Zwar dürfen nach der Rechtsprechung des BVerfG tatsächliche Unsicherheiten auf der Tatsachenbasis grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen. Erfolge aber der Eingriff zum Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und sei es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, sei die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt (BVerfG NJW 2022, 1999, 2010 – COVID-19-Schutzimpfung – mit Verweis auf BVerfGE 153, 182, 272 f. – geschäftsmäßige Förderung des Suizids). Lägen der gesetzlichen Regelung prognostische Entscheidungen zugrunde, komme es darauf an, ob der Gesetzgeber aus seiner Sicht davon habe ausgehen dürfen, dass die Maßnahme zur Erreichung des gesetzten Ziels geeignet, ob seine Prognose also sachgerecht und vertretbar gewesen sei. Erweise sich eine Prognose nachträglich als unrichtig, stelle dies jedenfalls die ursprüngliche Eignung des Gesetzes nicht infrage. Die Eignung setze also nicht voraus, dass es zweifelsfreie empirische Nachweise der Wirkung oder Wirksamkeit der Maßnahmen gebe (BVerfG NJW 2022, 1999, 2010 – COVID-19-Schutzimpfung – mit Verweis auf BVerfGE 156, 63, 140 – elektronische Aufenthaltsüberwachung).


Sodann überträgt das BVerfG diese Grundsätze auf den Fall: Die auf Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen bezogene Nachweispflicht sei ebenso wie das bei ausbleibendem Nachweis geltende Betreuungsverbot (§ 20 Abs. 9 S. 6 IfSG) im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, die mit dem Masernschutzgesetz verfolgten Zwecke zu erreichen. Die Regelungen könnten sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen, als auch dazu, diese in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder in denen solche vulnerablen Personen zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben (BVerfG Rn. 114). Die Geeignetheit ist damit gegeben.


Erforderlichkeit der Maßnahme: Erforderlich ist die gesetzliche Regelung, wenn kein gleich wirksames, aber für den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung steht (BVerfG NJW 2018, 2109, 2112 mit Verweis auf BVerfGE 113, 167, 259; 135, 90, 118; vgl. auch BVerfGE 30, 292, 316; 63, 88, 115; 77, 84, 109; 90, 145, 172; 100, 313, 375; 116, 202, 225; 145, 20, 80; BVerfG NJW 2019, 827, 830). Dabei betont das BVerfG (in ständiger Rechtsprechung), dass dem Gesetzgeber grundsätzlich auch für die Beurteilung der Erforderlichkeit ein Einschätzungsspielraum zustehe. Das BVerfG sei dann auf eine Vertretbarkeitskontrolle bezüglich der Eignungseinschätzung beschränkt (BVerfG Rn. 121 mit Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u.a. –, Rn. 185 und Beschl. v. 27.4.2022 – 1 BvR 2649/21 –, Rn. 187). Jedenfalls wäre eine allgemeine Masernimpfpflicht keine mildere Alternativmaßnahme. 


In seiner Feststellung führt das BVerfG aus, es sei unter Berücksichtigung des dem Gesetzgeber hier zukommenden Einschätzungsspielraums nicht erkennbar, dass andere, in der Wirksamkeit eindeutig gleiche, aber die betroffenen Grundrechte von Kindern und Eltern weniger stark einschränkende Mittel zur Verfügung gestanden hätten (BVerfG Rn. 116). Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber andere Maßnahmen zur Gewährleistung des angestrebten Individual- und Gemeinschaftsschutzes als nicht sicher gleich wirksam angesehen habe. Er habe sich bei seiner Entscheidung auf hinreichend tragfähige Grundlagen stützen können (BVerfG Rn. 122). Insbesondere die Annahme des Gesetzgebers, ohne die in den angegriffenen Regelungen getroffenen Maßnahmen würde die Impfquote weiter stagnieren und gleichzeitig könne die Anzahl der Masernausbrüche in Kindertagesstätten und in der Kindertagespflege steigen, beruhe auf tragfähigen Grundlagen und sei nicht zu beanstanden.


Die Pflicht, bei Betreuung in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen eine Masernimpfung nachzuweisen, sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot seien zum Schutz der Bevölkerung vor Masern im verfassungsrechtlichen Sinne daher erforderlich (BVerfG Rn. 116).


Angemessenheit der Maßnahme: Schließlich müssten die beanstandeten Regelungen angemessen sein. Der mit ihnen verfolgte Zweck dürfte also in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs stehen (Zumutbarkeit der Regelung; Verhältnismäßigkeit i.e.S. – BVerfG Rn. 130; vgl. auch bspw. BVerfG NJW 2020, 2699, 2707; BVerfG NJW 2019, 1432, 1433; BVerfG NJW 2019, 827, 830). Mithin muss eine Abwägung stattfinden zwischen der Intensität des Eingriffs in das grundrechtlich geschützte Rechtsgut und der Wertigkeit des verfolgten Zwecks der gesetzlichen Regelung. 


Das BVerfG räumt zwar ein, dass die angegriffenen Vorschriften zielgerichtet mittelbar in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) der Kinder eingriffen. Allerdings sei dieser mittelbare Eingriff weder nach der Art der sich anschließenden körperlichen Einwirkung selbst noch aufgrund der Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit über die körperliche Unversehrtheit besonders schwerwiegend (BVerfG Rn. 143). Demgegenüber sei die Wahrscheinlichkeit gravierender, mitunter tödlicher Komplikationen im Falle einer Maserninfektion jedoch um ein Vielfaches höher als die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Impfkomplikationen. Etwas häufiger vorkommende harmlose Impfreaktionen erhöhten das Gewicht des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nicht maßgeblich. Wenn also der Staat den Schutz einer Vielzahl von Personen, insbesondere von vulnerablen Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung wirksam schützen können, als vorrangig erachte, gerade weil die erforderliche hohe Impfquote nicht durch freiwillige Entscheidung der Eltern zu erwarten sei, sei dies von dem dem Gesetzgeber zustehenden Einschätzungsspielraum gedeckt. Auf den Punkt gebracht formuliert das BVerfG, dass bei einer Impfung nahezu immer nur milde Symptome und Nebenwirkungen aufträten und dass ein echter Impfschaden extrem unwahrscheinlich sei. Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, sei dagegen deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Die hohe Übertragungsfähigkeit, die hohe Ansteckungsgefahr sowie das nicht zu vernachlässigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis) zu erleiden, sprächen für das Überwiegen der staatlichen Schutzpflicht (BVerfG Rn. 149).


Mithin seien die angegriffenen gesetzlichen Vorschriften mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG vereinbar.



II. Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG


1. Eröffnung des Schutzbereichs


Weiterhin sind die gesetzlichen Regelungen am Maßstab des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zu prüfen. Diese Verfassungsbestimmung garantiert Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern sollen grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden dürfen, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen (BVerfG Rn. 67 mit Verweis auf BVerfGE 107, 104, 117; 121, 69, 92). Damit wird zugleich deutlich, dass das Elternrecht nicht die Selbstbestimmung der Eltern beschreibt, sondern das Recht zum Schutze des Kindes und in dessen Interesse gewährt (BVerfG Rn. 67 mit Verweis auf BVerfGE 121, 69, 92). Dementsprechend müssen Eltern ihr Verhalten am Wohl ihres Kindes ausrichten (BVerfG Rn. 67 mit Verweis auf BVerfGE 103, 89, 107; 121, 69, 92; 133, 59, 77 f.). Innerhalb dieses Rahmens, d.h. der Ausrichtung am Kindeswohl, ist das Elternrecht umfassend gewährt und erstreckt sich auf sämtliche Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes (BVerfG Rn. 68 mit Verweis auf BVerfGE 107, 104, 120). Das Elternrecht umfasst die Sorge für das körperliche Wohl des Kindes, worunter die Gesundheitssorge insgesamt und damit auch die Entscheidung über medizinische Maßnahmen einschließlich Schutzimpfungen fällt (BVerfG Rn. 69). Schon wegen der möglichen Auswirkungen von Impfungen auf die weitere Entwicklung des Kindes handelt es sich, wie das BVerfG ausführt, bei der elterlichen Entscheidung darüber um ein wesentliches Element des Sorgerechts (BVerfG Rn. 69). Die Entscheidung, das Kind (etwa gegen Masern) impfen zu lassen, ist daher ebenso vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG erfasst wie die Entscheidung, eine Impfung abzulehnen.


2. Eingriff in den Schutzbereich


Da durch die beanstandeten Regelungen des Infektionsschutzgesetzes Eltern gezwungen werden, in die Schutzimpfung ihres Kindes einzuwilligen, wenn sie das Betreuungsangebot in der jeweiligen Gemeinschaftseinrichtung wahrnehmen möchten, wirken die genannten Vorschriften auf die Entschließungsfreiheit der Eltern bei der Ausübung des Elternrechts ein (BVerfG Rn. 74). Dies kommt, wie das BVerfG ausführt, in Zielsetzung und Wirkung als funktionales Äquivalent dem direkten Eingriff gleich, der durch eine rechtlich durchsetzbare Impfpflicht bewirkt würde (BVerfG Rn. 75).     

 

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs

 

Die beanstandeten Regelungen müssten auch den Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gerecht werden. Zunächst müsste Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG einschränkbar sein. Anders als Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG steht Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG aber unter keinem geschriebenen Schrankenvorbehalt. Zwar enthält Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG eine grundrechtsimmanente Schranke („staatliches Wächteramt“). Diese ist im vorliegenden Zusammenhang aber nicht einschlägig, da es nicht um Kindeserziehung geht, sondern um die Verwehrung des Zugangs zu Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen für den Fall der Impfverweigerung. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist somit im vorliegenden Zusammenhang vorbehaltlos gewährleistet. Aber auch vorbehaltlos gewährte Grundrechte sind (außer Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) einschränkbar. Eingriffe können verfassungsimmanent, d.h. durch kollidieren­de höherwertige Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang aus­gestattete Rechte im Rahmen der Verhältnismäßigkeit legiti­miert werden. Das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG gilt nicht, weil dessen Zweck nur bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt greift.


Materiell kann auf die Prüfung zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG verwiesen werden, zumal das BVerfG diesbezüglich eine verzahnte Prüfung vorgenommen hat und seine Argumente zur Rechtfertigung beider Grundrechtseingriffe gelten.



C. Bewertung

Die Entscheidung des BVerfG überzeugt. Der Gesetzgeber durfte aufgrund einer gesicherten Erkenntnislage davon ausgehen, dass die erforderliche Impfquote nicht durch Freiwilligkeit erreicht wird. Er durfte – wie das BVerfG zu Recht ausführt – weiterhin annehmen, dass andere, gleich wirksame, aber die betroffenen Grundrechte von Kindern und Eltern weniger stark einschränkende Mittel nicht zur Verfügung standen. Die vom Gesetzgeber erlassenen Bestimmungen tragen nicht nur dazu bei, die Impfquote in der Bevölkerung zu erhöhen, sondern insbesondere auch, sie in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen auch vulnerable Personen betreut werden. Die mit einer Impfung verbundenen Grundrechtseingriffe sind in ihrer Intensität vergleichsweise gering; demgegenüber besteht ein hohes Risiko einer Infektion und ein hohes Risiko von gravierenden, mitunter erst viele Jahre später eintretenden Spätfolgen einer Maserninfektion, insbesondere einer tödlich verlaufenden subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (d.h. einer Entzündung des Gehirns). Macht der Staat daher von seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht Gebrauch und schützt Kleinkinder vor einer Infektion in einer Gemeinschaftseinrichtung (und letztlich vor der Unvernunft der Eltern), ist dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Bemerkenswert ist, dass das BVerfG dem Gesetzgeber auf allen Ebenen der Verhältnismäßigkeit einen (weiten) Einschätzungs- und Prognosespielraum zuspricht. Dieser beziehe sich u.a. darauf, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren. Er reiche umso weiter, je höher die Komplexität der zu regelnden Materie ist. Diene die Maßnahme dem Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und sei es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, sei die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt (BVerfG Rn. 117). Auch dies ist zu begrüßen. Denn die Entscheidung des unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers, der bei Gesetzeserlass im Rahmen von Anhörungen auf eine Vielzahl von Gutachten und Sachverständigen, ggf. auch auf Expertengremien zurückgreift und darauf basierend eine Prognoseentscheidung treffen muss, sollte nur dann verfassungsgerichtlich aufgehoben werden, wenn sie evident fehlerhaft und unvertretbar ist.


Der Entscheidung des BVerfG wird man präjudizierende Wirkung bei der SARS-CoV-2-Bekämpfung beimessen können. Denn (auch) bei einer solchen Impfung geht es um die Verhinderung einer COVID-19-Infek­tion, die zu schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zum Tod führen kann. Der dem Gesetzgeber zugesprochene weite Einschätzungs-, Gestaltungs- und Prognosespielraum bei der Gesundheitsvorsorge und der Bekämpfung von Pandemien mit der Folge des nur begrenzten verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfangs besteht auch bei der COVID-19-Bekämpfung (BVerfG NJW 2022, 1999, 2008 – „Einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht“), zumal das BVerfG (auch) diesbezüglich formuliert, dass schwerwiegende Nebenwirkungen oder gravierende Folgen, die über die durch die Verabreichung des Impfstoffs induzierte Immunantwort hinausgehen, „ganz überwiegend nicht eintreten“ (BVerfG NJW 2022, 1999, 2018).             




Rolf Schmidt (27.08.2022)




 



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