Aktuelles 2023 Zum Erfordernis einer konkretisierten Gefahr bei heimlichen Ueberwachungsmaßnahmen

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15.3.2023: Zum Erfordernis einer konkretisierten Gefahr bei heimlichen Überwachungsmaßnahmen


BVerfG, Beschl. v. 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21


Mit Beschluss vom 9.12.2022 hat der 1. Senat des BVerfG entschieden, dass bestimmte heimliche, in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG eingreifende Überwachungsmaßnahmen wie längerfristige Observation, Videoüberwachung, Einsatz von Vertrauenspersonen (VE) und Verdeckten Ermittlern (VE) nur ergriffen werden dürften, wenn eine wenigstens konkretisierte Gefahr bestehe für Leib, Leben oder Freiheit der Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Sachen von bedeutendem Wert (z.B. wesentliche Infrastruktureinrichtungen oder sonstige Anlagen mit unmittelbarer Bedeutung für das Gemeinwesen), deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten sei. Ermächtige eine polizeigesetzliche Befugnisnorm (in der vorliegenden Entscheidung ging es um Befugnisnormen des Polizeigesetzes Mecklenburg-Vorpommern) bei Vorliegen einer niedrigeren Gefahrenschwelle, sei sie verfassungswidrig. Zudem müssten die Befugnisnormen eine Abbruchverpflichtung vorsehen, wenn durch die Maßnahme der absolut geschützte Kernbereich privater Lebensgestaltung betroffen werde; eine Ausnahme sei nur zulässig zum Schutz der verdeckt Ermittelnden selbst oder einer Vertrauensperson selbst, wenn ansonsten eine Gefahr für deren Leib oder Leben bestünde. Eine verfassungskonforme Auslegung zieht das BVerfG nicht in Erwägung. Des Weiteren war die Frage nach der Verfassungskonformität der akustischen und optischen  Wohnraumüberwachung Gegenstand der Entscheidung. Denn hinsichtlich der technischen Wohnraumüberwachung zu Zwecken der Gefahrenabwehr verlangt Art. 13 IV GG eine dringende Gefahr für ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit. Eine polizeigesetzliche Befugnisnorm, die eine konkretisierte Gefahr genügen lässt, ist nach Auffassung des BVerfG verfassungswidrig; die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung erwägt das BVerfG auch hier nicht. Schließlich hatte sich das BVerfG mit den Anforderungen an die Verfassungskonformität der Befugnisnormen über die Online-Durchsuchung und das vorherige heimliche Betreten der Wohnung zwecks Installation der Software zu beschäftigen. Auch hier war die Frage nach dem erforderlichen Grad der Gefahr Gegenstand der Entscheidung. 


Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.



A. Längerfristige Observation, Einsatz von Vertrauenspersonen und von Verdeckten Ermittlern


Befugnisnormen, die zur längerfristigen Observation, zum Einsatz von Vertrauenspersonen (VP) und Verdeckten Ermittlern (VE) ermächtigen, greifen in das in Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG verankerte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Ein solcher Eingriff kann sehr intensiv sein, weil sehr weitreichend persönliche Umstände offenbart werden können, denn mit einer solchen Maßnahme sollen möglichst alle Äußerungen und Bewegungen erfasst und bildlich wie akustisch festgehalten werden (siehe BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 88). Das BVerfG verlangt eine konkrete Gefahr oder zumindest eine konkretisierte Gefahr (siehe BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 90). Es müssten zumindest tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr für die Schutzgüter bestehen. Allgemeine Erfahrungssätze reichten insoweit allein nicht aus, um den Zugriff zu rechtfertigen. Vielmehr müssten bestimmte Tatsachen festgestellt sein, die im Einzelfall die Prognose eines Geschehens tragen, das zu einer zurechenbaren Verletzung der hier relevanten Schutzgüter führt (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 90). Dafür müssen nach dem BVerfG grundsätzlich zwei Bedingungen erfüllt sein:


  • „Die Tatsachen müssen dafür zum einen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen,
  • zum anderen darauf, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Überwachungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann.“


Lässt also die Befugnisnorm Tatsachen genügen, die die Annahme der Begehung bestimmter Straftaten rechtfertigen, bleibt dies hinter den Anforderungen an eine wenigstens konkretisierte Gefahr zurück (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 94). Das gilt nach dem BVerfG selbst dann, wenn die Maßnahme der Terrorismusverhütung (d.h. der Verhinderung der Begehung terroristischer Straftaten) dient (BVerfG a.a.O.).


Weiterhin führt das BVerfG (a.a.O. Rn. 100, 120) aus:


„Die Regelung zum Kernbereichsschutz beim Einsatz von verdeckt Ermittelnden und Vertrauenspersonen in § 26a Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 SOG MV ist nicht verfassungsgemäß. Neben den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die allgemeinen Eingriffsvoraussetzungen ergeben sich aus den jeweiligen Grundrechten in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG für die Durchführung von besonders eingriffsintensiven heimlichen Überwachungsmaßnahmen besondere Anforderungen an den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. (…) Diese hier allein zu überprüfende Ausnahme von der Pflicht, eine Maßnahme abzubrechen, wenn während der Erhebung Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst werden, genügt aber in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.“


Allein das Bestehen einer konkretisierten Gefahr genügt also nicht. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist stets zu beachten. Zudem muss der nach der Rechtsprechung des BVerfG absolut geschützte und damit unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung gewahrt bleiben. Dieser Kernbereich erfasst nach der Rechtsprechung des BVerfG innere Vorgänge wie Empfindungen, Gefühle, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art (BVerfGE 109, 279, 313). Geschützt sei insbesondere die nichtöffentliche Kommunikation mit Personen des höchstpersönlichen Vertrauens, die in der berechtigten Annahme geführt wird, nicht überwacht zu werden, wie es insbesondere bei Gesprächen im Bereich der Wohnung der Fall sei. Das BVerfG stellt klar, dass dieser Bereich höchstpersönlicher Privatheit staatlicher Überwachung entzogen sei. Er sichere einen dem Staat nicht verfügbaren Menschenwürdekern grundrechtlichen Schutzes gegenüber solchen Maßnahmen. Selbst überragende Interessen der Allgemeinheit seien nicht in der Lage, einen Eingriff in diesen absolut geschützten Bereich privater Lebensgestaltung zu rechtfertigen (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 102).


Das BVerfG stellt klar, dass durch den Einsatz von Vertrauenspersonen und v.a. von Verdeckten Ermittlern i.d.R. persönliches Vertrauen zwischen der VP bzw. dem VE und der Zielperson aufgebaut wird. Dies berge die Gefahr in sich, dass die VP bzw. der VE die vermeintliche Vertrauensbeziehung ausnutzt, um von der Zielperson oder einer anderen Person auch den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffende Informationen zu erlangen, die sie bzw. er und letztlich der Staat ansonsten nicht erhalten würde. Auf der Ebene der Datenerhebung sei daher zunächst absolut ausgeschlossen, dass VP und VE gezielt Informationen aus dem Kernbereich abschöpfen (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 110 mit Verweis auf BVerfGE 141, 220, 278). Unzulässig sei es demnach auch, eine Beziehung zu der Zielperson aufzubauen, die für diese kernbereichsrelevant ist. Ausgeschlossen seien etwa das staatlich veranlasste Eingehen einer intimen Beziehung zum Zweck der Informationsgewinnung oder der Einsatz einer Person als Vertrauensperson gegenüber der eigenen Ehepartnerin oder dem eigenen Ehepartner (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 110). Dies müsse schon bei der Einsatzplanung berücksichtigt werden. Bereits vorab sei zu prüfen, ob Anhaltspunkte bestehen, dass der geplante Einsatz der VP oder des VE seinem Gesamtcharakter nach kernbereichsrelevante Informationen erfassen wird. Je mehr der Einsatz insgesamt von einer Nähe zum Kernbereich privater Lebensgestaltung geprägt sei, desto eher müsse er von vornherein unterbleiben (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 111).   


Das BVerfG erkennt aber auch, dass VP und VE gleichwohl aufgrund der Art und Weise ihrer Ermittlung in so nahen Kontakt mit Zielpersonen kommen können, dass kernbereichsrelevante Informationen gewonnen werden. Sollten in einem solchen Fall kernbereichsrelevante Informationen erhoben werden, sei die Maßnahme grundsätzlich sofort abzubrechen. Andererseits erkennt das BVerfG aber auch, dass bei einem sofortigen Abbruch der Maßnahme die Zielperson Verdacht schöpfen könnte, wodurch der weitere Einsatz der VP bzw. des VE oder deren künftige Verwendung gefährdet sein könnte. Das könne eine Ausnahme vom Abbruchgebot rechtfertigen. Sofern es um den Schutz der VP bzw. des VE selbst gehe, sei eine Fortsetzung des Einsatzes jedoch nur zu rechtfertigen, wenn für sie eine Gefahr für Leib oder Leben bestehe (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 121). Der Gesetzgeber müsse aber für den Fall, dass die Erfassung von kernbereichsrelevanten Informationen durch VP oder VE nicht vermieden werden konnte, auf der Ebene der Auswertung und Verwertung Vorkehrungen treffen, damit die kernbereichsrelevanten Informationen vor deren Verwendung durch die Polizei herausgefiltert werden (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 117). Bereits das Gesetz müsse hinreichend bestimmt Schutzvorkehrungen auf der Auswertungs- und Verwertungsebene treffen (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 122).


Bewertung: Die Ausführungen des BVerfG zum Erfordernis einer zumindest konkretisierten Gefahr sind gut nachvollziehbar. Damit auferlegt das Gericht dem Gesetzgeber die Pflicht, bereits auf Tatbestandsebene die Eingriffsvoraussetzungen an eine hinreichend qualifizierte Gefahrenlage zu knüpfen. Auch die Ausführungen zum Kernbereich privater Lebensgestaltung sind – gemessen an der ständigen Rechtsprechung des BVerfG – folgerichtig. Ob es aber zwingend ist, diesen unmittelbar Art. 1 I GG zuzuordnen mit der Folge, dass selbst zur Abwehr terroristischer Anschläge kernbereichsrelevante Datenerhebungen ausgeschlossen sind bzw. gleichwohl erhobene kernbereichsrelevante Daten einem Verwertungsverbot unterfallen, lässt sich bezweifeln. Persönlichen Informationen einen derart hohen und abwägungsfesten Rang zuzusprechen, überzeugt angesichts der Rechtsgüter wie Leben und Körper, die durch einen Terroranschlag beeinträchtigt werden können, nicht. Nach der hier vertretenen Auffassung wäre der Kernbereich privater Lebensgestaltung lediglich dem durch Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht zuzuordnen. Das eröffnete die Möglichkeit einer echten Güterabwägung, bei der dann auch dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzuordnende Informationen in ein ausgewogenes Verhältnis zu widerstreitenden Verfassungsgütern gebracht werden müssten. Im Ergebnis plädiert der Verfasser also für ein wohl austariertes Verhältnis zwischen dem Rang (höchst-)persönlicher Informationen und anderen Verfassungsgütern, insbesondere dem Schutz von Leben und Körper, statt Daten einen unabwägbaren Rang zuzusprechen.



B. Akustische Wohnraumüberwachung


Im vorliegenden Zusammenhang geht es um die akustische (nicht auch optische) Wohnraumüberwachung. Bei der akustischen Wohnraumüberwachung handelt es sich um den verdeckten Einsatz technischer Mittel zum gezielten Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in und aus einer durch Art. 13 I GG geschützten Räumlichkeit („Wohnung“) bspw. mit Hilfe von Tonbandgeräten, Richtmikrofonen oder „Wanzen“. Die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die akustische Wohnraumüberwachung sind von der Verfassung und deren Interpretation durch das BVerfG sehr eng gezogen, weil der Staat in Räume eindringt, die privater Rückzugsort („Refugium“) des Einzelnen sind (vgl. etwa BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 125). So sind gem. Art. 13 IV GG eine dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere eine gemeine Gefahr oder eine Lebensgefahr, sowie im Grundsatz eine vorherige richterliche Anordnung erforderlich. Weil die heimliche Wohnraumüberwachung besonders tief in die Privatsphäre hineinreicht, wird zudem der enge Bezug zur Menschenwürde deutlich (siehe grundlegend BVerfGE 109, 279 ff.; aktuell BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 125 m.w.N.). Das BVerfG fordert daher in mittlerweile ständiger Rechtsprechung, dass durch eine akustische Wohnraumüber­wachung nicht in den Kernbereich privater Lebensgestal­tung  ein­gegriffen werden dürfe. 


Eine dringende Gefahr (i.S.d. Art. 13 IV GG) liegt vor bei einer im Hinblick auf das Ausmaß des zu erwartenden Schadens und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erhöhten Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse liegt, wie das z.B. bei wesentlichen Infrastruktureinrichtungen oder sonstigen Anlagen mit unmittelbarer Bedeutung für das Gemeinwesen der Fall ist (vgl. BVerfGE 113, 348, 377 f.; 130, 1, 32; 141, 220, 271; aktuell BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 125). I.d.R. verlangen die Polizeigesetze in ihren Befugnisnormen auch eine dringende Gefahr. Soll die Maßnahme aber in Bezug auf die Wohnung einer anderen Person durchgeführt werden, lassen die Polizeigesetze durchweg Tatsachen genügen, die die Annahme recht­fertigen, dass sich die Person, der die Gefahr droht oder von der die Gefahr ausgeht, in der Wohnung aufhält und die Gefahr auf andere Weise nicht abgewehrt werden kann. Alternativ heißt es in einigen Polizeigesetzen, aufgrund bestimmter Tatsachen müsse anzunehmen sein, dass der in der Anordnung bezeichnete Adressat sich dort aufhält, die Maßnahme in Wohnungen des Adressaten allein zur Abwehr der Gefahr oder der Straftat nicht möglich oder nicht ausreichend sei und Informationen gewonnen werden könnten, die für die Abwehr der Gefahr von Bedeutung seien (siehe etwa Art. 41 III S. 2 BayPAG). Die Formulierungen: „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass...“ oder: „aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass...“ bedeuten, dass zwar keine konkrete Gefahr vorliegen muss, aber auch keine abstrakte Gefahr oder ein Gefahrenverdacht genügen können. Vielmehr ist eine „tatsachenbasierte Gefahr“ gemeint, die nach der Rechtsprechung des BVerfG jedoch nicht der dringenden Gefahr i.S.d. Art. 13 IV GG entspricht. Eine Norm, die eine präventivpolizeiliche akustische Wohnraumüberwachung zulässt, dabei jedoch eine niedrigschwelligere Gefahr (etwa eine konkretisierte oder gar tatsachenbasierte Gefahr) genügen lässt, ist nach Auffassung des BVerfG mit Art. 13 I, IV GG unvereinbar (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 126). Eine verfassungskonforme Auslegung dergestalt, eine in der Befugnisnorm formulierte konkretisierte bzw. tatsachenbasierte Gefahr in ihren Anforderungen an die dringende Gefahr anzugleichen, um die Verfassungskonformität zu wahren, zieht das BVerfG noch nicht einmal in Erwägung. Ganz offenbar möchte es den Gesetzgeber zwingen, normenklar und bestimmt die verfassungsrechtlichen Grundsätze einzuhalten und nicht auf eine „Rettung“ mittels verfassungskonformer Auslegung hoffen zu können.


Allein das Bestehen einer dringenden Gefahr genügt jedoch nicht. Auch der nach dem BVerfG absolut geschützte und damit unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung muss nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG gewahrt bleiben. Er betrifft nach der Rechtsprechung des BVerfG innere Vorgänge wie Empfindungen, Gefühle, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art (s.o.). Geschützt sei insbesondere die nichtöffentliche Kommunikation mit Personen des höchstpersönlichen Vertrauens, die in der berechtigten Annahme geführt wird, nicht überwacht zu werden, wie es insbesondere bei Gesprächen im Bereich der Wohnung der Fall sei. Zu den Personen des höchstpersönlichen Vertrauens gehörten insbesondere Ehe- oder Lebenspartner, Geschwister und Verwandte in gerader Linie, vor allem, wenn sie im selben Haushalt lebten; auch Strafverteidiger, Ärzte, Geistliche und enge persönliche Freunde könnten dazuzählen (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 102). Die Polizeigesetze müssen nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG bestimmen, dass der Kernbereich privater Lebensgestaltung  gewahrt bleibt, und verbieten, dass Maßnahmen erfolgen, die in den Kernbereich privater Lebensgestaltung zielgerichtet eindringen oder dies zumindest in Kauf nehmen. Soweit im Rahmen einer Wohnraumüberwachung dennoch unvorhersehbar der unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung betroffen wird, muss in Übereinstimmung mit der Rspr. des BVerfG zu Art. 13 III GG (BVerfGE 109, 279, 319 f.) die Überwachung sofort reduziert bzw. abgebrochen werden. Erfolgte Aufzeichnungen sind zu vernichten und unterliegen einem absoluten Ver­wertungsverbot; sie dürfen nicht einmal als Spurenansätze verwendet werden (Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 229).


Aufgrund der genannten Vorgaben des BVerfG zur Beachtung des Schutzes des abso­lut ge­schützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung haben die Polizeigesetze entsprechende Bestimmungen aufge­nommen (vgl. etwa Art. 49 III BayPAG; § 18 III, IV NRWPolG). Sie sehen zudem ausdrücklich vor, dass im Rahmen einer Wohnraumüberwachung (z.B. nach Art. 41 III BayPAG) nicht in Vertrauens­verhältnisse gem. §§ 53, 53a StPO eingegriffen werden darf.


Bewertung: Eine Norm, die zur akustischen Wohnraumüberwachung befugt, hat sich – wie die Maßnahme selbst – an den Anforderungen des Art. 13 I, IV GG messen zu lassen. Insbesondere das Genügenlassen einer konkretisierten Gefahr bzw. tatsachenbasierten Gefahr entspricht nicht den Anforderungen der von Art. 13 IV GG vorausgesetzten dringenden Gefahr. Nicht zwingend, aber gut vertretbar ist die Auffassung, das Genügenlassen niedrigschwelligerer Eingriffsvoraussetzungen (konkretisierte Gefahr bzw. tatsachenbasierte Gefahr statt dringender Gefahr) sei nicht mittels verfassungskonformer Auslegung zu „retten“. Damit wird der Gesetzgeber angehalten, die verfassungsrechtlichen Anforderungen bereits tatbestandlich klar zum Ausdruck zu bringen. Zur Kritik an der unmittelbaren Zuordnung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu Art. 1 I GG und zur damit verbundenen Unabwägbarkeit mit noch so gewichtigen Verfassungsgütern siehe bereits zu Punkt A.  



C. Online-Durchsuchung


Bei der „Online-Durchsuchung von Computern“ geht es nicht um die Durchsuchung einer Sache im „klassischen Sinne“, sondern um eine Maßnahme der Polizei (oder eines Nachrichtendienstes), mit der (stationär oder via Internet) bestimmte Programme („Trojaner“; Spyware) heimlich auf einem informationstechnischen System (d.h. auf einem Computer, auf einem Smartphone, einem Tablet etc.) installiert werden, um dort gespeicherte Daten auszuforschen und (via Internet) zu übermitteln. Die Online-Durchsuchung ist damit technisch sehr verwandt mit der Quellen-TKÜ, sie unterscheidet sich von dieser aber dadurch, dass gespeicherte Daten jeglicher Art ermittelt und übertragen werden (können), während durch die Quellen-TKÜ (lediglich) mittels heimlich installierten Spähprogramms die Telekommunikation in der Weise überwacht wird, dass Telekommunikationsdaten erfasst werden, bevor sie vom System des Betroffenen verschlüsselt und versendet werden. Das bedeutet: In beiden Fällen wird heimlich ein Spähprogramm auf dem informationstechnischen System der Zielperson installiert. Greift die Behörde mittels dieses Programms auf das gesamte System zu und durchsucht dieses nach Daten (beliebiger Art), spricht man von Online-Durchsuchung. Greift sie dagegen nur auf Telekommunikationsdaten zu, bevor diese vom System des Betroffenen verschlüsselt und versendet werden, liegt eine Quellen-TKÜ vor (die Telekommunikation wird sozusagen an der Quelle überwacht). Die Online-Durchsuchung soll Schwierigkeiten überwinden für den Fall, dass Straftäter (besonders extremistische und terroristische, aber auch im Bereich der Kinderpornografie etc.) ihre Kommunikation für die Planung und Durchführung einer nächsten Straftat verstärkt über das Internet führen (BVerfGE 120, 274, 278). Mit der Online-Durchsuchung können derartige Aktivitäten aufgespürt und weitere verhindert werden.


Da die Maßnahme ohne Wissen des Betroffenen erfolgt und umfassend Rückschlüsse auf dessen Persönlichkeit zulässt, stellt sie einen schwerwiegenden Eingriff dar in das in Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG verankerte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in seiner Ausprägung als Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (siehe dazu BVerfGE 120, 274, 302 ff.). Der nach dem BVerfG absolut geschützte und damit unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung muss nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG auch hier gewahrt bleiben. Art. 13 I GG ist indes insoweit nicht betroffen, da sich der Zugriff auf Daten aus dem informationstechnischen System bezieht, nicht auf die durch Art. 13 I GG geschützte Räumlichkeit. Sehr wohl aber stellt die vorangehende heimliche Betretung der Wohnung, um dort die Software auf dem in der Wohnung befind­lichen Computer zu installieren, einen Eingriff in Art. 13 I GG dar. Eine diesbezügliche Recht­fertigung stellt sich dann jedoch als pro­blematisch dar. Art. 13 II GG greift nach Auffassung des BVerfG nicht, da der Begriff der Durchsuchung i.S.d. Art. 13 II GG nur offene Maß­nahmen ab­decke (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 136 ff.). Art. 13 III-V GG seien von vornherein nicht einschlägig, womit allein Art. 13 VII GG als Recht­fertigungsgrundlage in Betracht komme. Das BVerfG führt explizit aus, dass die Erlaubnis heimlicher Wohnungsbetre­tung zur Vorbereitung einer Online-Durchsuchung zu Zwecken der Gefahrenabwehr grundsätzlich auf Art. 13 VII GG gestützt werden könne. Zu prüfen ist, ob dieser Auffassung gefolgt werden kann. Zunächst einmal ist klarzustellen, dass Art. 13 VII GG strikt unterscheidet zwischen

 

  • Eingriffen und Beschränkungen zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für eine einzelne Person (wofür eine spezielle gesetzliche Ermächtigung nicht erforderlich ist; die Befugnis zu Eingriffen und Beschränkungen ergibt sich hier unmittelbar aus Art. 13 VII Halbs. 1 GG),


  • und dem Einschreiten zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung (Art. 13 VII Halbs. 2 GG)


Gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen i.S.d. Art. 13 VII Halbs. 2 GG stellen etwa die Befugnisnormen der Polizeigesetze dar, sofern sie verfassungskonform ausgelegt werden, d.h. wenn trotz der tatbestandlichen Weite der polizeigesetzlichen Eingriffsnormen nur solche Gefahrenabwehrmaßnahmen zugelassen werden, die der Abwehr einer dringenden Gefahr dienen. Der Begriff der „dringenden“ Gefahr entspricht dem des Art. 13 IV GG (s.o.). Es muss also eine hohe Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung des Bestands oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder des Lebens, des Körpers oder der Freiheit einer Person oder von Sachen von bedeutendem Wert bestehen. Auch das BVerfG ist geneigt, bzgl. Art. 13 VII GG eine verfassungskonforme Auslegung vorzunehmen, wobei es im Ergebnis aber dann doch eine konkretisierte Gefahr genügen lässt, was jedoch weder mit dem Wortlaut des Art. 13 VII GG noch mit seinen Ausführungen zu Art. 13 IV GG (s.o.) in Einklang zu bringen ist.


Bemerkenswert ist zudem, dass das BVerfG hinsichtlich eines heimlichen Betretens eine richterliche Anordnung verlangt. Es führt aus, dass eine heimliche Wohnungsbetretung (etwa zur Vorbereitung einer Online-Durchsuchung oder einer Quellen-TKÜ) jedenfalls nicht weniger schwer wiege als offene Durchsuchungen nach Art. 13 II GG, weshalb die Anforderungen an eine offene Durchsuchung nicht unterlaufen werden dürften. Der Richtervorbehalt müsse daher erst recht gelten (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 148). Aus allgemeinen Gründen der Verhältnismäßigkeit dürfe ein schwerwiegender heimlicher Grundrechtseingriff grundsätzlich nicht ohne richterliche Anordnung erfolgen, weil die Betroffenen sonst ungeschützt blieben (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn.149 mit Verweis u.a. auf BVerfGE 120, 274, 331; 141, 220, 275, 294; 155, 119, 229). Darin liege auch kein systematischer Widerspruch zu Art. 13 II GG, der den Richtervorbehalt ausdrücklich normiere. Der Sinn von Art. 13 II GG bestehe darin, für die aus dem überkommenen Recht bekannten Durchsuchungen mit den dort niedergelegten materiellen Anforderungen eine verfahrensrechtliche Sicherung von Verfassungs wegen einzufügen. Hingegen sei es nicht Sinn von Art. 13 II GG, Eingriffe auf der Basis des Art. 13 VII GG von Verfassungs wegen von dem Erfordernis eines Richtervorbehalts freizustellen. Die Notwendigkeit eines Richtervorbehalts im Rahmen des Art. 13 VII GG richte sich vielmehr nach den Vorgaben des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit unter Heranziehung der Wertungen des Art. 13 II-V GG (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 151). Eine Ausnahme vom Richtervorbehalt gelte (lediglich) für Eilfälle, etwa bei Gefahr im Verzug, wenn für eine anschließende Überprüfung durch die neutrale Stelle gesorgt sei (BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 149 mit Verweis auf BVerfGE 120, 274, 332 f.).


Bewertung: Damit statuiert das BVerfG also einen Richtervorbehalt, der von Art. 13 VII GG nicht vorgesehen ist. Maßgeblich begründet das BVerfG seine Auffassung mit dem Erst-recht-Schluss zu Art. 13 II GG („wenn schon offene Durchsuchungen nach Art. 13 II GG unter Richtervorbehalt stehen, dann erst recht heimliche nach Art. 13 VII GG“) und einer verfassungsrechtlichen Notwendigkeit. Zwingend ist diese Sichtweise nicht. Denn man könnte zunächst auch den Umkehrschluss aus Art. 13 II GG ziehen und vertreten, dass der Verfassungsgeber, wenn er wie bei der Durchsuchung nach Art. 13 II GG auch bei Maßnahmen nach Art. 13 VII GG einen Richtervorbehalt für erforderlich gehalten hätte, diesen auch dort verankert hätte. Und die angebliche verfassungsrechtliche Notwendigkeit besteht in Wahrheit nicht, sondern ist „hausgemacht“ und allein dem Umstand geschuldet, dass das BVerfG heimliche Betretungen (und Durchsuchungen) aus Art. 13 II GG herausdefiniert hat. Dass dies nicht zwingend war, zeigt schon allein der erhebliche Argumentationsaufwand, den das BVerfG betrieb, um die Gegenargumente auszuräumen (so setzt sich das BVerfG mit dieser Frage in drei Randnummern mit insgesamt 916 Wörtern auseinander, BVerfG 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 Rn. 136-138). Zudem setzt sich das BVerfG über den Wortlaut und die Systematik der Schrankenvorbehalte des Art. 13 II und VII GG hinweg, indem es überhaupt heimliche Durchsuchungen unter Art. 13 VII GG fasst. Spricht Art. 13 VII GG von „Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen ...“ statt von „Durchsuchungen“, wird überaus deutlich, dass der Verfassungsgeber Durchsuchungen gerade nicht als von Art. 13 VII GG umfasst angesehen hat. Die „Bemühungen“ des BVerfG, Art. 13 VII GG unterfallende heimliche Eingriffe in das Wohnungsgrundrecht einem Richtervorbehalt zu unterstellen, waren also vermeidbar. Es hätte schlicht auch heimliche Durchsuchungen unter Art. 13 II GG fassen können. Davon unbeschadet gelten freilich die hohen materiell-recht­lichen Vorgaben für Maßnahmen nach Art. 13 VII GG. Zur Kritik an der unmittelbaren Zuordnung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu Art. 1 I GG und zur damit verbundenen Unabwägbarkeit mit noch so gewichtigen Verfassungsgütern siehe bereits zu Punkt A.

 


Rolf Schmidt (15.3.2023)




 



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