Aktuelles 2023 Rechtsprechnungswandel zum verfassungsrechtlichen Ehebegriff?

Beiträge 2023


7.5.2023: Rechtsprechungswandel zum verfassungsrechtlichen Ehebegriff?


BVerfG, Beschl. v. 1.2.2023 – 1 BvL 7/18


Mit Beschluss vom 1.2.2023 hat der 1. Senat des BVerfG anlässlich der Frage nach der Pflicht des Staates, im Ausland wirksam geschlossene Ehen mit einer Minderjährigen (sog. Kinderehen) anzuerkennen (dazu unten C.), formuliert, dass Ehe i.S.v. Art. 6 I GG eine rechtlich verbindliche, im Grundsatz auf Dauer angelegte, auf freiem Entschluss beruhende, in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten einhergehende, gleichberechtigte und autonom ausgestaltete Lebensgemeinschaft sei, die durch einen formalisierten, nach außen erkennbaren Akt begründet werde. Von einer „Verschiedengeschlechtlichkeit“, auf die es sonst immer einen sehr großen Wert gelegt und die es als „unveränderliches Strukturprinzip“ einer Ehe bezeichnet hatte (paradigmatisch BVerfGE 105, 313, 345 – Lebenspartnerschaftsgesetz), ist nichts mehr zu lesen (dazu sogleich A.-B.). Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.



A. Der bisherige verfassungsrechtliche Ehebegriff


Art. 6 I GG stellt Ehe und Familie unter besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, ohne jedoch beide Verfassungsbegriffe zu definieren. Hinsichtlich der Frage, ob eine Ehe nur zwischen zwei Menschen und auch nur zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechts geschlossen werden kann, ent­hält der Wortlaut also keine Aussage. Da Art. 6 I GG aber bzgl. der Ehe einer gesetzlichen Ausgestaltung bedarf, lässt sich jedenfalls in Bezug auf die Geschlechtsfrage gut argumentieren, dass die Ehe nicht an die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner geknüpft ist. Jedoch hatte das BVerfG unter Verweis auf „unveränderbare Strukturprinzipien“ einer Ehe und in An­knüpfung an die christlich-abendländi­sche Tra­dition bislang stets entschieden, dass die Verschieden­geschlechtlich­keit zu ebenjenen unveränderbaren Strukturprinzipien der Ehe zähle. Sieht man zunächst von der Frage ab, ob dieses Eheverständnis angesichts moderner Familienstrukturen noch überzeugen kann (dazu sogleich), ist das Institut der Ehe unter Zugrundelegung traditioneller bürgerlicher Lebensverhältnisse jedenfalls geprägt durch


  • Monogamie (siehe dazu BVerfG 1.2.2023 – 1 BvL 7/18 Rn 111: „Freiheit, die Ehe mit einer selbst gewählten Person einzugehen.“)
  • grundsätzlich auf Dauer angelegt mit dem Ziel der gemeinsamen Lebensgestaltung, der gegenseitigen Rücksichtnahme und Achtung sowie der Pflicht zur Beistandsleistung, Hilfe und Gefah­ren­abwehr
  • freiwilliger Entschluss beider Partner zur Eheschließung und zur Fortpflanzung bzw. zur Familiengründung
  • Gleichberechtigung der Ehepartner
  • formalisierter staatlicher Mitwirkungsakt (feststellender Verwaltungsakt des Standesbeamten, dass die Ehe geschlossen wurde)


Ob angesichts moderner Formen von Lebensgemeinschaften die genannte Verschiedengeschlechtlichkeit noch zu den verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien gehören kann, ist unklar. Das BVerfG war bislang dieser Meinung. Es begründete das Erfordernis der Verschiedengeschlechtlichkeit mit der „idealtypischen Funk­tion der Ehe“, der Mög­lichkeit zur Gründung einer Familie, die auf natürliche Weise aus biologischen Gründen nur verschiedengeschlechtlichen Paaren gegeben sei. Die Ehe sei „von Natur aus“ auf die potentiell aus ihr hervorgehende Familie und die Fähigkeit, Nachkommen zu zeu­gen, ausgerichtet und gelte als „Keimzelle einer jeden mensch­lichen Gemeinschaft“ (BVerfGE 6, 55, 71; relativierend immerhin BVerfGE 133, 59, 83 Sukzessivadoption). Die Ehe als rechtliche Form einer umfassenden Bindung zwischen Mann und Frau könne in ihrer Bedeutung mit keiner anderen menschlichen Bindung verglichen werden (BVerfGE 6, 55, 71) und sei alleinige Grundlage einer vollständigen Familien­gemein­schaft und als solche Voraussetzung für die bestmögliche körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern (so ausdrücklich BVerfGE 76, 1, 51 Familiennachzug). Die h.L. knüpft(e) daran an und propagiert(e), dass die Erzeugung von Nachkommen und die Familiengründung geradezu der Zweck so­wie die „natürliche Folge“ einer Ehe seien (vgl. Uhle, in: Epping/Hillgruber, Art. 6 Rn 4; Gade/Thiele, DÖV 2013, 142, 143 f.; Kreß, ZRP 2012, 234, 235). Das BVerfG betonte schließlich, dass die Ver­schie­den­geschlechtlichkeit da­her zu den „unveränderlichen Strukturprinzipien“ einer Ehe ge­höre und somit mit Blick auf die Institutsgarantie des Art. 6 I GG unantastbar sei (BVerfGE 105, 313, 345; vgl. auch BVerfG NJW 1993, 3058; BVerwG NVwZ 1997, 189, 190; BVerfGE 115, 1, 19).


Unter Zugrundelegung dieses Eheverständnisses ist eine Ehe (i.S.d. Art. 6 I GG) unter Gleichgeschlecht­lichen in der Tat ausgeschlossen. Das überzeugt nicht. Denn wie schon bei R. Schmidt, Grundrechte, 16. Auflage aufgezeigt, steht außer Zweifel, dass das Institut der Ehe auch zeugungsunfähigen Personen offensteht, solange sie nur verschiedengeschlechtlich sind, obwohl die „idealtypische Funktion der Ehe“ – die Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen und eine Familie zu gründen – hier ganz offensichtlich ebenso wenig erreicht werden kann wie bei gleich­geschlechtlichen Paaren. Es wäre aber absurd, zeugungsunfähigen Menschen das Institut der Ehe zu verschließen. Aus diesen Überlegungen heraus folgt, dass die o.g. Begründung des BVerfG auf einem anachronistischen Eheverständnis beruht, das sich modernen Familienstrukturen verschließt und daher keine Überzeugungskraft beanspruchen kann. Zudem ist die „Verschiedengeschlechtlichkeit“ verfassungs­textlich nicht als „unveränderliches Strukturprinzip“ festgeschrieben, sondern lediglich der aufgezeigten, von einer antiquierten bürgerlichen Tradition geleiteten Verfassungsinterpretation entsprungen, die jedoch (und das wird vom BVerfG insoweit unberücksichtigt gelassen) gerade aufgrund der auch sonst vom BVerfG betonten Gestaltungsoffenheit (siehe BVerfGE 81, 1, 6 f.) und der Normgeprägtheit des Art. 6 I GG einem Bedeutungswandel unterworfen ist (auf den Bedeutungswandel im Sinne einer Änderung der Verfassungsinterpretation abstellend bereits R. Schmidt, Grundrechte, 16. Aufl. 2014, Rn 555 ff. und explizit R. Schmidt, FamR, 2. Aufl. 2014, Fußn. 15; später auch Koschmieder, JA 2014, 566, 570 ff.; Kretschmann, Bundesrat, Stenographischer Bericht, 959. Sitzung, 7.7.2017, S. 329). Gerade Gestaltungsoffenheit und Normgeprägtheit des Art. 6 I GG führen dazu, den Begriff der Ehe unter Berücksichtigung moderner gesellschaftlicher An­schau­ungen zu interpretieren, ohne gegen die „unveränderlichen Strukturprinzipien“ der Ehe zu verstoßen oder den Verfassungs­text ändern zu müssen. Der Um­stand, dass eine Ehe zwischen Menschen gleichen Geschlechts in vielen anderen (ebenfalls „christlich geprägten“) Staaten (vgl. etwa Island, Großbritannien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Niederlande, Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal) zulässig ist, stellt einen starken Indikator für ein sich wandelndes gesellschaftliches Selbstverständnis dar, was die in Deutschland (bislang) vorhandenen (Verfassungs-)Vorbehal­te als un­be­gründet erscheinen lässt. Schließlich greifen die teilweise angeführten Argumente, der historische Gesetzgeber sei ganz selbstverständlich von der Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner ausgegangen und habe diese zur Grundlage seines Eheverständnisses gemacht (so Uhle, in: BeckOK, GG, Art. 6 Rn 4), schon deshalb nicht, weil es in der Debatte im Parlamentarischen Rat primär um die Frage ging, generell den Schutz von Ehe und Familie in das Grundgesetz aufzunehmen (Leibholz/v. Mangoldt, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge Bd. 1, 1951, S. 93-99). Der zunächst vom Grundsatzausschuss gebilligte Wortlaut: „Die Ehe ist die rechtmäßige Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau“ (Leibholz/v. Mangoldt, a.a.O., S. 98) wurde später vom Hauptausschuss ausdrücklich nicht angenommen. Dort ver­ständigte man sich vielmehr auf die Fassung: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“ (Leibholz/v. Mangoldt, a.a.O., S. 99). Einen Willen des historischen Gesetzgebers, eine Ehe könne nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden, hätte man da­her nur dann annehmen können, wenn er den vom Grundsatzausschuss gebilligten Textentwurf übernommen hätte. Da er diesen aber gerade nicht übernommen, sondern sich für eine offene Formulierung in Art. 6 I GG entschieden hat, kann dem Willen des historischen Gesetzgebers also gerade nicht entnommen werden, dass er ei­nen Verfassungs- bzw. Bedeutungswandel des Ehebegriffs für alle Zeiten ausschließen wollte. Zudem hat die historische Auslegung auch nur eine untergeordnete Bedeutung, jedenfalls, wenn der Gesetzeserlass nunmehr über 70 Jahre zu­rückliegt.


Dass auch das BVerfG die Möglichkeit eines Verfassungswandels im Sinne eines Interpretationswandels anerkennt, ist nicht zu bestreiten. Während es im Jahre 1957 noch entschied, dass die §§ 175, 176 StGB a.F., die die Homosexualität zwischen Männern unter Strafe stellten, verfassungsgemäß seien, weil homosexuelle Handlungen unter Männern gegen das Sittengesetz verstießen (BVerfGE 6, 389, 413 ff. Homosexuelle), hat es im Jahre 2002 das Lebenspartnerschaftsgesetz (LPartG), das die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare vorsah, (ebenfalls) für verfassungsgemäß erachtet. Insbesondere sei Art. 6 I GG nicht verletzt. Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 I GG hindere den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleichkämen. Dem Institut der Ehe drohten keine Einbußen durch eine (gleichwertige) Lebenspartnerschaft (BVerfGE 105, 313, 331 ff. – Lebenspartnerschaftsgesetz). Würde das BVerfG also nicht die Möglichkeit eines Verfassungswandels im Sinne eines Interpretationswandels (hier: das Sittengesetz als dynamischer Prozess) an­erkennen, hätte es das LPartG „als Verstoß gegen das Sittengesetz“ ansehen müssen und hätte es nicht für verfassungsgemäß erachten dürfen (vgl. auch Kretschmann, Bundesrat, Stenographischer Bericht, 959. Sitzung, 7.7.2017, S. 330).


Berücksichtigt man also die auch sonst vom BVerfG anerkannte „Normgeprägtheit“ und „Gestaltungsoffenheit“ des Art. 6 I GG und erinnert an die vom BVerfG ebenfalls zugelassene Möglichkeit, verfassungsrechtliche Begriffe unter Berücksichtigung wandelnder gesellschaftlicher Lebensformen neu zu definieren bzw. Definitionsmerkmale neu zu interpretieren, war der einfache Gesetzgeber daher frei, nicht mehr auf der bürgerlichen Zwängen und Traditionen unterworfenen Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner zu beharren, sondern sich offen zu zeigen für moderne gesellschaftliche Strukturen unter Berücksichtigung der Gestaltungsoffenheit und der Normgeprägtheit des Art. 6 I GG und des da­durch ermöglichten aufgezeigten Wandels der Interpretation des Ehebegriffs (im Ergebnis auch Brosius-Gersdorf, NJW-Editorial 12/2013 und FamFR 2013, 169 ff.; Koschmieder, JA 2014, 566, 570 ff.; scharf ablehnend Benedict, JZ 2013, 477, 486; Selder, DStR 2013, 1064, 1067; Gade/Thiele, DÖV 2013, 142, 150 f.; Hillgruber, JZ 2010, 41, 41; Krings, NVwZ 2011, 26, 26; Hofmann, JuS 2014, 617, 620). Im Sinne der vom Verfasser seit 2014 (siehe bereits R. Schmidt, Grundrechte, 16. Auflage) vertretenen Auffassung hat denn auch der Bun­des­tag in Wahr­nehmung der Normgeprägtheit und der Gestaltungsoffenheit des Art. 6 I GG durch Gesetz vom 20.7.2017 u.a. § 1353 I S. 1 BGB geändert und das Institut der Ehe auch gleichgeschlecht­lichen Paaren geöffnet (Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20.7.2017 – BGBl I 2017, S. 2787; siehe auch BT-Drs. 18/6665, S. 5 ff.). Seit Inkraft­treten der Neu­regelung am 1.10.2017 kommt es bei der Begründung der Ehe also nicht mehr auf die Geschlechtsver­schiedenheit an. Teilweise wird dies trotz der Offenheit des Art. 6 I GG für eine Gestaltung durch den Gesetzgeber für verfassungswidrig erachtet (so etwa von Ipsen, NJW 2017, 1096, 1098; Haydn-Quindeau, NJOZ 2018, 201, 205 f.). Auch dem ist nicht zuzustimmen (vgl. bereits R. Schmidt, FamR, 4. Aufl. 2015; später auch Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557 ff.). Denn – wie aufgezeigt – handelt es sich bei Art. 6 I GG um ein gestaltungsoffenes Grundrecht, das auch unter Berücksichtigung der „unveränderlichen Strukturprinzipien“ der Ehe den Begriff der Ehe nicht auf die Verschiedengeschlechtlichkeit beschränkt, sondern der (einfachgesetzlichen) Ausgestaltung überlässt. Die Gestaltungsoffenheit des Art. 6 I GG lässt gleichgeschlechtliche Ehen mithin zu (R. Schmidt, Grundrechte, 16. Aufl. 2014).



B. Wandel in der aktuellen Rechtsprechung?


Nunmehr scheint sich ein Wandel in der Rechtsprechung des BVerfG abzuzeichnen. So liest man in der aktuellen Rechtsprechung des BVerfG, Art. 6 I GG garantiere die Frei­heit, die Ehe mit einer selbst gewählten Person einzugehen (BVerfG 1.2.2023 – 1 BvL 7/18 Rn 111). Weiter heißt es (bei den Ausführungen zu den verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien einer Ehe), dass es sich um eine rechtlich verbindliche und in besonderer Weise mit gegenseitigen Ein­standspflichten einhergehende, auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft handele (BVerfG 1.2.2023 – 1 BvL 7/18 Rn 114). Von „Ver­schiedengeschlecht­lichkeit“ ist in beiden Sätzen nicht mehr die Rede (obwohl in den in Rn 111 und Rn 114 zitierten Entscheidungen aber ausdrücklich von einer Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau gesprochen wird, was insofern „unterschlagen“ wird). Wenngleich diese Aussagen als obiter dicta zu verstehen sind (in der Entscheidung ging es um Kinderehen, nicht um gleichgeschlechtliche Ehen), könnten sie als Zitationsgrundlage für spätere Entscheidungen dienen („wie vom Bun­desverfassungsgericht bereits entschieden, handelt es sich bei einer Ehe um eine rechtlich verbindliche und in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten einhergehende, auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft zweier Menschen“) und da­mit der Verfestigung der Auffassung dienen, dass es auch nach dem BVerfG auf die Verschiedengeschlechtlichkeit nicht mehr ankomme.


Fazit: Da das BVerfG in seiner Definition des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs im Beschluss 1 BvL 7/18 v. 1.2.2023 unterstelltermaßen bewusst das bislang als „unantastbares Strukturprinzip“ bezeichnete Kriterium der Verschiedengeschlechtlichkeit nicht nennt, muss davon ausgegangen werden, dass sich das Gericht stillschweigend der Verfassungswirklichkeit beugt und den gesellschaftlichen Wandel anerkennt. Dem ist vollumfänglich zuzustimmen.



C. Zur Frage der innerstaatlichen Anerkennung einer im Ausland nach dortigem Recht wirksam geschlossenen Ehe mit einer Minderjährigen (sog. Kinderehe)


Schließlich ist der Frage nachzugehen, wie es sich mit der innerstaatlichen Anerkennung einer im Ausland nach dortigem Recht wirksam geschlossenen Ehe mit einer Minderjährigen (sog. Kinderehe) verhält. Bei Ehen mit Auslandsbezug sind verschiedene Probleme möglich. So ist zunächst fraglich, ob es mit dem Strukturprinzip der „gemeinsamen Lebensgestaltung“ vereinbar ist, wenn eine Ehe nur zum Schein geschlossen wird. Das betrifft insbesondere den Fall, dass eine Ehe (womöglich gegen Entgelt) nur zur Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit oder zur Verhinderung einer Abschiebung geschlossen wird (sog. Aufenthaltsehe). Die Rechtsprechung verneint zu Recht den Schutz des Art. 6 I GG mit dem Argument des Gestaltungsmissbrauchs. Eheschließungen, die ausschließlich dem Zweck der Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis durch einen der Ehepartner dienen, hätten nicht das Ziel der gemeinsamen Lebensgestaltung.


Die Frage nach der Anerkennung einer Ehe stellt sich aber auch dann, wenn eine wirksam im Ausland mit einer Minderjährigen geschlossenen Ehe besteht. Zwar hat das BVerfG entschieden, dass Art. 6 I GG die inländische Anerkennung einer im Ausland wirksam geschlossenen Ehe unter Berücksichtigung des grundsätzlichen Bestandsschutzes für Ehen einschließe (BVerfG 1.2.2023 – 1 BvL 7/18 Rn 111), es hat aber auch betont, dass dabei die Strukturprinzipien der Ehe beachtet werden müssten (BVerfG 1.2.2023 – 1 BvL 7/18 Rn 115), die den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers (den er mit Art. 13 III EGBGB wahrgenommen hat) be­schränkten (BVerfG 1.2.2023 – 1 BvL 7/18 Rn 117). Ordne Art. 13 III Nr. 1 EGBGB (unter Beachtung der Übergangsvorschrift des Art. 229 § 44 IV EGBGB) die Unwirksamkeit einer nach ausländischem Recht wirksam geschlossenen Ehe mit einer zum Zeitpunkt der Eheschließung noch nicht 16 Jahre alten Person an, verstoße dies gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar habe der mit der Unwirksamkeitserklärung verfolgte Minderjährigenschutz sehr hohes Gewicht (weshalb die Regelung geeignet und erforderlich sei), jedoch seien auch die (vermögensrechtlichen) Folgen einer Unwirksamkeitserklärung sehr gewichtig. Ein Ausgleich über §§ 812 ff. BGB erscheine zwar nicht völlig ausgeschlossen, ein spezifisches gerichtliches Verfahren zur Klärung der finanziellen Folgen der unwirksamen Ehe fehle aber. Darüber hinaus würden den Betroffenen alle weiteren mit dem Status der Ehe verbundenen Ansprüche verwehrt. Entscheidend sei aber, dass der Gesetzgeber es trotz des nicht unerheblichen Eingriffs in die Eheschließungsfreiheit des Art. 6 I GG versäumt habe, die Folgen der gesetzesunmittelbaren Unwirksamkeit zu regeln und eine rechtliche Möglichkeit zu schaffen, die es Minderjährigen erlaubt, nach Erreichen der Volljährigkeit die Ehe im Inland wirksam fortzuführen. Art. 13 III S. 1 EGBGB sei daher nicht verhältnismäßig im engeren Sinne und verletze Art. 6 I GG (BVerfG 1.2.2023 – 1 BvL 7/18 Rn 119 ff.).

 

Bewertung: Dass das BVerfG nicht auch einen Verstoß gegen das Elternrecht aus Art. 6 II GG prüfte, erstaunt. Denn im zu entscheidenden Fall stellte das Familiengericht das Ruhen der elterlichen Sorge fest (§ 1674 I BGB), ordnete Vormundschaft an und bestellte das Jugendamt zum Amtsvormund. Das bedingt einen Eingriff in das Elternrecht aus Art. 6 II GG. Aber auch auf die Grundrechte des Kindes ging das BVerfG nicht ein. So bleibt unbeantwortet, ob die o.g. Maßnahmen das Kind in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG verletzen. Mit Blick auf Art. 6 I GG überzeugt die Entscheidung aber. Zutreffend stellt das BVerfG fest, dass der Gesetzgeber die Wirksamkeit der Ehe an ein Mindestalter der Ehe­gatten knüpfen kann. Auch ist es richtig, dass der Gesetzgeber, wenn er eine „Minderjährigenehe“ für unwirksam erklärt, auch die Folgen der Unwirksamkeit regeln und den Betroffenen die Möglichkeit eröffnen muss, nach Erreichen der Volljährigkeit die Ehe als wirksame Ehe fortzuführen. Insoweit bietet es sich an, bis zu einer entsprechenden Er­klärung der Betroffenen gesetzlich eine „schwebende Unwirksamkeit“ zu verankern.

 


Rolf Schmidt (7.5.2023)


 



Share by: